KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Schulpolitik in BW

Bildungsungerechtigkeit von oben

Schulpolitik in BW: Bildungsungerechtigkeit von oben
|

Datum:

Die Landesregierung feiert sich für ihr Bildungspaket. Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) schwärmt von der "größten Reform in der jüngeren Geschichte Baden-Württembergs". Dabei steht noch lange nicht fest, was am Ende wirklich besser wird. Und bisher gar nicht gefragt ist die Meinung von Hauptbetroffenen.

Mit nur acht Worten hatten Grüne und CDU 2021 einen Pflock eingerammt in der traditionell hoch umstrittenen Schulpolitik. "Keine Strukturdebatte", heißt der gute Vorsatz im Koalitionsvertrag, präzise und knapp formuliert wie nur wenige andere Punkte: "Das achtjährige Gymnasium bleibt die Regelform." Gut zwei Jahre und 106.950 Unterschriften später ist der Pflock gefällt und nolens volens damit die Absicht Geschichte, sich Strukturdebatten eine zweite Legislaturperiode lang vom Leib zu halten. Gerade noch rechtzeitig vor Ferienbeginn hat die Ministerin alle Schulen über die für sie relevanten Veränderungen informiert, teilweise ausgelöst durch die Wiedereinführung von G9. Meilenweit bleiben die Maßnahmen vor allem ab der fünften Klasse aber hinter dem zurück, was in Praxis und Wissenschaft als dringend notwendig angeraten wird.

Ein Grund dafür liegt in den vergangenen acht Jahren. Seit die Schwarzen mit in der Landesregierung sitzen, finden ehrliche bildungspolitische Analysen, orientiert an internationalen Erkenntnissen, kaum Gehör. Viel Zeit ist ungenutzt verstrichen. Die CDU gefiel sich darin – kraftvoll unterstützt von der FDP –, schlechtes Abschneiden in Vergleichsstudien vor allem jenen grün-roten Bemühungen anzulasten, die endlich Erkenntnisse aus dem Ausland nach Baden-Württemberg importieren sollten. Denn längst ist bekannt und belegt, dass längeres gemeinsames Lernen und Lehren der Schlüssel zu mehr Bildungsgerechtigkeit ist – eine Einsicht, die Gymnasialeltern und solche, die es werden wollen, aber ziemlich kalt lässt.

Eben erst haben Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen, unterstützt von der Robert-Bosch-Stiftung, ihr Konzept "Neue Sekundarschulen für Baden-Württemberg" vorgelegt. Auf 72 Seiten ist zusammengefasst, wohin die Reise tatsächlich gehen müsste. Die Profis betonen, dass die Rückkehr zum G9 die gesamte Schullandschaft betrifft, und wollen diese Schullandschaft umgestalten. Neben dem neunjährigen Gymnasium soll es nur noch eine zweite Säule geben und so eine bessere, modernere Schule für alle Kinder und Jugendlichen entstehen, statt nur für Gymnasiast:innen. Konkret werden zur Erprobung der Neuen Sekundarschule Pilotstandorte verlangt, schon in fünf Jahren könnte dann diese zweite Säule neben dem Gymnasium ab der fünften Klasse grundsätzlich starten.

Expert:innen werden ignoriert

Wohlbegründet ist zudem eine "gemeinsame Orientierungsstufe in den Klassenstufen fünf und sechs als konstitutiver Bestandteil" der neuen Sekundarstufe vorgeschlagen. Ziel sei, "einerseits ein gelingendes Ankommen an der weiterführenden Schule zu ermöglichen und den Schüler*innen eine soziale Beheimatung zu bieten, andererseits die in der Primarstufe erworbenen Basiskompetenzen auszubauen und zu sichern, um so verlässliche Grundlagen für den weiteren Bildungsweg zu ermöglichen". Sitzen bleiben am Ende der Fünften ist übrigens nicht möglich. Grün-Schwarz geht einen ganz anderen Weg. Eine Zusammenführung aller Schulformen neben dem Gymnasium wird nicht mal angedacht.

An den Realschulen will die Landesregierung außerdem die Orientierungsstufe um ein Jahr verkürzen. Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) führt in den Anlagen, die vor Ferienbeginn an alle Schulen im Land verschickt wurden, den Grund dafür so aus: erstens, weil "dieser Wunsch vielfach von Seiten der Realschulen an uns herangetragen wurde" und zweitens – Schublade auf und hinein mit den Elfjährigen –, weil die "Schülerinnen und Schüler, für die das zum Realschulabschluss führende Niveau eine Überforderung darstellt, bereits ab Klassenstufe sechs zielgerichtet auf den Hauptschulabschluss vorbereitet werden können". Aufstieg durch Bildung kann auf diese Weise nicht gelingen.

Gar kein Gehör finden auch jene Fachleute, die ganz aktuelle Erfahrungen einbringen könnten und müssten. Seit inzwischen drei Jahrzehnten ist der Landesschülerbeirat (LSBR) im Schulgesetz verankert, um "in allgemeinen Fragen des Erziehungs- und Unterrichtswesens die Anliegen der Schüler gegenüber dem Kultusministerium" zu vertreten. Deutlich später übrigens als anderswo und erst auf Drängen der SPD, die zwischen 1992 und 1996 mitregierte. Lange Zeit machten die Schwarzen Stimmung gegen diese sanfte Form der Mitbestimmung, die Schüler-Union bewertete die Arbeit in dem neuen Gremium sogar mehrfach als "dümmlich", "ineffizient" oder "belanglos", verlangte jede finanzielle Unterstützung zu streichen und dem LSBR die demokratische Legitimation zu entziehen. Dabei wird er alle zwei Jahre nach Schularten und Regierungsbezirken neu gewählt und kann laut Gesetz ausdrücklich "Vorschläge und Anregungen unterbreiten".

Hauptsache, dem Gymnasium geht's gut

Gerade gegenwärtig ist an Letzterem kein Mangel, an einem ernsthaften direkten Draht zu Schopper allerdings schon. Der LSBR bewertet die (Wieder-)Einführung des neuen neunjährigen Gymnasiums zwar als Erfüllung einer "langjährigen Forderung". Er dringt zugleich aber auf mehr Mentoring, Berufsorientierung und fächerübergreifendes, praxisorientiertes Lernen. Denn: "Wir erleben Bildungsungerechtigkeit jeden Tag." Die vorgestellte Ausgestaltung der Reformen lege "einen zu starken Fokus auf eine konservative Definition von Leistung".

Im April hat sich der neue LSBR-Vorstand um Joshua Meisel aus dem Regierungsbezirk Freiburg konstituiert. Keine drei Wochen später waltete er seines Amtes und richtete diesen Appell ans Kultusministerium: "Kein Platz für Reformen ohne die Meinung der Schüler:innen." Zugleich vertrat er ein klares Nein zur wieder als verbindlich konzipierten Grundschulempfehlung, denn die sei "unfair und einschränkend". Viel zu viel Wert werde allein auf das Gymnasium gelegt, so der Gymnasiast im Gespräch mit Kontext. Wie die Wissenschaftler:innen verlangt auch die Schüler:innen-Vertretung, deutlich mehr Augenmerk auf die Weiterentwicklung der anderen Schulformen zu legen, etwa auf jene, so Meisel, die viele Jugendliche mit Migrationshintergrund besuchen.

Kaum weniger scharf ist die Kritik an der geplanten Stärkung der Demokratiebildung nicht durch ein eigenes Fach, sondern in Gemeinschaftskunde und Geographie. Wer mehr Demokratiebildung will, sagt der LSBR-Vorsitzende, muss die bisherige Schülermitverantwortung fortentwickeln zur Schülermitbestimmung: "Das wäre ein ehrlicher Ansatz." Dafür wäre Zeit nötig, zum Beispiel Poolstunden, also zusätzliche Stunden, die den Schulen zu ihrer Verfügung zugewiesen werden. Deren Anzahl allerdings könnte im Zuge der laufenden Beratungen für den Doppelhaushalt 2025/2026 noch gestrichen werden. "Kontraproduktiv" nennt das Meisel, denn diese frei verfügbare Zeit diene der Förderung Schwächerer. Und dem Ziel, die Schülermitverantwortung vor Ort zu organisieren.

Abwarten, was noch eingespart wird

Zum weiteren Vorgehen hat sich die Kultusministerin in der ihr eigenen Offenheit zum Start in die Ferien geäußert. Es gebe "Arbeit ohne Ende", sie brauche fast keine Wohnung mehr, sondern "ich könnte mich im Kultusministerium vergraben". Dennoch nimmt die Grüne jetzt erst einmal eine sommerliche Auszeit. Dabei laufen parallel noch Haushaltsvorgespräche. Hier ist bisher unklar, ob geplante Verbesserungen nicht durch Einsparungen beispielsweise bei der individuellen Förderung von Kindern und Jugendlichen ausgeglichen werden. Motto: "Rein in die linke und wieder raus aus der rechten Tasche."

Außerdem hat sich die CDU eine spezielle Forderung ausgedacht: Alle sogenannten untergesetzlichen Regelungen werden nicht vom Ministerium allein verantwortet, sondern müssen auch vom Koalitionspartner konkret mitgetragen werden. Das soll sicherstellen, dass "politische Beschlüsse nicht unterlaufen werden können", heißt es in der Fraktion. In Sonntagsreden kann die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen CDU und Grünen nicht laut genug gepriesen werden, der Alltag von Montag bis Freitag sieht anders aus. Da wird die erste grüne Kultusministerin an die ganz kurze Leine genommen – und sie lässt sich ganz offensichtlich nehmen.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


2 Kommentare verfügbar

  • Wolfgang Kühnel
    am 11.12.2024
    Antworten
    "Vorteile des längeren gemeinsamen Lernens"
    Diejenigen, die für eine 6-jährige Grundschule plädieren, verweisen merkwürdigerweise nie auf den großen Erfolg eben dieser 6-jährigen Grundschule in Berlin, wo sie seit dem 2. Weltkrieg besteht -- deutlich abweichend von den westlichen Bundesländern. …
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!