Es war so ein Gefühl. Ich musste wieder hin. Unterwegs war ich mir nicht mehr sicher, ob mich Fanny Ardant dazu gebracht hatte, nach Stammheim zu fahren. Irgendwo hatte ich dieses Zitat der französischen Schauspielerin aufgeschnappt: "Ja, wir sind zum Tod verurteilt. Aber wir wollen uns doch nicht zur Guillotine schleppen lassen. Sondern stolz und aufrecht hingehen." Eines Tages bist du fällig.
Stammheim mit Hinrichtung zu verbinden, ich gebe es zu, ist trotz meines Alters etwas vermessen. Aber es war ein heißer Augusttag, an den Bäumen hingen schon Kastanien, es roch wieder nach deutschem Herbst. Da blüht die schwarze Fantasie.
Das wahre Motiv für meinen Ausflug war eher Thomas Meyer-Falks Buch "Briefe aus dem Knast". Der Autor ist 53, im August wurde er nach siebenundzwanzig Jahren Gefängnis entlassen. Zwischen 2013 und 2023 schrieb er für das Berliner Heft "Drecksack – Lesbare Zeitschrift für Literatur" Kolumnen, die jetzt als Sammelband erschienen sind (Moloko Print). Im Januar 2020 notiert er nach einer "Ausführung": "Seit ein paar Minuten stehen wir am Freiburger Busbahnhof. Zwei uniformierte Gefängnisbeamte und ich. Es ist ein bewölkter Herbsttag. Ich warte auf Petra, eine Freundin aus Stuttgart. Wir kennen uns an die 20 Jahre. Früher besuchte sie mich im Gefängnis Stuttgart-Stammheim ..."
Briefe aus dem Knast
Als 25-Jähriger überfiel er eine Sparkasse in Neuenstein bei Heilbronn. 14 Stunden bedrohte er seine sechs Geiseln mit Waffen und forderte mehrere Millionen Mark Lösegeld, womit er "linke Projekte unterstützen" wollte. Weil er mit 18 Jahren schon mal eine Tankstelle überfallen hatte und später ein Unternehmen erpresste, wurde er als Wiederholungstäter zu 16 Jahren und neun Monaten Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Er galt als "uneinsichtig", als "Gefahr für die Allgemeinheit".
Mit dem Buch im Rucksack ging ich zur Straßenbahn. Linie 15, Endstation Stammheim. Stuttgarts nördlichster Stadtteil, 13.000 Einwohner. Wenn dich einer fragt, wo du wohnst, und du sagst "Stammheim", musst du mit der Antwort rechnen: "Wie lange noch?"
Thomas Meyer-Falks Briefe aus dem Knast sind sehr gut geschrieben. Literatur, präzise Sätze ohne Selbstmitleid. Kolumne vom April 2018: "Es ist noch früh am Morgen, Vogelgezwitscher ist zu hören, der Mond steht in einer schmalen Sichel über dem Dach der Strafanstalt. Ich kann von meinem eigenen Zellenfenster aus lediglich dieses Dach sehen, ansonsten schaue ich auf eine graue Mauer, hier in der Sicherungsverwahrung, der Endstation für Inhaftierte."
Seinen Blick richtet er nicht nur auf sich selbst. Einfühlsam erzählt er auch von Mitgefangenen, von "Jonathan", der im Gefängnis verhungerte. Und trotz allem, man spürt auch Humor. Wenn er schildert, wie die Knastleitung Gefangene mit einem Grill-Tag hinter Mauern belohnt: Die Wurst, heißt es in der "Verfügung", darf erst an den Start, wenn die Kohle gleichmäßig glüht und mit einer feinen, weißen Ascheschicht bedeckt ist.
Merzꞌ maulheldenhafter Kampf gegen Terrorismus
Es war nicht nur dieses Buch, das mich nach Stammheim trieb. Ein 26-jähriger Syrer hatte gerade in Solingen mit einem Messer drei Menschen getötet und weitere schwer verletzt. Immer dieses Messer. Und dann stahlharte Kerle wie der CDU-Merz, wenn er im maulheldenhaften Kampf gegen den Terrorismus so unbeholfen-gekünstelt Drohungen ausstößt wie ein Charge im Schülertheater: "Es reicht!"
Da musst du raus aus deiner Wohnung, wo Bildschirme und Radios stehen. Raus aus der Stadt, wo seit mehr als drei Monaten der Schlossplatz eingezäunt ist. Erst als Fanzone für die Fußball-EM, dann für das Festival Jazz Open. Zurzeit wird hinter Barrieren der Rasen gerichtet. Die Frage "Wem gehört die Stadt?" verhallt in Stuttgart im geschlossenen Raum.
Es ist ein Fluch, lange in derselben Stadt zu leben, in der womöglich die Guillotine auf dich wartet. Immer wenn ich nach Stammheim fahre, muss ich an Claus Peymann denken. Als Intendant des Stuttgarter Schauspiels blendete er 1976 in seine Inszenierung von Camus' "Die Gerechten" die Straßenbahn nach Stammheim per Super-8-Film ein. Die Landesregierung tobte, und nicht nur die. Wenig später wurde er aus allen Richtungen übelst beschimpft und bedroht: Er hatte einen Spendenaufruf von Ilse Ensslin, der Mutter der Terroristin Gudrun Ensslin, für die Zahnbehandlung der in Stammheim einsitzenden RAF-Mitglieder ans schwarze Brett geheftet. Die Hassbriefe hat er gesammelt und später daraus vorgelesen: "An den Bluthund Peymann! Du Dreckschwein kommst als Nächster dran. Vergasen sollte man Dich, am besten mit Chlor oder Phosgen."
Stammheim. Je weiter du hinausfährst zu den Rändern der Stadt, desto näher rückt die Welt. Das hat mit den Menschen in der Bahn zu tun. Sie scheinen von überall und weit her zu kommen. Und ich muss mal wieder den Rassisten in mir bekämpfen, wenn ich angesichts schwarzer Bärte an blutige Messer denke.
Hohenasperg: "Demokratenbuckel", "Höllenpforte"
Zum ersten Mal fällt mir auf, dass es die Asperger Straße ist, die von der Haltestelle Stammheim zum Gefängnis führt. Über der Stadt Asperg im Kreis Ludwigsburg ist bekanntlich der Hohenasperg, der historisch berüchtigste Kerker des Landes, heute ein Justizvollzugskrankenhaus. "Schwäbische Bastille", "Demokratenbuckel" und "Höllenpforte" hat man ihn genannt. Erinnerungsort für politisch motivierte Willkürjustiz über Jahrhunderte hinweg. Bei den Nazis von Bedeutung, später auch für die RAF. Populär der Hohenasperg-Spruch, man komme leicht hinauf, aber nur schwer herunter.
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