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Migrationsdebatte

Fremd im eigenen Land

Migrationsdebatte: Fremd im eigenen Land
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Sie fühlen sich wie Deutsche zweiter Klasse: Kontext hat Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft und Zuwanderungsgeschichte gefragt, wie sie die Migrationsdebatte wahrnehmen.

Natürlich "nur im Scherz" wird Rainer Hillebrands Sohn in der Schule als Bombenleger bezeichnet – vom Lehrer. Und seine Ex-Frau mit arabischem Namen hat es bei der Wohnungssuche schwer, während er selbst mit denselben Daten problemlos Zusagen erhält. "Solche Erlebnisse sind leider alltäglich", berichtet Hillebrand. Er ist einer von rund drei Millionen Deutschen mit doppelter Staatsbürgerschaft, aufgewachsen ist er in Südtirol. Zuletzt hat er miterlebt, wie aus dem Kollegen-, aber auch dem Bekannten- und sogar aus dem Freundeskreis immer häufiger unbedachte, ausgrenzende Bemerkungen kommen, die "zunehmend schwerer zu ertragen" seien. Ihm scheint, dass die Hemmschwelle bei vielen sinke, "wohl legitimiert durch Wahlerfolge der AfD und die zunehmende Verrohung öffentlicher Diskussionen. Der Ton wird rauer." 

2001 ist Hillebrand ausgewandert, weil er die Natur in den Alpen zwar sehr schätzte, allerdings "begrenzen die Berge dort auch oft den Horizont im Kopf", wie er sagt. In Deutschland sei er eher zufällig gelandet, aber habe dort eine Familie gegründet, fühle sich hier zu Hause und wohler – "in einer vielfältigen, urbanen Umgebung". Denn mit Grenzlinien auf einer Landkarte, Fahnen und Patriotismus könne er generell wenig anfangen.

Den Prozess der Einbürgerung hat Hillebrand als wenig einladend in Erinnerung. Er selbst sei von den Beamten "zumindest neutral" behandelt worden, aber "das Verhalten gegenüber anderen im Wartebereich war oft beschämend". Seine Ex-Frau ist in Deutschland geboren, aufgewachsen, bestens ausgebildet und integriert, sagt er. "In letzter Zeit äußert sie immer häufiger den Wunsch auszuwandern. Sie fühlt sich hier einfach nicht mehr wohl, unerwünscht, unverstanden und teilweise bedroht. Das belastet die familiäre Situation zusätzlich."Hillebrand ist überzeugt, dass sich die Republik viel verbaut mit der Stimmungsmache gegen Zugewanderte, Eingebürgerte und Staatsbürger, die nicht aussehen, wie sich manche deutsches Aussehen vorstellen: "Das Bewusstsein für den demografischen Wandel sollte eigentlich dazu führen, dringend Menschen ins Land holen zu wollen, anstatt bereits bestens integrierte, hier geborene und aufgewachsene Spitzenarbeitskräfte zu vergraulen." 

Doch setzen in der politischen Debatte gerade viele Akteure lieber auf Ausgrenzung und Verleumdung. "Es geht nicht darum, echte Probleme zu lösen, sondern darum, Tatkraft zu simulieren, Ängste zu schüren und Stimmen zu gewinnen", sagt Hillebrand. Für ihn fällt auch die Forderung von CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, straffälligen Doppelstaatlern den deutschen Pass zu entziehen, in diese Rubrik. Er hat den Eindruck, dass es in öffentlichen Debatten zuletzt viel zu oft darum gegangen sei, Schuldige zu suchen statt echte Lösungen anzubieten. Und nicht nur Hillebrand findet das zunehmend bedrohlich. 

Sie arbeitet hart, zahlt Steuern, wird dämonisiert

Esma D. berichtet, dass sie zwar auch früher immer wieder Rassismus begegnet sei. Aber auch, dass in ihrem Bild von Deutschland Gleichheit, Sicherheit und der Schutz der Menschenrechte stets einen hohen Stellenwert hatten, dass sie immer beeindruckt gewesen ist vom Grundgesetz, das sagt, die Würde des Menschen sei unantastbar. Doch die derzeitige Rhetorik rund um Migration und Abschiebung findet sie sehr alarmierend, "da sie eine bestimmte Gruppe von Menschen in den Augen der Öffentlichkeit dämonisiert, was zur Spaltung der Gesellschaft beiträgt und rassistische Handlungen verstärkt".

D. ist 46 Jahre alt, geboren in Jordanien, lebt seit 20 Jahren in Deutschland und ist Mutter von zwei Kindern. Auch sie hat die doppelte Staatsbürgerschaft, ihre Kinder nur eine, nämlich die deutsche. "Ursprünglich bin ich gekommen, um einen internationalen Master-Abschluss zu machen", berichtet D.: "Ich war einer der ersten internationalen Studenten, die an dem damals neu eingerichteten internationalen Masterstudiengang teilnahmen, der das Ziel verfolgte, die Zahl der gebildeten Arbeitskräfte in Deutschland durch die Gewinnung internationaler Masterstudenten zu erhöhen." Die deutsche Staatsbürgerschaft hat sie erhalten, "nachdem ich mehrere Jahre lang gearbeitet und regelmäßig meine Steuern gezahlt hatte". Die meisten Menschen in ihrem sozialen Umfeld seien Deutsche, aber sie habe auch viele Freunde und Bekannte aus dem Nahen Osten und aus der ganzen Welt. "Für mich wird sich meine Identität immer aus zwei Teilen zusammensetzen."

Bei dem Vorstoß von Friedrich Merz zum Entzug der Staatsbürgerschaft handle es sich laut D. um einen neuen Aspekt der Diskriminierung. "Plötzlich gibt es deutsche Staatsbürger erster Klasse, die volle Rechte, ein faires Verfahren und ein Rechtssystem genießen, wenn sie ein bestimmtes Verbrechen begangen haben, und deutsche Staatsbürger zweiter Klasse, die nicht gleich behandelt werden. Plötzlich werden Rassismus und Diskriminierung normalisiert. Plötzlich ist die Menschenwürde verletzbar." Plötzlich stelle sie sich die Frage: "Hat mich die Gesellschaft jemals als Deutsche betrachtet?" Oder wurde sie immer nur als Bürgerin zweiter Klasse gesehen?

D. ist IT-Produktmanagerin und fragt sich als hart arbeitende und steuerzahlende Migrantin, ob die aktuelle Entwicklung nur den Anfang darstellt. Ob irgendwann vielleicht auch schon geringfügige Straftaten zur Rechtfertigung einer Abschiebung herangezogen werden können. Ob die Entscheidung, wer bleiben darf, vielleicht irgendwann in den Händen einer rechtsextremen Partei liegt, die beschließt, alle Migranten oder migrantisch aussehende Menschen willkürlich abzuschieben. "Was würde das für Doppelbürger bedeuten, deren Kinder nur die deutsche Staatsbürgerschaft haben? Werden die Kinder von ihren Eltern getrennt?" 

Allen Politiker:innen rät Esma D. dazu, vorsichtiger mit Anti-Migranten-Rhetorik umzugehen, immerhin sei Deutschland auf Zuwanderung angewiesen, um "das Land am Laufen zu halten, sei es bei der Müllabfuhr, bei der Reinigung, im Baugewerbe oder im Transportwesen oder bei Jobs im Gesundheits-, Ingenieur-, Finanz- oder Bildungssektor". Da empfiehlt sie, nochmal nachzudenken, was besser werden soll, sollten diese Menschen fehlen und, "was es wirklich bedeuten würde, wenn sich alle Migranten eines Tages dafür entscheiden würden, Deutschland zu verlassen". 

Eigentlich würde er gerne hier bleiben

Akhnaten Nketia will das eigentlich nicht: sein Geburtsland Deutschland verlassen. "Doch der Hass und die Hetze der letzten Jahre haben mich erstmals daran zweifeln lassen, ob ich hier für immer sicher werde leben können", sagt der 23-Jährige. Den Vorschlag, straffällig gewordenen Deutschen mit Migrationshintergrund eine Staatsbürgerschaft zu entziehen, versteht er "als Bekenntnis zu einem ethnisch definierten Staatsbürgertum", eine Unterscheidung zwischen "echten" und Pass-Deutschen. 

Aktuell studiert Nketia Friedens- und Konfliktforschung und er ist Mitglied der Linken. Den migrationsfeindlichen Diskurs findet auch er bedrohlich. "Seit Jahren diffamiert der Unions-Kanzlerkandidat migrantische Männer, man erinnere sich nur an seinen Kommentar über 'kleine Paschas' im Kontext der Silvesternacht 2023." Doch auch der amtierende Kanzler tue "nicht viel, um die offene Migrationsgesellschaft glaubhaft zu verteidigen". Es sei weit verbreitet, "uns Migranten eine Nähe zu Gewaltkriminalität anzudichten" und so zu tun, als ob es diese Probleme ohne Menschen mit Migrationsgeschichte nicht gäbe. Nketia, dessen Mutter einst aus Eritrea geflohen ist, sagt: "Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem der Staat Menschen in Deutsche erster und zweiter Klasse einteilt."

Ihm bangt es vor Merz' Deutschland

Es sei "ein seltsames und schmerzhaftes Gefühl mitanzusehen, wie die Migration das Zentrum der öffentlichen Debatte wird und in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft eine tiefe emotionale Erregung hervorruft", berichtet Monzer Haider. Immer häufiger nehme er sich selbst "als ‚ungewolltes‘ Objekt dieser politischen Auseinandersetzungen wahr". Eine krude Situation: "Ich bin präsent in den Gesprächen und Berichterstattungen, doch meine Stimme bleibt stumm inmitten eines lärmenden, oft verzerrten Diskurses."

Haider floh vor elf Jahren aus Syrien, ist Vorstandsmitglied im Flüchtlingsrat Baden-Württemberg und musste zuletzt immer mal wieder erklären, warum seine alte Heimat auch nach dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad nicht sicher ist. Aktuell, sagt Haider, versuche der Kanzlerkandidat der CDU Stimmen von der AfD zurückzugewinnen: "Nicht etwa mit Lösungen zu Armutsbekämpfung, einer Neugestaltung der Bildungspolitik oder der Sicherung von Renten. Nein, seine Strategie zielt auf eine Verlagerung des Diskurses nach rechts, auf die Inszenierung von Migration als Bedrohung, auf deren Kriminalisierung und auf die Kriminalisierung von Flucht."

Haider, 32, studierte in Tübingen Politikwissenschaften, Philosophie sowie islamische Theologie und Islamwissenschaften. Er verweist darauf, dass geflüchtete Menschen mehr sind als Statistiken und abstrakte Zahlen, aber ihre "menschliche Existenz in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend verkümmert". Dass nun auch noch Friedrich Merz mit seiner Forderung nach Entzug der Staatsbürgerschaft ein rassifiziertes Bild des Deutsch-Seins male, sei ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die dieses Land längst als ihr Zuhause betrachten. 

"Ich möchte nicht zu Merz' Deutschland gehören", sagt Haider: "Ich wünsche mir ein anderes Deutschland, ein Land der Vielfalt, ein Land für alle, in dem niemand sich ständig erklären oder rechtfertigen muss. Ich sehne mich nach einem Deutschland, das meine Heimat bleibt – in den schweren wie in den guten Zeiten. Ein Deutschland, in dem ich nicht von Personen bedroht werde, nur weil ihre Vorfahren in diesem Land geboren wurden."

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1 Kommentar verfügbar

  • Sabine Eise
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Den letzten Absatz von Monzer Haider unterstreiche ich vollständig!!!!
    Aber ich glaube, daß viele Entscheidungsträger ihn überhaupt nicht zur
    Kenntnisse nehmen werden.
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