Seit Jahrzehnten ploppt die Diskussion über den Stuttgarter Nordostring immer wieder mal auf. Aktuell verstauben die Straßenpläne ohne greifbare Aussicht auf Realisierung im Bundesverkehrswegeplan. Für Befürworter:innen ist die Tangente zwischen der B27 bei Kornwestheim und der B14 / B29 bei Waiblingen unverzichtbar, um die ganze Region vom alltäglichen Staukollaps zu erlösen. Ein breites Umweltbündnis hält dagegen, dass es gerade in Klimakrisenzeiten gelte, eine der letzten grünen Inseln im ansonsten hochbelasteten Ballungsraum zu bewahren. Die betroffenen Felder und Wiesen seien Erholungsgebiet für Menschen und Lebensraum, für teils bedrohte Tiere und Pflanzen. Fruchtbare Böden sicherten reiche Ernten in der Region. "Der Nordostring ist mausetot", bekräftigt Arge-Vorsitzender Michl.
Die sympathische Kleinfamilie, teils um Hund und Großvater verstärkt, soll das Projekt dagegen wachküssen. Initiator der Werbekampagne ist der Unternehmer Rüdiger Stihl. Schon vor vier Jahren hatte der heute 80-jährige Firmenpatriarch des gleichnamigen Waiblinger Sägenherstellers das Tunnelprojekt öffentlich propagiert (Kontext berichtete ausführlich über Pro und Contra).
In Politik und Kommunen stieß das damals kaum auf Gegenliebe. Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) initiierte zwar einen Faktencheck. In ihm rechnete der Bauingenieur Hans-Peter Kleemann vom Nabu allerdings detailliert vor, dass ein in offener Bauweise erstellter Tunnel aufgrund der riesigen Aushubmengen nicht ökologischer als eine ebenerdige Trasse ist. Ansonsten ergaben sich in der Zwischenzeit keine neuen Erkenntnisse als die bereits bekannten gegensätzlichen Ansichten. Mit Kornwestheim und Fellbach lehnen zudem weiterhin die Städte den Tunnel ab, denen er angeblich die meisten Vorteile bringen würde.
Unternehmen werben mit "Zukunft ohne Stillstand"
Doch diesmal geht Stihl "all in": mit Hilfe Dutzender Unternehmen aus der Region, die die Kampagne gemeinsam finanzieren. Das Budget spiegelt sich wider in der breiten Streuung von Anzeigen (Plakate, Radio, Zeitungen, Internet) sowie in der professionellen Umsetzung. "Gut für uns alle" haben sich Werbetexter als Slogan ausgedacht, das Erscheinungsbild könnte auch zu einem Wahlkampf der Grünen passen.
Die Claims beglücken die Zielgruppen mit gängigen Argumenten. So sei der Tunnel gut für Berufspendler, unter anderem weil "alle schneller ans Ziel kommen". Gut sei er natürlich auch für Anwohner, weil er "für deutliche Entlastung sorgt". Last but not least ist er "gut für unsere Zukunft", und zwar "eine Zukunft ohne Stillstand". Richtig geraten: weil der Tunnel die heimische Industrie und den Standort stärke. Nicht zuletzt sorge dieser angeblich sogar für mehr Grünflächen, weil bestehende Straßen flächensparender geführt werden könnten. Kurzum: "Die beste Lösung für den Nordosten Stuttgarts, die Ökologie und Ökonomie versöhnt".
Ein Versprechen, das an die Lobeshymnen auf Stuttgart 21 erinnert. "Hunderttausende Euro werden dazu missbraucht, eine wichtige politische Entscheidung mit Hilfe bezahlter, fröhlich lachender, attraktiver Menschen und furchtbar plumper Parolen im Interesse weniger Nutznießer zu beeinflussen", kritisiert Michl. Demokratie sei immer auch ein Wettstreit unterschiedlicher Ideen, von denen die besten sich dann hoffentlich durchsetzen. "Hierfür bedarf es jedoch zweierlei: guter, zutreffender Argumente ebenso wie einer ‚Waffengleichheit‘ bei den Mitteln, mit denen für die jeweilige Vorstellung geworben wird", so Michl. "Beides ist hier nicht gegeben."
Wieder mal droht ein Milliarden-Projekt
Ein gewichtiges Contra: die immensen Baukosten. 1,6 Milliarden Euro veranschlagt Stihl selbst fürs große Buddeln. Ein Viertel mehr als noch vor vier Jahren, als er mit 1,2 Milliarden Euro rechnete. Jährlich hat sich das Projekt in dieser Kalkulation somit um 7,5 Prozent verteuert. Schreibt man die Preissteigerung linear bis zum Ende einer angenommenen Planungs- und Bauzeit von 15 Jahren fort, dann wird der Tunnel wohl eher 4,7 Milliarden Euro kosten. Eine Summe, die realistisch erscheint. Der 1,3 Kilometer lange Rosensteintunnel, jüngster Straßentunnel im Zuge des B10-Ausbaus in Stuttgart, wurde bei Projektbeschluss 2009 auf 193,5 Millionen Euro taxiert. Bis zur Fertigstellung im März 2022 stieg die Bausumme auf 456 Millionen Euro – eine Steigerung von 136 Prozent. Der erhoffte Beruhigungseffekt für den Verkehr in der Region blieb ein uneingelöstes Versprechen.
Dessen ungeachtet haben die Werber inzwischen die zweite Kampagnenstufe gezündet. Anders als noch vor vier Jahren, als nur Unternehmen das Projekt unterstützten, soll diesmal der Souverän mit ins Boot. Die Bürger sollen über die unterirdische Ringstraße abstimmen, so der Aufruf. Eine Wahl haben sie dabei nicht: Im entsprechenden Online-Formular lässt sich nur bei "Ja" das Häkchen setzen, was an Scheinwahlen in Autokratien erinnert. Passen Neinsager Tunnelfan Stihl nicht? "Die Möglichkeit, für den "Grünen Tunnel" zu stimmen, diene nicht als Entscheidungsinstrument, sondern als Signal an die Politik, dass breite Unterstützung für das Projekt besteht", teilt ein Sprecher mit. Inzwischen seien "einige tausend Stimmen" eingegangen.
Nach Kontext-Recherchen animieren einige Unterstützerfirmen auch im hauseigenen Intranet zur Abstimmung. Sägenhersteller Stihl wirbt im offiziellen Pressebereich seines Internetportals dafür. "Bitte abstimmen", fordert auch Thomas Fischer, Chef des Ludwigsburger Filterherstellers Mann + Hummel, bei LinkedIn. Dass sich hinter dem Engagement mögliche Interessenskonflikte auftun, erfahren Nutzer des Portals nicht. Die Ludwigsburger Firma produziert Luftfiltersäulen, die an verkehrsbelasteten Straßen gesundheitsgefährdende Feinstaubpartikel aus der Umgebungsluft fischen. Im "Grünen Tunnel" könnten auch sie für saubere Luft sorgen.
5 Kommentare verfügbar
Jupp
am 19.12.2024Absurd ist auf jeden Fall, dass der gesamte Schwerverkehr aus dem Neckartal seit ewig durch Stuttgart fährt. Mit allen Staus und Umweltbelastungen.
Da kämpft man in S-West hier und da…