Wäre ich nicht vier Wochen älter als Angela Merkel, sondern noch frisch und mobil, säße ich in diesen Tagen vermutlich am Ohio River in Louisville, Kentucky. Und nicht an der Havel in Werder, Brandenburg, wenige Kilometer vor Potsdam. Aber vieles läuft nicht mehr, wie es laufen sollte. Als ich in Werder ankam, war die Brandenburger Landtagswahl gerade gelaufen. Zuvor hatte ich in Kreuzberg zu tun gehabt. Es tröstete mich etwas, dass dort in Berlin inzwischen so viel Englisch gesprochen wird wie in Louisville, Kentucky. Doch trotz aller Globalisierung gibt es noch gewaltige Unterschiede auf dieser Welt. In Kreuzberg bezahlst du bei einem guten Bäcker fünf Euro für ein nacktes Croissant. In Werder bekommst du für dasselbe Geld ein Backfischbrötchen mit allem.
Das Nest, in dem ich Quartier bezogen habe, hängt noch voller Wahlwerbung. Sehr gut gefallen mir die Poster der Tierschutzpartei. Auf einem ist ein Fuchs abgebildet, auf einem anderen ein Ferkel. Fabelhaft: Mit ihrem kleinen Schwein als Zugpferd haben die armen Tierschützer doppelt so viele Stimmen geholt wie der Verein, dessen oberster Schuldenbremser fortwährend die populärsten Talkshows versaut.
In Werder wohne ich in der Eisenbahnstraße, deren Namen damit zu tun haben könnte, dass sie zum Bahnhof führt. Beim komplexen Thema Verkehr war der Einfallsreichtum der Brandenburger FDP nicht zu bremsen. "Wir lieben Bahn. Autobahn inklusive", heißt es auf einem Plakat. Diese selten doofe Propaganda signalisiert uns, dass auch in Zukunft jeder dahergelaufene Benzinstinker mit dem Tempo eines ICE über die Straßen brettern kann, als säße er in Lindners Porsche.
Wenn es für die FDP zurzeit nicht rundläuft, kann das nur an den Asylant:innen liegen. Wenn wir alle Eindringlinge abgeschoben haben, wird auch die deutsche Eisenbahn wieder pünktlich fahren – und das Autobahnnetz entlasten. Die endgültige Rettung der Nation wird die Splitterpartei dann auf ihre Fahnen schreiben, wenn sie demnächst die Ampel sprengt.
Die Spuren eines Wahlkampfs können einen etwas runterziehen, auch wenn ich mit Brandenburg völlig fein bin, wie der depperte bayerische Ministerpräsident sagt. Vermutlich haben nur so viele die Rechtsextremen gewählt, weil man dem Firmennamen "Freie Demokratische Partei" nicht mehr traut. "Es ist Zeit für die Freiheit zu kämpfen", fordert kommafrei die AfD. Damit meint sie womöglich mehr als das Leben auf der rechten Überholspur der deutschen Autobahn, auch wenn deren berühmtester Fan ihr bis heute die Richtung weist.
Brandenburg ist Wohlfühlland. Obstweinanbau und Sozenbestand. Ich gehe herum, setze mich auf eine Bank am Fluss und schaue in die Verlorenheit. Am Templiner See, ein paar Kilometer weiter, sehe ich einen schönen Holzsteg, der aufs Wasser hinausführt. An seinem Ende wurde eine Sitzbank hingestellt. Freier Blick auf den See. Kaum erwähnenswert, dass sich der Zugang zum See auf Privatbesitz befindet: Betreten verboten. Es ist Zeit, für die Freiheit zu kämpfen, jetzt da "500 Jahre Bauernkrieg" gefeiert werden.
Mail aus Kentucky
Am Templiner See war ich, um einen Blick auf Albert Einsteins Sommerhaus am Rande der Gemeinde Caputh zu werfen. Der Architekt Konrad Wachsmann hat dafür einst die "ortsfeste Fachwerkbauweise" entwickelt. Einstein und seine Frau konnten sich hier nur zwischen 1930 und 1932 erholen. 1933 verließen sie Nazi-Deutschland und gingen in die USA. Mit der Hilfe Einsteins gelang es 1941 auch Wachsmann, in die USA zu emigrieren.
An dieser Stelle bin ich schon wieder in Amerika. Und sollte so langsam mal erzählen, warum ich lieber nach Louisville, Kentucky, gefahren wäre. Wenige Tage vor meinem Brandenburg-Trip erhielt ich eine Mail von einer Frau aus Übersee: Sie habe meinen Artikel über die "Bronner-Seife" gelesen und würde gern mit mir darüber sprechen. "Ich würde mich freuen, wenn Sie sich in angemessener Zeit mit mir in Verbindung setzen könnten, da ich jetzt 103 Jahre alt bin." Das saß.
Die Frau heißt Ann Dorzback, 1921 wurde sie als Anneliese Wallersteiner in Ulm geboren, wo auch Einstein zur Welt kam. Meinen Artikel, den sie von einem deutschen Bekannten aus Washington erhielt, war im Januar 2021 unter dem Titel "Amerika in einer Flasche" als Kontext-Kolumne erschienen. Damals berichtete ich von einem Ausflug nach Laupheim bei Ulm, einst Württembergs größte jüdische Gemeinde. Der Seifensieder Emil Heilbronner hat dort 1858 eine Manufaktur gegründet. Sein Nachfahre Emanuel Heilbronner floh 1929 vor den Nazis in die USA und tilgte für immer das "Heil" aus seinem Namen. Er gründete das Unternehmen Dr. Bronner's Magic Soaps, war ein Pionier von Bio- und Fairtrade-Produkten. Die Firma gilt heute als größte Naturseifen-Herstellerin in den USA. Ihre Flüssigseife mit Pfefferminz, einst für Hippies das Salz der Erde, ist eine amerikanische Legende.
1 Kommentar verfügbar
Rebstock
vor 2 Tagen