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IBA-Projekt in Esslingen

Entmietung für nachhaltiges Wohnen?

IBA-Projekt in Esslingen: Entmietung für nachhaltiges Wohnen?
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 Fotos: Jens Volle 

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In Esslingen entsteht ein neues, vorbildliches Wohnviertel: das Tobias-Mayer-Quartier, ein Projekt der Bauausstellung IBA'27. Nur: Da wo es gebaut wird, steht bereits eine Siedlung. Die Bewohner:innen wurden nicht gefragt. Sie werden ausquartiert.

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Für Raquel Jaureguízar sind die sozialen Aspekte des Wohnens offenbar sehr wichtig. "Was uns auch an dem Projekt überzeugt hat", sagt die Projektleiterin der Bauausstellung IBA'27 zum Tobias-Mayer-Quartier, "da spielen Kinder auf der Straße, und keiner stört sich daran." Bei besagtem Quartier handelt es sich um ein neues Wohnviertel, das in Esslingen-Hohenkreuz entstehen soll. Nur die Kinder, von denen Jaureguízar spricht, und die Erwachsenen, die sich nicht über sie beschweren, werden dann wohl nicht mehr da wohnen.

Das Tobias-Mayer-Quartier ist ein Projekt der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA'27), die Vorbereitungen laufen seit 2016. Der Name wurde in einem Wettbewerb gefunden: Ein Fahrradhändler kam auf die Idee, das Quartier nach dem 1723 geborenen, in Esslingen aufgewachsenen Astronomen Tobias Mayer zu benennen, wie eine bereits bestehende Straße. Dort, zwischen Tobias-Mayer-Straße und Palmstraße gibt es bereits eine Wohnsiedlung aus den 1930er-Jahren. Sie ist ziemlich heruntergekommen und soll weg. Aber was passiert mit den Mietern?

Bauträger des geplanten Quartiers sind die Esslinger Wohnungsbau GmbH (EWB) und die Baugenossenschaft Esslingen. Auch die Initiative Alternatives Wohnen (AlWo) Esslingen will hier ein Wohnprojekt mit vier Häusern unter dem Dach des Mietshäuser Syndikats realisieren. Aber dafür müssen die Bestandsmieter:innen gehen. Die Häuser werden, wie die EWB sagt, "entmietet".

Die Bewohner:innen sind nicht begeistert

"Uns hat man nicht gefragt", erklärt ein junger, bärtiger Familienvater, der seinen Garten beackert und nicht genannt werden will. "Wir müssen weg." Ob sie schon etwas Neues gefunden haben? "Man hat uns mehrere Wohnungen gezeigt, aber wir hätten halt gern wieder einen Garten." Seine Wohnung koste 450 Euro warm, sagt er. Seine Frau korrigiert: 560. Stimmt, es gab die Erhöhung, wegen der Nebenkosten. "Aber wir haben viel reingesteckt in die Renovierung." Wie viel? "Schon ein paar tausend." In Annoncen finden sich Wohnungen ab 1.000 Euro. Kalt. "Wie soll man sich das leisten mit Mindestlohn?", fragt er.

"Ich geh' hier nicht weg", protestiert Franz Katz (Name von der Redaktion geändert). "Mich müssen sie schon raustragen." Durch einen im Treppenhaus angeschlagenen Zettel habe er erfahren, dass das Haus, in dem er wohnt, "entmietet" werden soll. Katz erklärt sich zuerst bereit, Auskunft zu geben, macht dann aber einen Rückzieher. Er sei auf das Wohlwollen der EWB angewiesen, wenn er eine Ersatzwohnung brauche. Sein Anwalt habe ihm deshalb geraten, sich zurückzuhalten. Es herrscht Angst in der Siedlung. Die Bewohner:innen wissen: Sie können nicht mehr lange bleiben. Aber sie wissen noch nicht, wohin. Und was es dann kostet.

Die EWB

Die 1936 gegründete Esslinger Wohnungsbau GmbH (EWB), die heute über 3.000 Wohnungen besitzt und verwaltet, ist keine rein städtische Wohnungsgesellschaft, sondern befindet sich zur Hälfte im privaten Besitz von Unternehmen wie Mercedes-Benz, der Kreissparkasse, der EnBW, den Index-Werken, Eberspächer, Citizen Machinery, Hengstenberg, Festo und anderen. Seit 1991 gibt es auch noch eine Wohnbau Stadt Esslingen, zu 100 Prozent in städtischem Besitz. Sie hat allerdings 2004 fast ihre gesamten Bestände an die EWB verkauft. Für Esslingen ist das nun ein Problem, denn für Public-Private-Partnerships wie diese zahlt das Land keine Fördergelder.  (dh)

Katz ist vor 50 Jahren hier eingezogen. Das Haus sei kurz vor dem Vergammeln gewesen, erzählt er: Die Wände waren feucht. Als erfahrener Handwerker habe er das Haus damals instandgesetzt. Auf eigene Rechnung, für einen fünfstelligen Betrag. Er zahle eine sehr niedrige Miete, leiste aber für die ganze Häuserzeile Hausmeisterdienste. Ehrenamtlich.

Sich wehren kann Erfolg haben

Dass man sich gegen Abriss auch wehren kann, haben, auch in Esslingen, die Rondell-Rebellen gezeigt. In der Straße Am schönen Rain, gruppieren sich durch eine kleine Stichstraße zugänglich, zwei Reihenhäuser mit je sechs Wohnungen und ein Kopfbau um eine kleine Grünanlage: ein Idyll. Die Häuser auf der einen Seite sind Privateigentum der Bewohner, die auf der anderen gehörten der EWB. Diese kündigte im Herbst 2019 den Abriss an: für einen Carport.

Dagegen regte sich Widerstand. Es sei eine nette Nachbarschaft gewesen, erzählt die heute noch hier wohnende Nicole Rabus: Eine eritreische und eine türkischstämmige Familie, eine 80-Jährige Frau, die den größten Teil ihres Lebens hier verbracht hat. Die Bewohner:innen hängten ein Transparent auf. Rabus, früher Journalistin, mobilisierte die Presse. Das schreckte die Gemeinderät:innen auf, die das Rondell besuchten.

Am Ende einigten sie sich: Die EWB verkaufte ihre zwei Häuser an das Rudolf-Sophien-Stift, eine Einrichtung zur Rehabilitation psychisch kranker Menschen. Diese Häuserzeile ist bereits saniert und bewohnt, im Kopfbau will die IBA'27 die Besucher empfangen.

Rabus bedauert, dass die beiden Familien weg sind. Sie hätten allerdings nicht weit weg Ersatzwohnungen bekommen und seien sehr zufrieden, trotz höherer Miete. Und die alte Frau habe nun eine kleine Wohnung mit ebenerdigem Eingang.

Ist eine ähnlich harmonische Lösung beim Tobias-Mayer-Quartier in Aussicht? Marco Gölz von der Initiative "Alternatives Wohnen Esslingen" (AlWo) erklärt, dass sie die Mieter:innen der Häuser, die dem neuen Quartier weichen müssen, persönlich aufgesucht haben. Erst als die Projektmitglieder davon überzeugt waren, dass deren Unterbringung bei der EWB in guten Händen sei, fiel die Entscheidung für das Tobias-Mayer-Quartier. "Unser Eindruck war, dass das Sozialmanagement der EWB das auf eine gute Art und Weise macht", sagt Irene Gölz von der AlWo. Die eingangs zitierten Aussagen jetziger Bewohner:innen legen wiederum nahe, dass diese nicht den gleichen Eindruck von der EWB haben.

Klingt zukunftsweisend, lässt aber Fragen offen

AlWo ist das erste Projekt des Mietshäuser Syndikats in Esslingen. Oder will es werden, denn noch ist es nicht soweit. Nach seinem Studienabschluss hatte Gölz, heute wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hochschule Esslingen, eigentlich gedacht, er würde jetzt für seine Familie ein Haus kaufen. Doch es kam anders: Nach einem Besuch des Kesselhofs in Stuttgart-Botnang entschieden sie sich, ein gemeinschaftliches Wohnprojekt unter dem Dach des Syndikats zu starten: Er und seine Familie, seine Patentante, die frühere Gewerkschaftssekretärin Irene Gölz, die Journalistin Kristin von Heyden und um die zehn weitere, die sie durch Telefonate zusammengetrommelt hatten.

Sie gründeten einen Verein, machten Veranstaltungen, suchten nach einem Bauplatz. Im April 2021 nahmen sie an der – wegen Corona – "digitalen Bürgerwerkstatt" zum Quartier in Esslingen-Hohenkreuz teil und beschlossen, es dort zu versuchen. Kurz danach traten die EWB und die Baugenossenschaft Esslingen in Kontakt mit der IBA. Den Architekturwettbewerb gewann das von der IBA vorgeschlagene junge Wiener Büro Vlay Streeruwitz. Doch erst nach dem Einstieg von AlWo wurde das Tobias-Mayer-Quartier ein richtiges IBA-Projekt.

Für 53 Erwachsene aller Altersstufen und 24 Kinder plant AlWo nicht nur konventionelle Wohnungen, sondern auch auch zwei Clusterwohnungen und insgesamt 15 Gemeinschaftsräume einschließlich der 200 Quadratmeter großen Dachterrasse. Nach dem Modell des Freiburger Vauban-Viertels verzichten die Bewohner auf eigene Autos. Das Projekt soll auch Bewohner:innen offenstehen, die kein Kapital mitbringen. Dafür braucht der Verein allerdings noch Direktkredite. Einen hohen Zinssatz können sie nicht bieten. "Wer sich von der Bank beraten lässt, sein Geld in Rüstungsunternehmen anzulegen, bekommt mehr raus", sagt Marco Gölz. "Aber wollen wir das?"

Alternatives Wohnen Esslingen ist sicher ein zukunftsweisendes Projekt. Auch das IBA-Projekt Tobias-Mayer-Quartier insgesamt. Sozial, nachhaltig, ökologisch: Die Bebauung wird dichter, bis zu acht Stockwerke hoch, damit mehr Mieter unterkommen, aber mit einem Freiraum, einer "grünen Oase" als gemeinschaftlich beackertem Gartenfeld in der Mitte. Die Palmstraße, eine der Längsachsen, soll rückgebaut werden. Sogar der Stellplatzschlüssel kann reduziert werden, da es in der benachbarten Siedlung ungenutzte Tiefgaragenplätze gibt, wie der Esslinger Baubürgermeister Axel Fricke erläutert. Klingt alles gut.

Nur: Was heißt genau "bezahlbarer Wohnraum"? Wie viel mehr müssen die Mieter, die ihre Wohnungen verlassen, künftig zahlen? Wie viel höher liegt die Miete im Neubau im Vergleich zum Bestand? Täuscht der Eindruck, dass an der "digitalen Bürgerwerkstatt" im April 2021 überhaupt keine Migrant:innen teilgenommen haben, die doch in der bisherigen Siedlung die Mehrheit bilden? Warum erfährt ein Mieter wie Katz nur durch einen Anschlag im Treppenhaus von der "Entmietung"?

Auf Anfragen antwortet die EWB nicht

Genauere Angaben bleibt die Wohnungsbaugesellschaft schuldig. Was der aktuelle Stand ist, wie es um den Verbleib der Bestandsmieter:innen bestellt ist, wie hoch die künftige Miete sein soll und so weiter – trotz mehrmaliger Kontext-Anfragen kam bis Redaktionsschluss keine Antwort von der EWB.

IBA-Intendant Andreas Hofer nimmt derweil die Baugesellschaften in Schutz. Der Vorwurf, sie wollten sich auf Kosten der Mieter bereichern, treffe nicht zu. Vielmehr müssten sie Einnahmen erzielen, um ihre Bestände instand zu halten und zu erneuern. Eine Recherche des Netzwerks "Correctiv" zeigt indes, dass städtische Wohnungsgesellschaften derzeit bundesweit häufig die Strategie verfolgen, billige Altbauten abzureißen, um mit Neubauten höhere Einnahmen zu erzielen.

Dabei müssten sich die Mieter:innen, wenn sie das nicht wollen, nur wehren. Sie müssen nicht ausziehen, wenn ein Vermieter neu bauen will, erklärt Rolf Gaßmann, Vorstand des Mieterbunds Baden-Württemberg, auf Kontext-Anfrage. "Vermieter könnten nur kündigen wegen mangelnder wirtschaftlicher Verwertung." Ob eine solche Kündigung zugunsten von Neubauvorhaben vor Gericht Bestand hätte, sei unsicher. Denn der Vermieter "erzielt ja schon mit den alten Häusern eine angemessene Rendite", sagt Gaßmann.

Die Mieter sind also nicht auf das Wohlwollen des Vermieters angewiesen, sondern der Vermieter muss ihnen ein attraktives Angebot machen, wenn er er will, dass sie ausziehen. Nur wissen offenbar die wenigsten, in der Esslinger Siedlung wie in anderen vergleichbaren Fällen, dass es einen Mieterverein gibt, der sie beraten und bei Rechtsstreitigkeiten unterstützen kann. Sonst wäre die Entmietung wohl schwieriger zu bewerkstelligen.


Zum Tobias-Mayer-Quartier gibt es eine eigene Seite der EWB und einen Eintrag auf den Seiten der IBA. AlWo Esslingen hat neben der allgemeinen AlWo-Website auch noch eine eigene Seite zum Wohnprojekt AlWo1 im Tobias-Mayer-Quartier, das nicht das einzige bleiben soll.

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1 Kommentar verfügbar

  • Oktarine
    am 16.10.2024
    Antworten
    Dies ist kein Zufall, sondern Teil des neuen heilen Weltbildes, in dem Menschen mit wenig oder ohne Geld nicht vorkommen.
    Das ist die Welt des E-SUVs und der veganen Biovollkost, mit dem richtigen Bewusstsein, die nicht versteht, dass nicht alle so sind und so denken wie sie selbst.

    Es ist ein…
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