Auf der Landkarte der großen Musikfestivals ist Scheer vermutlich eher ein Stecknadelkopf. Aber: "Wir haben es auch irgendwie geschafft, nach Scheer zu kommen!", sagt Annette Benjamin. "Nicht so einfach. Aber ich habe schon meine Füße in die Donau gehalten." Annette Benjamin, dies muss man wissen, ist Sängerin. Sie war die Stimme von Hans-A-Plast, einer Punkband aus Hannover, gegründet 1978. Fans hat die Band auch heute noch – zum Beispiel die Musiker:innen Julian Knoth, Max Gruber, Charlotte Brandi und Thomas Götz. Sie sind Annette Benjamins neue Band: die Benjamins. Und Scheer ist ein Ort in Oberschwaben, eine Kleinstadt mit etwa 2.500 Einwohnern, in der 1983, im selben Jahr, in dem das letzte reguläre Hans-A-Plast-Album "Ausradiert" erschien, zum letzten Mal ein Zug hielt. Dort, am Donauufer, steht eine alte Papierfabrik, die längst zum Musikstudio umgebaut wurde. Und dort, beim Klangbad-Festival, geben die Benjamins ihr erstes Konzert überhaupt, am letzten Freitagabend im Juli 2024.
Hans-Joachim Irmler war es, der das Studio in der alten Papiermühle aufbaute. Irmler war Organist der Krautrockband Faust, ist es vielleicht immer noch, wuchs auf in Oberschwaben, zog in den frühen 1970er-Jahren nach Hamburg, erlebte dort allerhand, kehrte Mitte der 1990er-Jahre zurück in die Heimat. Klangbad war zunächst der Name des Labels, auf dem Irmler Musik von Faust und verwandten Gruppen veröffentlichte. Nach 2000 kam das Klangbad-Festival hinzu, auf dem Gelände am Faust-Studio in Scheer. Dort gab es mehrere Bühnen, einen Campingplatz am Donauufer, internationale Bands traten auf, alte und neue, experimentelle, konventionelle, bunt gemischt. Das Publikum versank in Sesseln und lauschte den Krautrocklegenden von Cluster, erlebte Konzerte von Faust, Auftritte von Jaki Liebezeit, dem einstigen Schlagzeuger von Can, tanzte zu La Brassbanda, hörte Mouse on Mars, Bernadette la Hengst, The Nightingales, These New Puritans, Soap & Skin und viele mehr. Dazu Kinderprogramm, Lesungen, Performances. Das Klangbad wuchs zu einem der originellsten Festivals in Deutschland heran, lockte Publikum aus dem Ausland an – und verschwand: Nach sechs Auflagen war Schluss, 2011 fand das Festival zum letzten Mal statt. Lange bevor Corona die Branche in die Krise stürzte, war ein Event, das die Regeln dieser Branche ignorierte, nicht mehr machbar.
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