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"Kompass 4"-Test

Knallharte Auslese

"Kompass 4"-Test: Knallharte Auslese
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Mit Prüfungen für alle Viertklässler:innen wollte die baden-württembergische Landesregierung die zukünftige Grundschulempfehlung "verlässlich und passgenauer" machen. Stattdessen endet der erste Durchlauf im Chaos.

"Kompass 4" heißt der neue Test. Und er hat ein einziges Ziel, das sogar in der Gesetzesnovelle zur Wiedereinführung von G9 in Baden-Württemberg festgeschrieben ist: "Das Gymnasium kann seinen Auftrag, Schülerinnen und Schülern mit entsprechenden Begabungen und Bildungsabsichten eine breite und vertiefte Allgemeinbildung zu vermitteln, nur dann wirkungsvoll erfüllen, wenn der Zugang nicht voraussetzungslos möglich ist, sondern von einem entsprechenden Leistungsvermögen abhängig gemacht wird." Oder wie CDU-Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel schnörkellos formuliert: "Wir brauchen eine klare Steuerung." Und zwar durch ein mehrstufiges Verfahren, das jetzt allerdings Gefahr läuft, zu einem vergleichsweise mitleidlosen Ausleseprozess zu verkommen.

Gerade in der Bildungspolitik geraten Systeme erfahrungsgemäß schnell in Schräglage, wenn zu unbedacht an einer zentralen Stellschraube gedreht wird. Jene beiden Mütter aus Heidelberg, die die Volksinitiative zur Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium durchgezogen haben, wollten die Schulzeit ausdrücklich verlängern, um Druck von Jugendlichen, Familien und Lehrkräften zu nehmen. Die Schulart sollte wieder attraktiver werden, zugleich aber nicht volllaufen. Also musste ein möglichst strenger Rahmen her, um interessierte Kinder in großer Zahl fernzuhalten. Das Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) wurde mit der Ausarbeitung der Tests beauftragt. Und es hat geliefert.

Zwei Minuten Zeit für jede Aufgabe

Zwei 45-Minuten-Prüfungen absolvierten alle Vierklässler:innen in der zweiten Novemberhälfte landesweit einheitlich in Deutsch (hier nachzulesen) und in Mathe. In letzterer bekamen die Kinder ganze elf DIN-A-4-Seiten auf den Tisch, die mitentscheiden über ihren weiteren Lebensweg. 15 Aufgaben, sieben davon in a) und b) geteilt, mithin eigentlich 22 Fragen, im Schnitt hatten die Kinder für jede gut zwei Minuten (hier zum selbst nachrechnen runterzuladen). Und sie mussten vollständig beantwortet sein, um die vorgesehenen Punkte zu erreichen. Eine Teilbewertung dafür, dass die Schüler:innen zwar den richtigen Weg gefunden hatten, aber nicht zum Ende gekommen waren, erfolgte nicht.

So gab es zwei Punkte zum Beispiel nur, wenn neben der Berechnung, ob neun Erwachsene entweder mit Einzelfahrscheinen oder mit dem Gruppenticket die Seilbahn kostengünstiger besteigen, auch eine schriftliche Begründung beigefügt wurde. Oder nur einen einzigen Punkt dafür, aus sechs Zutaten alle Müsli-Möglichkeiten korrekt zusammenzustellen – und immerhin zwei weitere Punkte, um die Bedeutung einer siebenten Zutat für die Zahl der Varianten zu erläutern.

"Zu viele Kinder haben einfach viel zu wenig Zeit gehabt", berichtet eine Stuttgarter Lehrerin, die die Tests mit ihrer Klasse absolviert hat. Die Struktur der Mathe-Aufgaben sei zu weit weg gewesen vom sonst üblichen Arbeiten in dritten und vierten Klassen. In Kollegien wird über die fehlende Vorbereitung debattiert und darüber, dass in Baden-Württembergs Grundschulen die Bildungspläne jeweils für zwei Jahre gelten und dass nicht vor Weihnachten vorausgesetzt werden dürfe, was erst am Ende des Schuljahres erarbeitet sein müsse. Wieder hätten "leistungsstärkere Kinder überproportionale Vorteile", sagt ein Lehrer, "und das ist nicht gerecht".

Frust und Tränen unter Kindern waren die Folge des zweifelhaften Experiments. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat nach vielen negativen Meldungen eine Umfrage unter Lehrkräften gestartet. Die erste Auswertung belegt die mannigfaltigen Probleme. Nach und nach kommt massive Kritik im Kultusministerium an. Aus ersten Krisengesprächen wird erzählt, dass Spitzenbeamte laut werden, wenn Praktiker:innen kritisch vom "Grundschul-Abitur" sprechen, dem das von Theresa Schopper, also grün-geführte Haus alle Neunjährigen künftig aussetze. "Uns erreichen genauso auch Meldungen, wonach die Aufgaben auf adäquatem Niveau und lösbar waren", kontert ein Ministeriumssprecher, "dass sich das etwas zurechtschütteln muss, war klar." Die Aufgaben seien aber streng nach den Bildungsplänen ausgerichtet und "von Praktikern, erfahrenen Lehrkräften und wissenschaftlichen Experten begleitet".

Stramm konservativ und alles andere als grün soll der Elternwille beim Übergang in die weiterführenden Schulen eingeschränkt werden. Die CDU wälzt sogar Überlegungen, die neue Grundschulempfehlung für Realschulen ebenfalls einzuführen. Baden-Württembergs Bildungspolitik verabschiedet sich auf diese Weise in die Vergangenheit. Und bleibt sogar hinter dem Stand jener Erkenntnisse über die Bedeutung der Nahtstelle zwischen vierter und fünfter Klasse zurück, die schon in den Debatten der 1970er- und 1980er-Jahre vertreten wurden.

"Viele Schüler haben regelrecht Angst"

Als eine ihrer ersten Großtaten schaffte die damalige Kultusministerin Marianne Schultz-Hector (CDU), auch um sich deutlich von ihrem Vorgänger, dem Hardliner Gerhard Mayer-Vorfelder, abzusetzen, 1991 die verbindlichen Orientierungsarbeiten ab. Ihre Begründung war die "enorme Belastung", der Kinder, Familien und Lehrkräfte ausgesetzt seien, weil die landeseinheitlichen Arbeiten immer mehr als zentrale Prüfung für den Übergang auf die weiterführenden Schulen empfunden worden seien. "Viele Schüler haben regelrecht Angst", und darauf müsse verantwortungsvolle Schulpolitik reagieren, sagte die erste Frau an der Spitze des Ministeriums überhaupt.

Mehr als drei Jahrzehnte danach gehen wieder Angst und Verunsicherung um. Eltern, die die "Kompass 4"-Ergebnisse und eine sich daraus ergebende Verweigerung der Gymnasialempfehlung nicht akzeptieren, können ihre Sprösslinge demnächst zu einem sogenannten neuen Potenzialtest schicken. Ist der allerdings von ähnlicher Art, können sie es gleich bleiben lassen. Denn wenn die Latte wiederum vorsätzlich besonders hoch gelegt wird, um Interessent:innen vom neuen G9 fernzuhalten, folgt aufs erste Misserfolgserlebnis gleich noch ein zweites. Schöne neue Schulwelt in The Länd. "Gegen jede wissenschaftliche Erkenntnis", sagt die SPD-Bildungsexpertin Katrin Steinhülb-Joos, die selbst Schulleiterin war, "wird harte Kante gezeigt."

Auf dem Rücken der Kinder

Die CDU hat die Grünen in den Verhandlungen zur Wiedereinführung von G9 von der Regel "Zwei aus Drei" überzeugt. Der müssen sich alle Viertklässler:innen unterwerfen, um zur neuen verbindlichen Grundschulempfehlung zu kommen und einen Run aufs Gymnasium zu verhindern. Wenn Klassenlehrkräfte und "Kompass 4" zu einer übereinstimmenden Einschätzung kommen, kann ein Kind aufs Gymnasium, ebenso wenn Eltern und Lehrkräfte oder Eltern und "Kompass 4" einig sind. Spannend wird es erst, wenn Lehrkräfte Kindern gegen den Elternwillen und mit Verweis auf die Mathe- und Deutsch-Tests die Befähigung fürs Gymnasium absprechen.

Niemand weiß für das Schuljahr 2025/2026, in wie vielen Fällen landesweit das passieren wird. Dennoch sind die Schulen bereits aufgefordert, die dann zusätzlichen "Potenzialprüfungen" zu organisieren. Auch für die gibt es noch keine gesetzlichen Grundlagen, fest steht nur, dass sie in der zweiten Februarhälfte stattfinden müssen. Vor "Kompass 4" sind Mütter und Väter übrigens ausdrücklich aufgefordert worden, nicht für die Tests zu üben. "Eine gezielte Vorbereitung ist weder erforderlich noch sinnvoll, da der Leistungsstand Ihres Kindes im Rahmen des Übergangs auf die weiterführende Schulart objektiv ermittelt werden soll", heißt es in einem sogenannten Elternbrief, der im Oktober an alle verschickt wurde. Wenig Phantasie gehört dazu sich vorzustellen, dass dieser Wunsch vielfach ein frommer bleiben muss und Verlage ein neues Geschäftsmodell entwickeln, um Vorbereitungsbeispiele auf den Markt zu bringen. Dann aber werden Potenziale und Erfolgsaussichten eines zu großen Teils der Kinder doch wieder von Portemonnaie und Engagement in den Familien geprägt. Von wegen (O-Ton Manuel Hagel): "Mit den gleichen Startchancen kann jeder alles erreichen, wenn er die Ärmel hochkrempelt und anpackt."  (jhw)

Und das müssen sich die Grünen zurechnen lassen, was zumindest teilweise ungerecht ist. Denn die bornierten Bremser:innen sitzen seit Jahrzehnten vor allem in der Union, die das international so erfolgreiche längere gemeinsame Lernen und Lehren auf Gemeinschaftsschulen bis heute als Teufelszeug diffamiert. Aber: Ministerpräsident Winfried Kretschmann, bekanntlich selbst Lehrer in einer anderen Zeit, und die Seinen wussten 2016 und erst recht 2021, worauf sie sich bildungspolitisch einließen durch die Zusammenarbeit mit diesem Koalitionspartner. Und sie haben nicht gegengehalten, nicht gekämpft für ein integratives und gerechteres Schulsystem. Inzwischen sind Anspruch und Ehrgeiz abhanden gekommen, das bildungspolitisch Richtige und Wichtige zu tun.

Dabei wäre die Übung eine vergleichsweise leichte gewesen, die eigenen Versprechen zu realisieren, als die schwarzen Wahlverlierer so eifrig an den Kabinettstisch drängten. Der Wissensstand der Grünen war jedenfalls längst auf der Höhe der Zeit. "Das gegliederte Schulsystem wird der komplexen Lern- und Lebenssituation von Kindern heute nicht mehr gerecht", stand schon im grünen Wahlprogramm 2011 zu lesen. Es sei "durch soziale Ungerechtigkeit und Sortierwahn geprägt", was für Eltern, Lehrkräfte und SchülerInnen viel Stress und Druck bedeute. Das frühe Aufteilen auf verschiedene Schularten nach der vierten Klasse "erzeugt bei vielen SchülerInnen Versagensängste, entmutigt sie und hat negative Auswirkungen auf ihr Lernverhalten und ihre Lernfreude".

Von dem Geist, der aus diesen Worten spricht, könnte die jetzt mit der CDU erarbeitete Bildungsreform kaum weiter entfernt sein. Mit ihr wird zementiert, dass Schüler:innen mit zehn in Schubladen landen. Die vielbeschworene Durchlässigkeit des baden-württembergischen Systems in späteren Jahren kommt gerade für Kinder mit Migrationshintergrund oder aus komplizierten Familienverhältnissen zu spät. Talente, spätere Fachkräfte, gehen massenhaft verloren. Und alle Versprechen der CDU im Sondierungspapier von 2021 sind längst Makulatur, insbesondere das vom Bestreben, die Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg ins Zentrum zu rücken.

CDU-Landeschef Hagel findet das "super so"

Längst schlägt Hagel ganz andere Töne an: Es müsse aufhören, die Idee der Haupt- oder der Realschule schlechtzureden. Er fabuliert von den Vorzügen des gegliederten Schulsystems und findet, in der Bildungspolitik gehe es nicht um das Gleiche für alle, sondern um das Richtige. "Klar ist, jedes Kind ist anders – jeder Mensch hat unterschiedliche Talente, Fähigkeiten und andere Schwächen und Fehler", zitiert ihn die "Schwäbische Zeitung". Das sei "doch super so". Und er glaubt offensichtlich ernsthaft, dass trotz der insgesamt sechs Schularten ab der fünften Klasse im Südwesten – so viele wie in keinem anderen Bundesland – "mit den gleichen Startchancen, jeder alles erreichen kann, wenn er die Ärmel hochkrempelt und anpackt". Leistungsgedanken und "empathische Ambition" müssten wieder ins Zentrum der Schulpolitik.

GEW: Grundschul-Abi stoppen

"80 Prozent der befragten Lehrkräfte sehen bei den Ergebnissen größere Abweichungen zur eigenen Einschätzung der Schüler*innen", sagt Monika Stein, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Stuttgart. "Ein Großteil der Schüler*innen konnte die Mathematik-Aufgaben in der vorgegebenen Zeit nicht beantworten und zwei Drittel der Lehrer*innen bezeichnet das neue Verfahren als überflüssig und wenig sinnvoll. Frau Schopper, hören Sie auf tausende pädagogische Profis in Ihren Grundschulen, vertrauen Sie in deren Beratungskompetenz und stoppen Sie dieses übereilt eingeführte Verfahren. Wir brauchen kein neues Grundschul-Abi, das Kinder und Eltern mit fragwürdigen Inhalten unnötig unter Druck setzt."

An den 2.323 öffentlichen Grundschulen werden etwa 100.000 Schüler:innen in etwa 5.000 vierten Klassen unterrichtet. 1.131 Lehrer:innen haben an der Umfrage teilgenommen.  (red)

Kollisionen von Politiker:innen mit der Realität können ausgesprochen fruchtbar sein. Womöglich ändert der dreifache Vater seine Definition von "empathischer Ambition", wenn sein Ältester die elf DIN-A-4-Seiten auf den Tisch bekommt und in 45 Minuten bewältigen muss, darunter zum Beispiel die Fertigung eines Balkendiagramms zu den Haustier-Vorlieben der Klasse 4a in der Grundschule "Sonnenschein", wie es in einer Aufgabe heißt. Oder das Verlangen, aus der Zahlenreihenfolge 10, 7, 14, 11, 22, 19, 38, 35, 70 eine Regel abzulesen. Die Antwort: minus 3 mal 2.

Zehntausende Grundschulkinder im Land können aber auf die Korrektur solcher Fehler und erst recht auf Lernprozesse von Spitzenkräften der Koalition ohne bildungspolitisches Detailwissen nicht warten. Zehntausende Grundschulkinder im Land sind gegenwärtig auf das grün-geführte Kultusministerium angewiesen. Das muss sich auf der Zielgeraden zur Wiedereinführung von G9 endlich gegen die CDU durchsetzen – und die Reset-Taste drücken.

Die Lösung der drängendsten Probleme ist vergleichsweise einfach: "Kompass 4" könnte im Schuljahr 2024/2025 noch als freiwillig und unbedeutend für die Grundschulempfehlung eingestuft werden. Schon allein deshalb, weil der rechtliche Rahmen nach heutigem Stande erst Ende Januar 2025 verabschiedet sein wird. Zudem droht eine Klagewelle von widerständigen Eltern mit unabsehbaren Folgen. In der gewonnenen Zeit könnten alle beteiligten Erwachsenen einen Besinnungsaufsatz darüber verfassen, was sie eigentlich wollen: einen Zaun ums Gymnasium ziehen oder Schulpolitik machen nach Betrachten der Wirklichkeit. Und vor allem mit einem Herz für Kinder.

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19 Kommentare verfügbar

  • Mavo
    vor 6 Tagen
    Antworten
    Top, die Wiedereinführung der Grundschulempfehlung war überfällig, ebenso wie G9. Schnelle Umsetzung, ebenfalls top (Fehler können passieren, besser so als Stillstand). Kompass gibt den Lehrern ein Mittel in die Hand, auf einigermaßen neutraler Ebene mit ehrgeizigen Eltern zu diskutieren. Auch…
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