KONTEXT:Wochenzeitung
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Tendenziell besinnungslos

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Christina Baum fühlt sich fremd in der eigenen Partei. Die AfD-Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Odenwald-Tauber, die zuletzt bei der Vertrauensfrage für Noch-Kanzler Olaf Scholz (SPD) votierte, kündigte ihren Rückzug aus der aktiven Politik an. Zwar meinte sie am 7. Dezember noch im bayerischen Greding, dass genau jetzt ein "alles entscheidender Kulturkampf" laufe, weil die "ungebremste Massenmigration unser Land bis zur Unkenntlichkeit entstellt" habe, Deutschlandhasser die Familie zerstören wollten und sich im Übrigen "fleißige Bürger nicht von Studienabbrechern und Nichtskönnern drangsalieren lassen" würden. Trotzdem hat sie beschlossen, es eben jetzt sein zu lassen – nachdem sie es weder in Baden-Württemberg noch in Bayern auf einen aussichtsreichen Listenplatz zur kommenden Bundestagswahl geschafft hat.

Baum selbst interpretiert ihr Scheitern so: Das Lager um AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel fordere "Anbiederung bis zur Unterwerfung" ein, was sie als Selbstdenkerin aber als absolute Frechheit empfinde. In eine ähnliche Kerbe schlug im Oktober der inzwischen parteilose Ex-AfD-Bundestagsabgeordnete Dirk Spaniel (Wahlkreis Stuttgart I), der ebenfalls keinen aussichtsreichen Listenplatz bekam und daraufhin erklärte, nicht länger bereit zu sein,"parteiinterne Schweinereien" einfach so hinzunehmen.

Sowohl Baum als auch Spaniel galten als Anhänger:innen des rechtsextremen Flügels um Björn Höcke. Ähnlich wie bei der rechtsextremen Jungen Alternative scheint die AfD-Taktik im Wahlkampf darauf hinauszulaufen, die radikalsten Kräfte an der kurzen Leine zu halten. Die etwas pfiffigeren Strateg:innen haben eben schon lange erkannt, dass es im bürgerlichen Lager Sympathien kostet, wenn man zur Unzeit den Arm streckt.

Freches Hinter-die-Fichte-Führen

Vielleicht keinen alles entscheidenden, aber zumindest einen Kulturkampf wittern auch garstige Schwaben, wenn sie sich auf dem Stuttgarter Weihnachtsmarkt besinnen wollen, aber ausgerechnet am 2. Advent von feiernden Syrern gestört werden. Wenn autochthone Kesselbewohner:innen den Sturz des Diktators mit "schön, dass die jetzt wieder in ihren Kulturkreis zurück können!" kommentieren, kommen unserem Kolumnisten Cornelius W. M. Oettle Zweifel, ob Weihnachten wirklich die Zeit der inneren Einkehr und der Reflexion über christliche Werte ist.

Die Scheinheiligkeit ist allgegenwärtig – an einem besonders frechen Hinter-die-Fichte-Führen versucht sich eine von baden-württembergischen Unternehmen initiierte Kampagne: Diese will den Menschen in der Region Stuttgart tatsächlich weismachen, dass es sich beim Bau einer vierspurigen Bundesstraße um ein ökologisch wertvolles Projekt handle. Unter dem Schlagwort "Grüner Tunnel" versucht Kettensägenpatriarch Rüdiger Stihl die seit vielen Jahren auf Eis liegende Schnapsidee vom Stuttgarter Nordostring wachzuküssen. "Helfen Sie bitte mit, dass auch Ihre Freunde, Bekannten und Nachbarn nicht darauf hereinfallen und kein unbedachtes 'Ja' dafür abgeben", appelliert der Umweltschützer Joseph Michl.

Kontroverser Friedenspreis

Einmal im Jahr zeichnet das Stuttgarter Bürgerprojekt Die Anstifter, koordiniert von unserem Kolumnisten Peter Grohmann, "Menschen, Organisationen und Initiativen aus, die sich in besonderer Weise für Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität eingesetzt haben". Zu den Preisträger:innen der vergangenen Jahre zählen die Seebrücke Baden-Württemberg, die Flüchtende im Mittelmeer vor dem Ertrinken bewahrt, der Whistleblower Julian Assange, der US-amerikanische Kriegsverbrechen offengelegt hat, und die Bürgerrechtlerin Maria Kalesnikava, die seit 2020 als politische Gefangene in Belarus inhaftiert ist. 

In diesem Jahr hat die Abstimmung der Anstifter das Recherchenetzwerk "Correctiv" gewonnen, das den mit 5.000 Euro dotierten Preis für den investigativen Bericht "Geheimplan gegen Deutschland" erhalten hat. Darin wird dargelegt, wie Unternehmer, AfDler und Neonazis bei einem Treffen in Potsdam Strategien diskutierten, um "nicht assimilierte" Ausländer loszuwerden. Allerdings ist die prämierte Recherche nicht unumstritten. "Der Correctiv-Bericht verdient nicht Preise, sondern Kritik", hieß es etwa schon am 30. Juli auf dem medienkritischen Portal "Übermedien", wo fundiert dargelegt wird, warum die teilweise suggestiven Darstellungen nicht immer den allerhöchsten journalistischen Standards entsprechen. Eine breite Debatte erfolgte über das Für und Wider des Artikels, unter anderem in der taz, dem "Spiegel", der "Süddeutschen".

Auch in Stuttgart regte sich nun Kritik an der Preisverleihung. Eine Gruppe von Anstifter:innen um Maggie Klingler-Lauer verteilte einen Flyer, auf dem es heißt: "Für uns ist nicht nachvollziehbar, weshalb Correctiv als Kandidat zugelassen wurde, da Correctiv als finanzstarkes Unternehmen (…) nicht den Ansprüchen des Stuttgarter Friedenspreises entspricht." Hinterfragt wird auf dem Flyer, ob "Correctiv" tatsächlich unabhängig, investigativ und transparent arbeitet (Antwort: ja) und wer von der Arbeit der Faktenchecker profitiert (alle, die an Fakten interessiert sind). 

Gelder erhält das Recherchenetzwerk von zahlreichen Stiftungen und auch von der öffentlichen Hand. Allerdings kann man schlecht Geheimniskrämerei unterstellen, da "Correctiv" neben zweifellos investigativen Recherchen jedes Jahr einen umfassenden Bericht veröffentlicht, in dem dargelegt wird, wer wie viel gespendet hat. Nachzulesen hier.

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4 Kommentare verfügbar

  • Die Lerche
    am 19.12.2024
    Antworten
    Der Friedenspreis der Anstifter ist seit längerem in der Kritik. Auch dieses Jahr kam es aus den Reihen der Anstifter zu erheblichen Irritationen an dem Prozedere und zu Kritik an der Vergabe. Das bezieht sich unter anderem auf die Legitimation für diesen Preis. Der diesjährige Preisträger wurde mit…
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