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Nachdenken wäre schön

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Nicht mal einen Tag lang konnten sich Syrerinnen und Syrer in Deutschland über den Sturz Assads freuen. Noch während sie in vielen Städten auf den Straßen tanzten, begannen deutsche Politiker:innen davon zu reden, dass sie jetzt in ihr Heimatland zurückkehren können, da sei es ja nun sicher.

Besonders hervor tun sich Christdemokrat:innen und Christsoziale. Die CSU-Bundestagsabgeordnete Andrea Lindholz befand gleich am Sonntag, dass nun mal Schluss sein muss mit syrischen Flüchtlingen und fügte noch hinzu: "Wir haben in den letzten Jahren unsere humanitären Verpflichtungen übererfüllt." Eine interessante Überlegung, gerade für Leute aus den Unionsparteien mit dem C im Namen: Ab wann ist Humanität wohl übererfüllt? Aber das ist ein anderes Thema. Der ehemalige CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn regt an, syrischen Geflüchteten 1.000 Euro in die Hand zu drücken und Flugzeuge zu chartern, die sie nach Syrien zurückbringen. Was soll sowas?

Sahra Wagenknecht von der gleichnamigen Partei stößt wenig überraschend ins gleiche Horn. Sie hatte schon im August dieses Jahres im Bundestag erklärt: "Der Krieg ist vorbei, es gibt keinen Grund, generell Menschen aus Syrien in Deutschland zu behalten." Das Grauen in den Gefängnissen des Assad-Regimes war auch da schon bekannt (und in Kontext zu lesen), man musste die Berichte darüber allerdings zur Kenntnis nehmen. Ebenso wenig wie Wagenknecht interessiert sich die AfD für tatsächliche Verhältnisse. Politiker der rechtsextremen Partei hatten in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, Syrien als sicher und Assad als duften Typen hinzustellen, wie das "Zenith-Magazin" in einem lesenswerten Artikel schreibt. Das ist den AfDlern jetzt egal. Parteichefin und Kanzlerkandidatin Alice Weidel verkündet, wer hier den Sturz Assads feiere, solle gefälligst nach Hause gehen. Damit aber das Paradethema der AfD, die Angst, nicht zu kurz kommt, raunt der AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla was von Assad-Anhängern, die nun nach Deutschland fliehen könnten, dann werde alles noch viel schlimmer.

Vor allem ist das alles hochgradig unseriös. Niemand weiß, was in Syrien passieren wird. Gelingt es, einen einigermaßen demokratischen Staat aufzubauen? Wird es rebelleninterne Machtkämpfe geben und wie gehen die aus? Wie weit mischen sich ausländische Mächte wie Russland, Iran, Türkei und Israel ein? Zumindest die beiden letzteren sind schon aktiv. Erdoğan lässt weiterhin die autonomen kurdischen Gebiete in Nord- und Ost-Syrien bombardieren und das israelische Militär beschießt nicht nur Waffendepots in Syrien, sondern rückt mit Bodentruppen auf die Golanhöhen vor. Der UN-Sondergesandte für Syrien hat das bereits als eindeutigen Verstoß gegen das Entflechtungsabkommen zwischen Israel und Syrien von 1974 kritisiert.

Wird Syrien zerrieben? Wird wie in anderen arabischen Ländern nach dem arabischen Frühling eine Diktatur durch die nächste ersetzt? Kann sich der momentan starke Mann Ahmed al-Sharaa, bisher bekannt unter seinem Kampfnamen Mohamed al-Julani, durchsetzen? Hält er sein Versprechen, Minderheiten zu respektieren? Die echten Expertinnen und Experten sagen: Das ist alles schwer einzuschätzen. Abwarten, heißt die Devise.

Es wäre so schön, wenn Politiker:innen trotz Wahlkampfs öfter in sich gehen und nachdenken würden, bevor sie Zeug raushauen. Wie wäre es mit ernsthaften Überlegungen, wie Syrien jetzt sinnvoll geholfen werden kann? Und weniger damit, anderen Menschen vorschreiben zu wollen, wo und wie sie zu leben haben. Soll sich mal jede:r fragen: Wo würde ich lieber leben? In meiner Heimat, in der die Menschen mich verstehen und ich die Chance habe, etwas aufzubauen? Oder in einem fremden Land, in dem sich liberale Gemeinderäte sorgen, weil Geflüchtete sich frei in Stadtbezirken bewegen dürfen? Ist es toll in einem Land, in dem ich nach endlos öder Zeit in einer Flüchtlingsunterkunft jahrelang auf einen klaren Aufenthaltsstatus warten muss und in dem ich, selbst wenn ich Arbeit habe, abgeschoben werden kann?

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2 Kommentare verfügbar

  • Frank Schweizer
    am 12.12.2024
    Antworten
    Vielen Dank für den umsichtigen Artikel. Die Vorschläge von vorwiegend konservativen und rechten Politikern zur überstürzten Abschiebung bedienen nur das eigene Wählerklientel. in der syrischen Diaspora gibt es eine leider unbekannte Zahl von Menschen, die lieber ihr Geburtsland wieder aufbauen,…
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