KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Blick auf Syrien

Spaltung, Angst und Identität

Blick auf Syrien: Spaltung, Angst und Identität
|

Datum:

Wenige Monate nach dem Sturz des Diktators Bashar al-Assad griffen in Syrien bewaffnete Gruppen religiöse Minderheiten an. Zwei Syrer:innen aus der Region Stuttgart berichten über die Lage in ihrem Herkunftsland.

Raduan S. (Name geändert) stammt ursprünglich aus dem Süden Syriens, ist in Jaramana aufgewachsen, nur wenige Kilometer südlich der syrischen Hauptstadt Damaskus. "Wir waren die Ersten, die den Sturz Assads gefeiert haben. Aber heute haben wir das Gefühl, dass wir auf eine ungewisse Zukunft zusteuern. Wir leben in Angst um unser Volk in der Heimat", sagt der drusische 50-jährige Familienvater. Vor zehn Jahren kam er nach Europa, seit einem Jahr lebt er in Stuttgart, hier hat er sich selbstständig gemacht. Über die Lage der Drus:innen in seinem Herkunftsland öffentlich zu sprechen, fällt ihm nicht leicht – aus Sorge um Familienmitglieder, die in Syrien leben, aus Angst vor möglichen Repressalien.

Der Grund seiner Sorge sind die gewaltsamen Ausschreitungen Ende April. Bewaffnete Sunniten, mutmaßlich Unterstützer der neuen syrischen Regierung unter Ahmed al-Scharaa, griffen die drusisch geprägten Städte Jaramana und Sehnaya bei Damaskus sowie in der südlichen Provinz Suweida an. Die staatliche Nachrichtenagentur Sana sprach von "Gruppen von Gesetzlosen". Auslöser war eine in sozialen Medien verbreitete Tonaufnahme, in der ein drusischer Geistlicher angeblich den Propheten Mohammed beleidigt haben soll. Der Geistliche bestritt zwar, dass die Aufnahme echt sei, selbst das syrische Innenministerium deklarierte sie als Fälschung. Dennoch eskalierte die Lage – auf den Straßen, in Universitäten und in den sozialen Medien. In den Kämpfen ließen über 100 Menschen ihr Leben, darunter auch Mitglieder der syrischen Sicherheitskräfte.

Die Muwahhidun ("Unitären"), wie sich die Drus:innen selbst nennen, spalteten sich im 11. Jahrhundert ab von schiitischen Muslimen in Kairo. Ihre religiöse Praxis ersetzt klassische islamische Rituale wie Gebet und Fasten durch Esoterik, basierend auf griechischer Philosophie und dem Glauben an Reinkarnation. Aufgrund von Verfolgung durch das damals herrschende Fatimiden-Kalifat zogen sie sich in das bergige Syrien, den Libanon und nach Palästina zurück. Heute leben rund eine Million Drus:innen in der Region, etwa 700.000 davon in Syrien. Ihre heiligen Schriften sind nur einem eingeweihten Kreis zugänglich und streng geheim. Man wird als Drus:in geboren – konvertieren ist nicht möglich.  (ses)

Ein Abkommen beendete Anfang Mai die Gewalt – unter der Bedingung, dass nur lokale Sicherheitskräfte der Drus:innen für den Schutz der von ihnen bewohnten Regionen sorgen.

"Früher wurde man nicht nach seiner Religion gefragt", erinnert sich Raduan S. an das Assad-Regime, was zählte war die Loyalität gegenüber Staat und Diktator. 2015 verließ er Syrien, als die drusisch geprägte Stadt Jaramana trotz ihrer Neutralität in die Schusslinie zwischen Kämpfern des Islamischen Staats (IS) und des syrischen Regimes geriet. Arbeiten in Damaskus war für ihn als Händler nicht mehr sicher. Er floh nach Europa, beantragte Asyl. "Wir waren nicht Pro-Assad und haben den Militärdienst außerhalb von unseren Regionen verweigert", erzählt er. Nicht für das syrische Regime, sondern zum Schutz ihrer Gebiete kämpften die Drus:innen, nachdem der IS sie angriff und dazu aufrief, zum Islam zu konvertieren. In Suweida, wo viele seiner Verwandten leben, kam es in den letzten Jahren der Assad-Diktatur immer wieder zu Protesten – wegen Strommangels, Wassernot und geringen Gehältern von umgerechnet 20 Euro im Monat für Staatsangestellte.

"Wir sind keine Gäste"

Der Sturz Assads wurde deshalb von Raduan und vielen seiner Bekannten mit Hoffnung begrüßt. "Doch die Angst vor einer islamistischen Regierung kam schnell auf", sagt er. Zum Interimspräsidenten und ehemaligen Anführer der HTS-Milizen al-Scharaa habe er kein Vertrauen. "Das hat auch unser geistliches Oberhaupt, Sheikh Hikmat al-Hijri, deutlich gemacht." Und die Mehrheit der Drus:innen stehe hinter al-Hijri. Al-Scharaa gibt sich gemäßigt, doch Personen in seinem Umfeld wirft Raduan eine "takfiristische" Haltung vor: Anhänger:innen anderer Religionen und sogar anderer muslimischer Strömungen gelten als "ungläubig". Dementsprechend beunruhigend sei das für Drus:innen. Doch manche drusischen Gruppen in der südlichen Provinz Suweida kooperieren mit der neuen syrischen Armee. Zu diesen möchte Raduan sich nicht äußern.

Der Bürgerkrieg strahlt bis nach Stuttgart aus

Am 3. Juni 2025 hat das Oberlandesgericht Stuttgart den 33-jährigen Syrer Ammar A., Mitglied der schiitischen Hisbollah-Miliz, zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht sprach ihn wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Mord gegen Sunniten schuldig. Die Taten beging er in Busra al-Scham, einer Stadt in der südsyrischen Provinz Suweida. Das Gericht hat 30 Zeugen vernommen, darunter ein Folteropfer, das mittlerweile in Köln lebt. Opfer und Täter kannten sich bereits aus der Schulzeit in Syrien. Das Verfahren reiht sich ein in eine Serie von Strafprozessen in Deutschland, in denen mutmaßliche Täter des syrischen Bürgerkriegs verfolgt werden. Grundlage der Entscheidung ist das im Völkerstrafrecht verankerte Weltrechtsprinzip. Es erlaubt, schwere Verbrechen unabhängig vom Tatort weltweit zu verfolgen.  (ses)

Die wirtschaftliche Lage in der Provinz Suweida sei angespannt, sagt Raduan. Staatsbedienstete hätten seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten – im Gegensatz zu den Angestellten in Damaskus. Von Europa erhofft er sich mehr Einfluss auf die neue syrische Regierung, damit schnell Sicherheit im Land einkehrt und die Konflikte zwischen den Regionen beendet werden. "Wir wollen mehr Teilhabe, wir sind keine Gäste in Syrien."

Wegen der Unruhen im April aktivierte auch Israel sein Militär, ließ mehrere Orte im Süden des Landes bombardieren. Die israelische Regierung gibt sich als Beschützer der drusischen Minderheit. Israelische Medien berichteten, dass die Drus:innen israelische Unterstützung gefordert hätten. "Aber das stimmt nicht. Wir selbst haben das nicht verlangt. Es war der geistliche Führer der Drusen in Israel, der sich für Schutz ausgesprochen hat", sagt Raduan. Die Drus:innen in Syrien selbst würden keinen Separatismus anstreben – sie wollten weder Selbstverwaltung, noch dass sich die neuen syrische Sicherheitskräfte in ihr Leben einmischen.

Bereits vor dem Sturz Assads hatten israelische Minister wie Gideon Sa'ar oder Israel Katz öffentlich erklärt, die Drus:innen in Syrien unterstützen zu wollen. 150.000 Drus:innen leben in Israel, viele von ihnen auf den von Israel besetzten Golanhöhen. Als einzige arabische Gruppe leisten sie Wehrdienst in der israelischen Armee. Nach dem Machtwechsel in Damaskus hat Israel laut Medienberichten die Einrichtung einer "Pufferzone" in der Grenzregion eingerichtet und Pilotprojekte vorangetrieben, um Drus:innen für landwirtschaftliche Arbeit anzuwerben. Eine Gruppe drusischer Geistlicher aus Syrien durfte, begleitet von der israelischen Armee, zum ersten Mal seit fast 50 Jahren nach Galiläa pilgern.

Jaramana: "Mini-Syrien"

Als die Angriffe auf die drusische Stadt Jaramana begannen, war Yara E. beunruhigt – zugleich aber auch stolz darauf, dass ihre Verwandten die Stadt nicht verlassen wollten, um Solidarität mit ihren drusischen Nachbar:innen zu zeigen. Yara ist Christin und hat wie Raduan, während der Bürgerkrieg in Syrien wütete, in Jaramana gelebt. Ihre Familie stammt ursprünglich aus dem Grenzgebiet zum Libanon, etwa 80 Kilometer weiter im Norden. 2013 flohen sie vor der al-Nusra-Front, dem Vorläufer der HTS, die im Krieg auch Christ:innen angriff. Seit zwei Jahren ist sie in Deutschland, in Stuttgart studiert die 35-jährige Yara Architektur und beschäftigt sich dabei auch mit den Folgen des Kriegs auf die Stadtentwicklung in Syrien, insbesondere in Jaramana. Ein "Mini-Syrien" nennt sie die Stadt südlich von Damaskus, die ihr damals Zuflucht bot wegen ihrer vielfältigen Bevölkerung.

Multiethnisch und multikonfessionell

Syrien ist ein multiethnisches und multikonfessionelles Land. Diese diversen kulturellen Identitäten unterdrückte die Assad-Herrschaft allerdings. Neben den Araber:innen leben in Syrien Kurd:innen und Aramäer:innen sowie Armenier:innen, Tscherkess:innen und Turkmen:innen. Die Mehrheit in der syrischen Bevölkerung ist sunnitisch, doch es gibt auch Schiiten, Aleviten, Drusen und die Ismailiten. Fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung sind christlich, diese wiederum teilen sich auf unterschiedliche Konfessionen auf: griechisch- oder syrisch-orthodox, maronitisch oder chaldäisch, katholisch oder protestantisch. Außerdem gibt es eine jesidische Minderheit.  (ses)

Als die Rebellen unter der Führung von al-Scharaa im Dezember nach Damaskus vorrückten, hatte die Studentin Angst um ihre Eltern in Syrien. Diese dagegen zeigten sich hoffnungsvoll: "Wir warten auf die Befreiung", sagten sie am Telefon wenige Stunden nach Assads Sturz. Aus der Ferne konnte Yara E. kaum glauben, dass der Diktator nach 25 Jahren endlich geflohen ist.

Die Ängste der Drus:innen, als religiöse Minderheit verfolgt zu werden, hat sie aus nächster Nähe kennengelernt, als sie zu Zeiten des Krieges noch in Jaramana lebte. "Die Drusen aus der Region waren bewaffnet, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Sie bezeichneten selbst Drusen aus dem Süden als Fremde", erzählt sie. Auch sie und ihre Familie blieben in Jaramana Fremde, weil bekannt war, dass sie von außerhalb kamen. Geschlossenheit ist typisch für die drusische Gesellschaft, besonders in Krisenzeiten.

Assads Erbe

Kurz nach dem Sturz Assads, ein Alevit, kam es im März zu Kämpfen zwischen Kämpfern der neuen Machthaber und Assad-Anhängern. Alevitische Zivilist:innen in der Region Latakia an der syrischen Mittelmeerküste wurden laut der in London ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte regelrecht massakriert. "Ein kollektiver Akt der Vergeltung", nannte das die Beobachtungsstelle und gibt die Zahl der Opfer mit über 1.000 an. Was genau die Kämpfe auslöste, ist nicht geklärt. Al-Scharaa kündigte eine Untersuchung an. Nach wie vor ist die Lage im Land aufgeheizt. Laut BBC befeuerten über 50.000 Beiträge in den sozialen Medien in den vergangenen Monaten die Konflikte im Land. Dabei stammten 60 Prozent der regierungskritischen Falschinformationen aus dem schiitisch geprägten Ausland, insbesondere Irak, Iran und Libanon. Gleichzeitig läuft eine Pro-Scharaa-Kampagne mit Unterstützung aus der Türkei und dem sunnitischen Königreich Saudi-Arabien.

Die Vergeltungsangriffe gegen Aleviten im März und die Kämpfe mit den Drusen im April empfindet die Christin Yara E. als ungerecht – überrascht hat es jedoch nicht. Christ:innen seien möglicherweise von Gewalt bislang verschont geblieben, da sie weder bewaffnet noch politisch organisiert seien. Die Spaltung in Syrien zwischen Religionen lehnt sie entschieden ab. Das Assad-Regime habe Alevit:innen für seine Zwecke vereinnahmt – obwohl viele von ihnen gegen das Regime gewesen seien.

Was sie an der neuen Regierung unter al-Scharaa stört, ist die offizielle Erzählung vom Schutz und der Duldung von Minderheiten. "Wer braucht eure Duldung? Das ist auch unser Land", sagt sie wütend. Was Syrien brauche, um wieder lebenswert zu sein, sei Sicherheit – erst dann könne man über demokratische Repräsentation sprechen. "Die religiöse Zugehörigkeit sollte keine Rolle spielen. Ich definiere mich nicht über meine Religion. Ich bin in erster Linie Syrerin." Stattdessen müssten die Menschen in Syrien miteinander reden und handeln, unabhängig von der Religion. Das umzusetzen dürfte derzeit aber schwerfallen: "Wir sind es nicht gewohnt, ohne Einschränkungen zu denken – nach so vielen Jahren politischer Manipulation." Immerhin: Die Angst, offen über Politik in Syrien zu sprechen, sei gebrochen. Yara engagiert sich in einem internationalen Netzwerk syrischer Architektinnen und Architekten. Sie sehen es nun als ihre Aufgabe, zum Wiederaufbau Syriens beizutragen.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!