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Auf der Straße

22 Wunder

Auf der Straße: 22 Wunder
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Wäre ich nicht vier Wochen älter als Angela Merkel, sondern noch frisch und mobil, säße ich in diesen Tagen vermutlich am Ohio River in Louisville, Kentucky. Und nicht an der Havel in Werder, Brandenburg, wenige Kilometer vor Potsdam. Aber vieles läuft nicht mehr, wie es laufen sollte. Als ich in Werder ankam, war die Brandenburger Landtagswahl gerade gelaufen. Zuvor hatte ich in Kreuzberg zu tun gehabt. Es tröstete mich etwas, dass dort in Berlin inzwischen so viel Englisch gesprochen wird wie in Louisville, Kentucky. Doch trotz aller Globalisierung gibt es noch gewaltige Unterschiede auf dieser Welt. In Kreuzberg bezahlst du bei einem guten Bäcker fünf Euro für ein nacktes Croissant. In Werder bekommst du für dasselbe Geld ein Backfischbrötchen mit allem.

Das Nest, in dem ich Quartier bezogen habe, hängt noch voller Wahlwerbung. Sehr gut gefallen mir die Poster der Tierschutzpartei. Auf einem ist ein Fuchs abgebildet, auf einem anderen ein Ferkel. Fabelhaft: Mit ihrem kleinen Schwein als Zugpferd haben die armen Tierschützer doppelt so viele Stimmen geholt wie der Verein, dessen oberster Schuldenbremser fortwährend die populärsten Talkshows versaut.

In Werder wohne ich in der Eisenbahnstraße, deren Namen damit zu tun haben könnte, dass sie zum Bahnhof führt. Beim komplexen Thema Verkehr war der Einfallsreichtum der Brandenburger FDP nicht zu bremsen. "Wir lieben Bahn. Autobahn inklusive", heißt es auf einem Plakat. Diese selten doofe Propaganda signalisiert uns, dass auch in Zukunft jeder dahergelaufene Benzinstinker mit dem Tempo eines ICE über die Straßen brettern kann, als säße er in Lindners Porsche.

Wenn es für die FDP zurzeit nicht rundläuft, kann das nur an den Asylant:innen liegen. Wenn wir alle Eindringlinge abgeschoben haben, wird auch die deutsche Eisenbahn wieder pünktlich fahren – und das Autobahnnetz entlasten. Die endgültige Rettung der Nation wird die Splitterpartei dann auf ihre Fahnen schreiben, wenn sie demnächst die Ampel sprengt.

Die Spuren eines Wahlkampfs können einen etwas runterziehen, auch wenn ich mit Brandenburg völlig fein bin, wie der depperte bayerische Ministerpräsident sagt. Vermutlich haben nur so viele die Rechtsextremen gewählt, weil man dem Firmennamen "Freie Demokratische Partei" nicht mehr traut. "Es ist Zeit für die Freiheit zu kämpfen", fordert kommafrei die AfD. Damit meint sie womöglich mehr als das Leben auf der rechten Überholspur der deutschen Autobahn, auch wenn deren berühmtester Fan ihr bis heute die Richtung weist.

Brandenburg ist Wohlfühlland. Obstweinanbau und Sozenbestand. Ich gehe herum, setze mich auf eine Bank am Fluss und schaue in die Verlorenheit. Am Templiner See, ein paar Kilometer weiter, sehe ich einen schönen Holzsteg, der aufs Wasser hinausführt. An seinem Ende wurde eine Sitzbank hingestellt. Freier Blick auf den See. Kaum erwähnenswert, dass sich der Zugang zum See auf Privatbesitz befindet: Betreten verboten. Es ist Zeit, für die Freiheit zu kämpfen, jetzt da "500 Jahre Bauernkrieg" gefeiert werden.

Mail aus Kentucky

Am Templiner See war ich, um einen Blick auf Albert Einsteins Sommerhaus am Rande der Gemeinde Caputh zu werfen. Der Architekt Konrad Wachsmann hat dafür einst die "ortsfeste Fachwerkbauweise" entwickelt. Einstein und seine Frau konnten sich hier nur zwischen 1930 und 1932 erholen. 1933 verließen sie Nazi-Deutschland und gingen in die USA. Mit der Hilfe Einsteins gelang es 1941 auch Wachsmann, in die USA zu emigrieren.

An dieser Stelle bin ich schon wieder in Amerika. Und sollte so langsam mal erzählen, warum ich lieber nach Louisville, Kentucky, gefahren wäre. Wenige Tage vor meinem Brandenburg-Trip erhielt ich eine Mail von einer Frau aus Übersee: Sie habe meinen Artikel über die "Bronner-Seife" gelesen und würde gern mit mir darüber sprechen. "Ich würde mich freuen, wenn Sie sich in angemessener Zeit mit mir in Verbindung setzen könnten, da ich jetzt 103 Jahre alt bin." Das saß.

Die Frau heißt Ann Dorzback, 1921 wurde sie als Anneliese Wallersteiner in Ulm geboren, wo auch Einstein zur Welt kam. Meinen Artikel, den sie von einem deutschen Bekannten aus Washington erhielt, war im Januar 2021 unter dem Titel "Amerika in einer Flasche" als Kontext-Kolumne erschienen. Damals berichtete ich von einem Ausflug nach Laupheim bei Ulm, einst Württembergs größte jüdische Gemeinde. Der Seifensieder Emil Heilbronner hat dort 1858 eine Manufaktur gegründet. Sein Nachfahre Emanuel Heilbronner floh 1929 vor den Nazis in die USA und tilgte für immer das "Heil" aus seinem Namen. Er gründete das Unternehmen Dr. Bronner's Magic Soaps, war ein Pionier von Bio- und Fairtrade-Produkten. Die Firma gilt heute als größte Naturseifen-Herstellerin in den USA. Ihre Flüssigseife mit Pfefferminz, einst für Hippies das Salz der Erde, ist eine amerikanische Legende.

Anruf nach Übersee

Ich rufe Ann Dorzback an, in Louisville, Kentucky. Sie spricht klar und deutlich mit Ulmer Dialekt; wenn sie ein paar englische Worte fallenlässt, klingt sie wie eine waschechte Amerikanerin. Ihr Sohn Robert, 70, genannt Bob, ist bei ihr.

1939 gelingt Anneliese mit ihrer Familie die Flucht aus Deutschland. Nach langem Warten voller Ungewissheiten können sie mit einem US-Visum nach England ausreisen. Doch erst sieben Monaten später dürfen sie weiter in die USA. Hitlers Wehrmacht hat inzwischen Polen überfallen. In New York lernt Ann, wie sie sich nun nennt, ihren Mann Richard Dorzback kennen. Er stammt aus Göppingen. Sie ziehen nach Louisville.

Aufmerksam auf meinen Laupheim-Ausflug wurde sie, weil ich vom Haus Judenberg 2 berichtete, wo die Seifenmanufaktur aufgebaut wurde. Ihre Mutter Elsa Bergmann sei am Judenberg geboren, sagt sie. Aus Laupheim stammen bekannte jüdische Persönlichkeiten, darunter der Hollywood-Pionier Carl Laemmle – und die legendäre Hochspringerin Gretel Bergmann. Die erfolgreiche Sportlerin wurde von den Nazis übelst schikaniert. Nach vielen Demütigungen durfte sie bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin nicht starten – und emigrierte in die USA. Die Leichtathletin war Anns Cousine, Tochter der Schwester von Anns Mutter. In den USA besuchten sich Gretel und Ann regelmäßig. 2017 starb Gretel mit 103 Jahren in New York.

Fast eine Stunde lang plaudern wir am Telefon. Ann erzählt mir, wie sie sich in Louisville mit ihrer Schwester Lotte schon früh selbstständig machte. Für die zwei Frauen ein Abenteuer. In Ulm hatte die Familie Wallersteiner ein erfolgreiches Textilunternehmen geführt, und schon bald hängten die beiden Töchter in den USA ein eigenes Firmenschild an die Tür: "Dressmaking & Alteration". Sie schneiderten und änderten Kleider.

"Wissen Sie, was bei uns in Amerika gerade los ist?", fragt sie mich. Ja, sage ich, was halten Sie denn von Donald Trump? "O weh", sagt sie, "darüber will i lieber net schwätza."

Wunder der Emigration

Ann Dorzback wurde in ihrer Heimatstadt Ulm in den vergangenen Jahren gewürdigt: eine überaus wache Person der Zeitgeschichte, eine der letzten Zeitzeuginnen des Nazi-Terrors. Die Ulmer Filmemacherin Sibylle Tiedemann hat 2022 eine Dokumentation gedreht: "Man kann immer an einem Fluss sitzen – Ann Dorzback: Ein jüdisches Leben".

Dokumentarfilm "Man kann immer an einem Fluss sitzen ... – Ann Dorzback: Ein jüdisches Leben" von Sibylle Tiedemann.

In Ulm und Umgebung erfährt man heute, wie überall viel zu spät, vergleichsweise viel über jüdisches Leben und Sterben in Deutschland. Nahe der 2012 fertiggestellten Synagoge wurde erst im vergangenen Juli der Erinnerungsort "Die Einsteins. Museum einer Ulmer Familie" eröffnet. Diese Aufarbeitung unglaublicher Fluchtgeschichten kann ich nur empfehlen.

Ann Dorzback arbeitet zurzeit mit Sohn Bob an einem Buch unter dem Titel "Die 22 Wunder der Emigration". So viele "Miracles", sagt sie, seien nötig gewesen, um Deutschland zu verlassen und in die USA zu gelangen. Am Ende unseres Gesprächs bekomme ich den Auftrag, ihr Fotos vom heutigen Haus auf dem Grundstück der einstigen Seifenfabrik zu schicken. Das Unternehmen Dr. Bronner's hat dort inzwischen ein kleines Museum eingerichtet. Ich werde noch einmal nach Laupheim fahren, wenn ich Brandenburg hinter mir habe. Man kann nicht immer am selben Fluss sitzen.

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1 Kommentar verfügbar

  • Rebstock
    vor 2 Tagen
    Antworten
    Ein Sonnenstrahl in trüben Zeiten.
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