Wie schätzen Sie denn die Lage vor Ort ein? Haben die Menschen Angst oder überwiegt die Freude?
Wenn man sich mit der syrischen Geschichte auseinandersetzt, gerade mit der modernen Geschichte, kann man nur eine Meinung haben, nämlich dass man sehr froh ist, dass das Assad-Regime weg ist. Eine Familie, die Syrien seit 54 Jahren mit Gewalt, Militär und Repressionen regiert und das Menschsein in Syrien mit Füßen getreten hat. Gerade für Minderheiten war es schlimm. Zum Beispiel für die Kurden, deren Identität, Sprache, Tradition und Kleidung unterdrückt wurden. Dann die Gewalt, die die Menschen dort über Jahrzehnte erlebt haben. Ich kann mich selbst erinnern, dass es sehr schwierig war, über Assad zu reden – sogar über das Tier. Al Assad heißt ja Löwe. Und man hatte Angst, das Wort Löwe in einem falschen Kontext zu benutzen. So wurde man in Assads Syrien sozialisiert. Also sind die allermeisten Menschen jetzt sehr froh – sowohl in der Diaspora als auch in Syrien. Genau das verbindet viele Syrer:innen gerade. Aber es gibt viele andere Fragen, auf die es keine Antwort gibt, und das bereitet vielen Sorge, besonders bei den Minderheiten. Wer kommt jetzt an die Macht?
Können Sie kurz erklären, welche Gruppen jetzt in Syrien agieren? Das ist ja für uns hier manchmal schwer zu verstehen.
Es gibt verschiedene Akteure. Wir haben die führende Rolle der HTS, also das Komitee zur Befreiung der Levante. Das ist eine Gruppe, die offiziell 2017 entstanden ist. Die war ein Ableger vom IS und später von Al Qaida. Dann haben sie gemerkt, sie müssen pragmatisch agieren und haben sich nur organisatorisch von Al Qaida distanziert, aber ideell nicht. Die HTS hat über viele Jahre in Idlib ihre Macht ausgebaut und dort auch verschiedenen Truppen vereint. Und wir haben im Norden die syrische Nationalarmee, die im Interesse der Türkei agiert und von ihr unterstützt wird, wie übrigens auch die HTS. Und es gibt vor allem in Nordostsyrien (Rojava) die syrischen demokratischen Kräfte, die aus Minderheiten bestehen: also Christ:innen, Assyrer:innen, Armenier:innen, Kurd:innen und auch Araber:innen. Das sind im Inneren die drei Hauptakteure.
Müssen bestimmte Gruppen vor der HTS Angst haben?
Auf jeden Fall. Die Bilder, die wir bekommen, sind ja meistens von der HTS kontrollierte Bilder. Die HTS versucht, Botschaften zu senden, dass sie den Minderheiten gegenüber friedlich ist. Aber die Christen haben große Angst, auch die Alawiten im Westen von Syrien an der Küste, weil die Assad-Familie zu dieser Gruppierung gehört und man sagt jetzt: Die Konfession hat lange Zeit Syrien kontrolliert und hatte die Macht. Wobei auch die Alawiten sehr gelitten haben unter Assads Herrschaft. Auch die Kurd:innen und die Jesid:innen haben Angst. Die Jesid:innen werden im islamistischen Verständnis nicht als eine monotheistische Religion anerkannt und es gab 2014 einen Genozid gegen Jesid:innen durch den IS. Die Kurd:innen haben auch Angst. Während wir hier reden, werden sie von der Türkei bombardiert.
Höre ich da richtig raus, dass Sie dem HTS-Führer Mohamed al-Jolani nicht trauen?
Ja. Al-Jolani versucht jetzt, sich mit seinem zivilen Namen Ahmed Al-Sharaa bekannt zu machen. Damit will er zeigen, dass er gemäßigt ist. Aber er ist die Person, die in Syrien die Al-Nusra-Front gegründet hat, den syrischen Ableger von Al-Kaida,
Aber er sagt, er habe mit Al-Kaida gebrochen. Es kann doch sein, dass er sich im Laufe seines Lebens geändert hat, oder?
So eine Organisation zu gründen und sich gleichzeitig ideologisch zu ändern in so kurzer Zeit – ich glaube nicht, dass das möglich ist. Wenn wir uns das Beispiel Idlib angucken, wo die HTS lange Zeit regiert hat: Frauen waren und sind da überhaupt nicht repräsentiert in den politischen Institutionen, es gab auch Folter und vor einem halben Jahr massive Proteste gegen die HTS und al-Jolani. Und dieselben Leute, die da regiert haben, sind jetzt in der Übergangsregierung in Damaskus eingesetzt worden. Jolani versucht, sich als gemäßigt zu verkaufen. Er zeigt sein Gesicht, tritt nicht in Militäruniform auf und versucht einfach gerade, die internationale Gemeinschaft zu gewinnen, um seine Legitimation zu festigen. Also sage ich, nein, al-Jolani hat sich nicht entwickelt.
Gibt es eigentlich oppositionelle Organisationen in Syrien oder hatten die unter Assad gar keine Chance?
Unter Assad war es sehr schwierig, Opposition zu gestalten. Die meisten Oppositionellen sind in der Diaspora. Das ist natürlich auch ein Problem. Oppositionelle, die in den Medien vertreten waren, saßen im Ausland, zum Beispiel in Istanbul und haben auch türkische Interessen vertreten. Die hat man in Syrien ironischerweise als Hoteloppositionelle bezeichnet, weil sie immer nur Konferenzen besucht haben, bei denen man im Warmen saß und nichts passiert ist. Ich glaube, al-Jolani wird jetzt auch deswegen so gefeiert, weil er endlich mal was Praktisches gemacht hat und zwar mit Erfolg.
Was sagen Sie denn zur aktuellen innerdeutschen Debatte rund um Assads Sturz und den Forderungen, dass Syrer:innen doch jetzt zurück gehen könnten?
Zunächst: Syrien war nicht sicher und Syrien ist nicht sicher, auch wenn Assad jetzt weg ist. Ich glaube, es ist ein Problem, dass man Assad nur als Person sieht. Aber Assad ist Struktur und die Strukturen des Assad-Regimes sind immer noch da. Und die Alternativen sind nicht sicher. Alle Augen richten sich auf Damaskus, um zu gucken, wie sich alles entwickelt. Aber wenn ich sehe, dass die gleiche Regierung, die Idlib regiert hat, jetzt in Damaskus regiert, macht mir das Sorgen. Wenn jetzt Leute sagen, Syrien ist sicher und jetzt können Geflüchtete dorthin gehen, dann würde ich antworten: Okay, gehen Sie zuerst. Leben Sie für einige Zeit dort und dann können Sie mir Bescheid geben, ob Syrien sicher ist oder nicht.
Was sollte Deutschland Ihrer Ansicht nach jetzt tun?
Ich bin überzeugt, Syrien steht vor einer Schicksalsfrage. Was jetzt entschieden wird, wird Syrien prägen. Meine Generation steht vor der Schicksalsfrage, wie dieses Land nach so viel Leid endlich Ruhe und Frieden bekommt. Die Aufgabe der Politiker:innen ist, Antworten auf diese Frage zu liefern. Wie kann Syrien so gestaltet werden, dass die Leute dort endlich in Sicherheit leben dürfen und das tun können, was notwendig ist? Notwendig ist, dass man endlich keine Waffen mehr liefert an Akteure, die gerade jetzt Syrien bombardieren, nämlich die Türkei. Während ich hier die Sicherheit in Deutschland genieße und zu 100 Prozent weiß, dass mein Haus nicht bombardiert wird und dass ich nicht beobachtet werde, während ich mit Ihnen dieses Gespräch führe, haben die Leute gerade im Norden Syriens Angst. Aber Deutschland liefert weiterhin Waffen an die Türkei, weil man diesen Nato-Partner nicht verstören will, weil man den Flüchtlingsdeal weiterhin behalten möchte. Deutschland muss endlich eine wertebasierte Außenpolitik betreiben und darf jetzt nicht das Narrativ verbreiten, dass Syrien sicher ist. Ich befürchte aber, dass dort radikale Gruppen in Kauf genommen werden, um damit hier Politik auf Kosten der geflüchteten Menschen zu machen. Deutschland muss genau hingucken, wie sich die Lage entwickelt. Und entscheiden, welche Gruppen es unterstützt.
Braucht es jetzt nicht zunächst humanitäre Hilfe?
Humanitäre Hilfe ist sehr wichtig, aber dabei darf es nicht bleiben. Ich befürchte, dass wir ein Projekt "Taliban in Syrien" bekommen und dass man dann hier sagt: Wir müssen diese Realität akzeptieren. Aber es geht um die nächsten Jahrzehnte und Syrien darf nicht von einer Gruppe, die ähnlich ist wie die Taliban, regiert werden. Deutschland und die EU dürften eine solche Regierung nicht anerkennen. Aber ich habe derzeit den Eindruck, dass es die Tendenz gibt, die HTS als zukünftige Regierung von Syrien zu akzeptieren. Das Problem ist, dass man jetzt unbedingt das Narrativ verkaufen will, Syrien ist sicher, damit man die Leute hier loswird.
Auf einer Skala von eins bis zehn – wie sehr ekelt Sie diese Debatte an, dass Syrer:innen gehen sollen?
Zehn. Es ist belastend nach zehn Jahren immer noch gespiegelt zu bekommen, dass wir nicht als Menschen mit Lebensgeschichten, Gefühlen, Träumen wahrgenommen werden, sondern eher als Ware, die man von A nach B verschieben kann. Und als ob die Menschen, die sich hier ein Leben aufgebaut haben, einfach so von heute auf morgen darauf verzichten können. Das ist sehr verletzend. Auch im Privatleben bekomme ich diese Frage gestellt: Willst du jetzt nach Syrien? Dann denke ich: Okay, das heißt doch, die Leute haben irgendwie im Hinterkopf, dass ich irgendwann einfach weg bin, obwohl ich hier viele Verbindungen habe. Leider kann man mit diesem Thema viel Politik machen. Gerade in Zeiten des Wahlkampfs.
Aber kann es nicht auch verlockend sein, wieder in die Heimat zurückkehren zu können, wo man sich auskennt und sich nicht dauernd erklären muss?
Ich weiß nicht. Ich frage mich, ob es so einfach ist, dass man tatsächlich in ein Land zurück möchte, wo die eigene Zukunft und Träume zerstört wurden, wo man traumatische Erfahrungen gemacht hat oder wo ein undemokratisches Leben vorherrscht? Außerdem: Viele haben sich hier etwas aufgebaut, was ist dann mit den Kindern? Und was gibt es jetzt in Syrien? Bin ich dort sicher, gibt es stabile Strukturen, Möglichkeiten, mich zu verwirklichen, zu arbeiten ohne Angst? Ich habe das Gefühl, es gibt so eine Zuschreibung von Aufgaben für Menschen, die in der Diaspora leben. Ich bin auf einmal für ein Kollektiv zuständig. Ich bin nicht Monzer, ich werde nicht als Individuum gesehen. Übrigens ist das keine neue Sache in Deutschland, immer diese Fragen gestellt zu bekommen: Wann gehst du zurück? Willst du zurückgehen? Jetzt kommt noch dazu: Warum baust du nicht dein Land auf? Das habe ich sogar gehört, als Assad noch da war. Da kam noch dazu: Willst du deine Heimat nicht verteidigen? Aber wie denn? Auf der Seite von Assad, auf der Seite von Islamisten? Und jetzt soll ich einfach mal dahin gehen, wo Teile des Landes von der Türkei bombardiert werden? Vielleicht sterbe ich da. Warum wird das nicht wahrgenommen? Das ist sehr belastend und traurig.
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Peter Nowak
am 22.12.2024