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Volksfest auf dem Cannstatter Wasen

(K)ein Traditionsfest

Volksfest auf dem Cannstatter Wasen: (K)ein Traditionsfest
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Nennt sich der Wasen hier Kirmes oder Rummel, Dult oder einfach Volksfest? Es sind lebenswichtige Fragen wie diese, die den nicht-schwäbischen Autor beschäftigen, als er sich zur Eröffnung aufmacht. Dort wird Profi-Fassanstecher und CDU-Oberbürgermeister Frank Nopper gleich das erste Bier zapfen.

Die Redaktion schickt den Neuen zur Waseneröffnung. Der wird schon was Lustig-Kritisches über die Chose schreiben, der kommt ja aus Bayern, dort wo die große Schwester des Wasens, die Wiesn, ihre Heimat hat – ist also prädestiniert für den Wiesn… nein, Wasenbericht.

Eine Stunde vor der offiziellen Eröffnung wirkt der Wilhelmsplatz in Bad Cannstatt unauffällig. Etwa 150 Meter weiter, am Bahnhof, gibt sich die Wasenzeit zu erkennen. Der Bass wummert dumpf vom Festgelände rüber, Gruppen von Lederhosen- und Dirndlträger:innen steigen aus den Bahnen. Ein paar Bierchen werden gekippt, ein Trachtenmann pinkelt an die rote Backsteinmauer des Straßenbahnmuseums, bevor er Arm in Arm mit seinem Kumpel torkelnd wieder zur Freundesgruppe aufschließt. Was die offenbar tiefschwäbische Gruppe lautstark von sich gibt, ist für den Autor kaum verständlich.

Zur professionellen journalistischen Vorbereitung zählt, sich die wichtigen Fragen vorab zu überlegen, wie jene eingangs formulierte. Die Frage nach der richtigen Benennung des Wasens lässt sich nach einem ersten Rundgang leicht beantworten. Der Wasen ist weder Kirmes noch Rummel, Dult nennt sich der Spaß eh nur in Bayern (wie der Autor feststellen musste), und ob er tatsächlich ein Volksfest ist, darüber darf gestritten werden. Auch, weil viele Stuttgarter:innen keinen Bock auf die Bierzeltstadt und seine Klientel haben, und so manche graut es vor nächtlichen S-Bahn- und Zugfahrten in diesen Wochen. Vor allem aber ist der Wasen eins: ein Wiesn-Abklatsch. Nicht nur gibt es die Wiesn schon acht Jahre länger als den Wasen, nämlich seit 1810 (ha, nimm das, Cannstatt!). Auch sonst überragt die bayerische Wiesn den Stuttgarter Wasen in nahezu allen Aspekten.

Der Wasen ist keine Wiesn

Bevor Sie, liebe Leser:innen, sich empören, lassen Sie mich kurz ausführen. Der Wasen ebenso wie die Wiesn bringt eine vielfältige Geruchskulisse mit sich: Es vermengen sich die Düfte von Erbrochenem, Schweiß und Exkrementen mit dem Gestank toter Tiere am Grill und süßer Zuckerwaren. Lederhosen und Dirndl sind hier wie dort meist billige Kopien, hier allerdings scheinen die Stuttgarter:innen zu versuchen, das bayerische Lebensgefühl zu imitieren. So weit, so ähnlich sind die beiden Drogenfeste.

Nun zu den wesentlichen Unterschieden: Das Bier ist im Schnitt billiger als in München und das zu Recht. Der bayerische Gaumen muss durchaus Abstriche machen beim Vergleich mit Bieren aus der Heimat – und das ist natürlich ein objektiver Fakt. Ein Liter der Hopfen-Malz-Brause kostet am Neckar dieses Jahr zwischen 14,10 und 14,70 Euro, an der Isar teilweise über 15 Euro. Auf der Wiesn gibt es aber auch einen Ort, an dem die Mass nur 13,60 Euro teuer ist: das "Familienplatzl", ein eigener Bereich für Menschen mit Kindern. Klar, wer mit seinen quengelnden Bälgern aufs sogenannte Volksfest geht, soll sich wenigstens günstiger einen reinlöten können. Nach zehn Maß hat man, verglichen mit Preisen anderer Schenken, fast schon eine reingespart, also mit Kind ein 9+1-Saufangebot. Noch ein Punkt für München.

Hinzu kommt der eher deprimierende Ursprung des schwäbischen Festes verglichen mit dem der Wiesn. Das Wort "Wasen" bedeutet in etwa feuchtes Ödland oder Rasenstück. In Cannstatt veranlasste König Wilhelm I. 1818 nach einer Hungersnot, ein Erntedankfest zu feiern. "Kopfhänger kann ich in meinem Land nicht brauchen", verkündete der Monarch, nachdem schon mehr als 17.000 davon sein Reich verlassen hatten. In München dagegen ließ der Kronprinz und spätere König Ludwig von Bayern die Untertanen seine Hochzeit mit Prinzessin Therese feiern.

Tradition ist tot

Zurück nach Stuttgart: 40 Minuten vor dem Anstich ist die 35 Hektar, also 350.000 Quadratmeter oder 50 Fußballfelder große Asphaltfläche noch überwiegend leer. Viele Verkäufer:innen warten gelangweilt auf Kundschaft, manche stehen vor ihrer eigenen Bude. Die Ticketverkäuferin eines Fahrgeschäfts verkündet vergebens den wenigen Herumspazierenden die letzte Chance, für die nächste Fahrt noch ein Ticket zu kaufen. Ein junges Mädchen rollt gemächlich mit ihren Rollerblades über den Platz und beäugt die Attraktionen. Ruhe vor dem Sturm? Dunkle Wolken hängen über Cannstatt, eine steife Brise weht Trachtenhüte von Köpfen. Kurz vor Anstich fallen die ersten Tropfen vom Himmel, immer mehr Menschen drängen in die Schlange vor dem Hofbräu-Zelt, in dem Oberbürgermeister Nopper das offiziell erste Bier des Festes zapfen wird.

Wohl kaum hätten die Festzeltbesucher:innen an die Historie des Wasens gedacht, wenn nicht der Oberbürgermeister selbst ein paar Worte dazu verloren hätte. Zumal die Resttradition, die es bisher noch auf dem Wasen gab, gestrichen wird. Der sogenannte Traditionsmorgen. Der Volksfestverein hat keine Knete und der Wasenveranstalter, die städtische Marketingfirma "in.Stuttgart", will dafür keine mehr abdrücken. Damit ist die letzte Chance, an der Fruchtsäule von der Historie des Volksfestes zu hören und dabei schwäbische Originaltrachten zu bestaunen, dahin. Die "Stuttgarter Zeitung" fragte angesichts dieser Hiobsbotschaft: "Ist es nur noch ein Sauffest?" Gewiss, mit Traditionsmorgen wäre der Wasen ein Festakt der Hochkultur geblieben.

Auch schlimm: die Nachricht, dass die sechs Brauereipferde nicht mehr auf den Wasen sollten. Die "Bild" hatte schnell die Übeltäter ausgemacht: Flüchtlinge, die in Containern im Reitstadion untergebracht sind. Genau dort, wo sonst die Zugtiere der Brauereikutsche in einem provisorischen Stall rasten. Frechheit. Doch schon am gleichen Tag, als dieser Traditionsverlust verkündet wurde, kam die Rettung von ganz oben. Dem Oberbürgermeister war es ein besonderes Anliegen, diese Tradition zu wahren. Die Tiere werden nun morgens mit einem Transporter von Alfdorf nach Cannstatt gefahren, eine Strecke von gut 35 Kilometern Luftlinie. Auf einem Parkplatz nebem dem Festgelände warten Ledergeschirr und Kutsche. Abends geht's wieder zurück.

Der Sexismus bleibt

Die größte Tradition auf dem Volksfest bleibt ohnehin: Sexismus. Bilder von tiefen Ausschnitten und viel nackte Haut prangen auf den Buden. Auch hier gebärdet sich Nopper als Wahrer der Tradition. Unter seinem grünen Vorgänger Fritz Kuhn wurden die anzüglichen Bilder zum Problem erklärt. Nopper erklärte zum Problem, dass es zum Problem erklärt wurde. "Der Gemeinderat sollte keine Zensurbehörde, kein hoher Rat der Tugend- und Sittenwächter, der Inquisition und Diskriminierungsfahnder werden", verkündete er vorletztes Jahr in sozialen Netzwerken (Kontext berichtete).

Und so bleiben die Abbildungen von lüstern gaffenden Männern und halbnackten Frauen Teil der Wasenkultur. Der OB erhielt für sein Engagement vergangenes Jahr den "Goldenen Gaul", die Auszeichnung als Stuttgarts größter Sexist.

Der Preisträger erzählt auf dem Podium im Bierzelt, sein kühnster Traum sei es, wenn der Wasen ganzjährig wäre, und die Volksfesttage seien ihm "die bedeutendsten nach Weihnachten". Nach dem offiziellen Teil – mit zwei Hieben war das Fass angezapft – ist Zeit für Musik. Der sogenannte Hofnarr Luigi stimmt "Sweet Caroline" an, danach sucht er sich eine Gesprächspartnerin im Publikum und findet eine Blondine im Dirndl direkt unter ihm. "Du hast einen Mann und zwei Kinder? Dann brauch' ich dir ja keine mehr machen", spricht er ins Mikro an sie gewandt. Später steigt er, "Ein Stern" von DJ Ötzi singend, auf ihren Biertisch, greift nach ihrem Arm und die zwei tanzen eine kurze Weile.

Die Angebaggerte wird sich wohl nicht an die Mitarbeiterinnen der Wasenboje wenden, dem "Safer Space für Mädchen* und Frauen*" auf dem Wasen, wie es auf der Webseite der Stadt Stuttgart heißt. Frauen, die sich unter vielen betrunkenen Männern unsicher fühlen und auch oft nicht sicher sind, werden froh sein, diesen Rückzugsort zu haben.

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1 Kommentar verfügbar

  • Kurt Mailänder
    vor 2 Tagen
    Antworten
    Die Wasengeschichte ist soweit treffend geschildert. Es wurde aber vergessen, dass es eine Menge älterer Leute gibt, die seit Jahren gezielt dem abendlichen Bierzeltgetöse aus dem Wege gehen. Sie treffen sich zur Wasenzeit als ehemalige Kollegen oder Sportkameraden zur Mittagszeit bei sehr günstigen…
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