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Nach Schlachthofskandal

Zurück zum Normalbetrieb?

Nach Schlachthofskandal: Zurück zum Normalbetrieb?
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2022 enthüllten Aufnahmen von SOKO Tierschutz aus dem Backnanger Schlachthof Kühnle massive Tierquälerei. Tiere wurden bei vollem Bewusstsein geschlachtet. Das Unternehmen schloss vorübergehend. Was ist seither passiert?

Die Aufnahmen, die der Verein SOKO Tierschutz im Sommer 2022 veröffentlichte, sind schwer zu ertragen. Rinder, die nach einem fehlerhaften Bolzenschuss nicht bewusstlos werden, zucken und strampeln minutenlang an der Schlachtkette – bis sie verbluten. Die Vorfälle im Schlachthof Kühnle in Backnang, etwa 30 Kilometer von Stuttgart entfernt, erfüllen laut Paragraf 17 Tierschutzgesetz den Tatbestand einer Straftat. Strafbar ist, wer Wirbeltieren erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt, etwa durch fehlende oder mangelhafte Betäubung – genau das zeigen die Videoaufnahmen aus dem Sommer 2022.

Studien zeigen, dass das öfter passiert als gedacht. Eine Untersuchung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft von 2013 ergab: Bei bis zu 9 Prozent aller Schlachtungen ist die Betäubung unzureichend oder schlägt komplett fehl. Tierschutzorganisationen wie die Albert-Schweitzer-Stiftung gehen von einer noch höheren Dunkelziffer aus. Für die Tiere bedeutet das massive Schmerzen und Todesangst bei vollem Bewusstsein. Deshalb fordern die Albert-Schweitzer-Stiftung, die Tierschutzstiftung Vier Pfoten und die SOKO Tierschutz seit Jahren Reformen.

Im Schlachthof Kühnle trieben Mitarbeiter:innen die Rinder mit einem Elektrotreiber in die Betäubungsfalle. Kai Braunmiller, leitender Veterinärdirektor und Facharzt für öffentliches Veterinärwesen und Tierschutz, bezeichnet das als unverhältnismäßig und rechtswidrig. Die Geschäftsführung in Backnang stritt derweil ab, überhaupt tierschutzwidrig gehandelt zu haben. Auch ein anwesender Tierarzt setzte tierschutzwidrige Elektroschocks ein.

Der Betrieb stoppte dennoch die Schlachtungen, kündigte Untersuchungen an und versprach mehr Transparenz. Knapp zwei Jahre später läuft der Schlachtbetrieb wieder – ohne großes Aufsehen. "Angeblich wurden bauliche Veränderungen vorgenommen", sagt Friedrich Mülln von der SOKO Tierschutz. "Von personellen Konsequenzen wissen wir nichts. Der Betrieb ist inzwischen sehr gut mit Kameras ausgestattet. Das erschwert externe Einblicke." Ob sich die Zustände gebessert haben, bleibt unklar. Eine Stellungnahme von Kühnle blieb bis Redaktionsschluss aus.

Einzelfall oder strukturelles Problem?

Der Skandal von Backnang reiht sich ein in eine lange Serie ähnlicher Fälle in Baden-Württemberg. Bereits 2020 sorgte ein ARD-Beitrag aus dem Schlachthof Biberach für öffentliche Empörung. Auch dort wurden Tiere fehlerhaft betäubt und unter Schmerzen getötet. Im selben Jahr kam es im Schlachthof Gärtringen zum Skandal, nicht das erste Mal. Amtliche Kontrollen zeigten bereits 2018 Missstände in zwei Dritteln der größten Schlachthöfe des Landes.

Betäubung vor der Schlachtung – was das Gesetz vorschreibt

Wer Geflügel, Schweine, Rinder und andere Nutztiere schlachten will, muss sie in Deutschland und der EU zuvor wirksam betäuben. Eine Schlachtung ohne Betäubung ist nur in Ausnahmefällen mit behördlicher Genehmigung zulässig – etwa beim religiösen Schächten. Trotz dieser Vorschriften sterben in deutschen Schlachthöfen immer wieder Tiere unter erheblichen Schmerzen – insbesondere durch Fehlbetäubungen. Diese liegen vor, wenn Tiere gar nicht, nur unzureichend oder zu kurz betäubt werden. Im schlimmsten Fall erleben sie das eigentliche Schlachten bei vollem Bewusstsein.

Ursachen für solche Verstöße sind vielfältig: Unzureichend gewartete Geräte, Zeitdruck oder schlecht geschultes Personal. Rinder werden in der Regel mit einem Bolzenschussgerät betäubt, das einen Metallbolzen mit Wucht ins Gehirn treibt. Bei Geflügel oder Schweinen kommt häufig Strom zum Einsatz – über sogenannte Elektrozangen. Auch CO₂-Betäubung ist verbreitet, insbesondere bei Schweinen: Dabei werden sie in eine mit Gas gefüllte Grube abgesenkt. Das reizt Schleimhäute und Atemwege – die Tiere geraten in Panik, haben das Gefühl zu ersticken und erleiden einen 20 bis 30 Sekunden langen Todeskampf. Argon-Gas wäre tierfreundlicher, ist jedoch teurer und daher kaum verbreitet.

Für wirbellose Tiere wie Hummer gibt es keine Schutzvorschriften. Sie dürfen lebendig gekocht werden – in der Schweiz hingegen ist auch für sie eine Betäubung vorgeschrieben.  (jm)

Das Veterinäramt Rems-Murr-Kreis, das für den Schlachthof in Backnang zuständig ist, hat auf Anfrage eine Stellungnahme übermittelt. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe im Jahr 2022 seien laut Amt "alle Schlachtbetriebe regelmäßig und risikoorientiert überprüft" worden. Verstöße gegen das Tierschutzgesetz würden mit den "geeigneten Mitteln geahndet". Der betreffende Betrieb in Backnang werde weiterhin "regelmäßig bei Schlachtungen kontrolliert".

In den veröffentlichten Aufnahmen von 2022 war deutlich zu sehen, wie ein Amtstierarzt des Veterinäramts selbst Tiere mit Elektroschocks in die Betäubungsfalle trieb – ein klarer Verstoß gegen das Tierschutzgesetz. Dennoch erklärt die Behörde: "Im Veterinäramt gab es keine personellen Konsequenzen, da keine Straftaten vorliegen." Strukturelle Änderungen oder Reformen innerhalb des Amtes sieht man nicht als notwendig an. Wörtlich heißt es: "Im Amt hat sich nichts verändert, da die Strukturen der Überwachung grundsätzlich passen." Bleibt die Frage: Wie unabhängig und effektiv ist die staatliche Kontrolle, wenn eigene Mitarbeitende Fehlverhalten zeigen und dennoch im Dienst bleiben?

Forderungen nach Reform

Vor diesem Hintergrund fordern Tierschutzorganisationen weitere Maßnahmen, um das Leid der Tiere in Schlachthöfen zu reduzieren: Häufigere und vor allem unangekündigte Kontrollen könnten helfen, Missstände realistischer zu erfassen. Überraschungsinspektionen erhöhen die Chance, Verstöße aufzudecken – etwa bei unzureichender Betäubung, Hygiene oder Transportregeln. Gerade bei Betrieben mit strukturellen Problemen können solche Kontrollen Probleme sichtbar machen, die bei angekündigten Prüfungen oft verborgen bleiben. Außerdem stärken unangekündigte Besuche das Kontrollsystem, da sie die Arbeit amtlicher Veterinäre ergänzen und unabhängige Beobachtung erlauben.

Auch die Einführung eines Verbandsklagerechts im Tierschutz fordern Tierschutzorganisationen. Damit könnten Missstände juristisch verfolgt werden, wenn staatliche Stellen nicht eingreifen. Strukturelle Probleme könnten so vor Gericht überprüft werden – ähnlich wie im Umweltrecht. Der Vorteil: Verstöße hängen nicht nur vom behördlichen Handeln ab, sondern können rechtlich geklärt werden.

Verbindliche Regeln lassen auf sich warten

Nach den aufgedeckten Missständen in mehreren baden-württembergischen Schlachtbetrieben hat die Stabsstelle der Landestierschutzbeauftragten Julia Stubenbord wiederholt auf strukturelle Defizite hingewiesen: Veraltete bauliche Anlagen, etwa enge Treibgänge oder schlechte Beleuchtung, begünstigen massive Tierschutzverstöße. Als Reaktion fördert das Ministerium für Ländlichen Raum Investitionen in regionale Schlachthöfe, sofern diese nach Tierwohl-Kriterien modernisieren. Zudem wurde eine spezialisierte Kontrolleinheit eingerichtet, die Betäubungsgeräte verstärkt überprüft. Seit 2021 unterstützt die beim Regierungspräsidium Tübingen angesiedelte Stabsstelle Tierschutz (STV Tierschutz) die Behörden bei Kontrollen, bietet Schulungen für Schlachthofpersonal und Überwachungsämter an und prüft Betäubungsgeräte samt Herstelleranleitungen auf Tierschutzkonformität. Eine freiwillige Videoüberwachung in Betrieben ab einer bestimmten Größe soll erste Transparenz in kritischen Bereichen schaffen.

Auf Nachfrage teilt das Ministerium zudem mit, seit 2022 Maßnahmen zur Verbesserung des Tierschutzes bei der Schlachtung ergriffen zu haben. Dazu zählten etwa die Arbeit der STV Tierschutz, Förderprogramme für regionale und mobile Schlachtsysteme sowie der Dialog "tiergerechte Schlachtung". Beim Projekt "Tierwohl-KI bei der Schlachtung", gefördert mit bis zu 1,5 Millionen Euro, sei erprobt worden, wie Künstliche Intelligenz Tierwohlverstöße bei der Schweineschlachtung automatisiert erkennen und damit Kontrollen ergänzen kann. Die Landesregierung fördert voll- und teilmobile Schlachtsysteme, um regionale Schlachtungen ohne Tiertransporte zu ermöglichen und hochwertiges Fleisch direkt vermarkten zu können.

Im Bereich der Schweineschlachtung empfiehlt das Friedrich-Loeffler-Institut ein Gasgemisch mit dem deutlich tierfreundlicheren Inertgas Argon als Alternative zur umstrittenen CO₂-Betäubung, die nachweislich Schmerzen und Erstickungsgefühle auslöst. Die Umstellung wäre technisch machbar, stößt bei Schlachtunternehmen aber auf Widerstand. Höhere Kosten und längere Betäubungszeiten gelten als Hindernis. "Der Tierschutz sollte uns die Mehrkosten von einem Cent pro Kilo Fleisch wert sein", betont Stubenbord. Doch bislang fehlt es an klaren Vorgaben: Die geplante Reform des Tierschutzgesetzes wurde durch das vorzeitige Ende der Ampel-Koalition auf Bundesebene gestoppt.

Stubenbord sieht weiterhin dringenden Handlungsbedarf – vor allem in den Veterinärämtern: "Das amtliche Kontrollpersonal muss unabhängig arbeiten und tierschutzwidrige Zustände ahnden können – ohne Angst vor beruflichen Konsequenzen." Insbesondere Beschäftigte in sensiblen Bereichen bräuchten deutlich mehr Rückhalt. Ein zentrales Instrument, um Kontrolle und Tierschutz zu stärken, sieht sie in der verpflichtenden Videoüberwachung: "Sie ist ein unverzichtbarer Baustein zur Verbesserung der Aufsicht." Doch auch hier gelte: Ohne ausreichend Personal könne selbst das beste Überwachungssystem ins Leere laufen – und gerade an Personal mangele es zusehends.

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