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Migrationspolitik in der EU

Europa macht sich hässlich

Migrationspolitik in der EU: Europa macht sich hässlich
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In den Niederlanden preist die neue Regierung ihre Asylpolitik als die schärfste aller Zeiten. Die FPÖ im österreichischen Wahlkampf verspricht Pushbacks. Für Frankreichs neuen Premier gibt es im Umgang mit Geflüchteten keine roten Linien mehr. Europas Rechtsnationalist:innen rüsten auf.

Nach der Landtagswahl in Thüringen hat sich zwar noch keine neue Regierung konstituiert, aber unabhängig vom Ausgang der Koalitionsverhandlungen verfügt die CDU über eine deutliche Mehrheit im Bundesrat. Jedenfalls dann, wenn die jeweiligen Koalitionspartner in den Ländern ihre Positionen mittragen, beispielsweise beim Thema Migration. Neue Impulse hierzu kommen gerade aus dem Südwesten.

So hat die baden-württembergische CDU-Landtagsfraktion bei ihrer Klausur zum Start in den politischen Herbst eine Bundesratsinitiative beschlossen, die schnell Kreise ziehen wird. Fraktionschef Manuel Hagel steht – bisher wenig beachtet – auch der bundesweiten CDU/CSU-Fraktionsvorsitzendenkonferenz vor. Er dürfte sich also vergewissert haben, dass andere Länder mitmachen bei der "Erweiterung der sicheren Herkunftsländer, Rückführungen mittels Sammelcharter, Zurückweisungen an der Grenze oder Einreisesperren", wie die Pläne bei der Klausur formuliert wurden. Wenn sich die Bundesregierung dem weiter verweigere, findet Hagel, müssten im Bundesrat Initiativen ergriffen werden, "um weiteren Schaden abzuwenden".

Hagel reiht sich ein in die lange Schlage der Politiker:innen, die Europa hässlich machen wollen. Ein anderer Fraktionschef, Alexander Dobrindt von der CSU im Bundestag, spricht die Entwicklung unverblümt aus, die Deutschland, umgeben von sicheren Drittstaaten, auslösen soll: "Es geht darum, einen Dominoeffekt in Richtung der europäischen Außengrenzen zu erzeugen." Und einen Rat an Bayerns Nachbarn im Osten hat er auch gleich parat: Österreich habe ja seinerseits die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass Asylbewerber "nicht einfach kommen". Gerade die schwarz-grüne Bundesregierung in Wien hat solche Ratschläge gar nicht nötig. Denn das Land nimmt zwar einerseits pro Kopf noch immer mehr Asylbewerber:innen auf als die Bundesrepublik, hat zugleich aber die Zahlen drastisch gesenkt.

Österreich: FPÖ will Mauern und Obergrenze Null

Innenminister Gerhard Karner von Dobrindts Schwesterpartei ÖVP wird gerade vor den Nationalratswahlen am 29. September nicht müde, die Erfolge zu beschwören: Statt Geld gibt es für Flüchtlinge nurmehr Sachleistungen und Abschiebungen sollen "der Schlepper-Mafia zeigen, Österreich ist kein gutes Pflaster". Vor allem wird der Familiennachzug verkompliziert. Ein Instrument, vor dem Fachleute seit langem und auf Basis wissenschaftlicher Studien als Integrationshemmnis warnen. Karner, Vater von drei Kindern, ist darauf dennoch besonders stolz. "2023 hatten wir eine sehr hohe Zahl an Asylanträgen und jetzt wollen die Ehepartnerinnen und Kinder nachkommen", klagt er. Das aber überlaste Schulen und Kindergärten. Also müssten Österreichs Auslandsvertretungen Anträge intensiv prüfen, inklusive DNA-Tests vornehmen, ausdrücklich mit dem Ziel, die Verfahren zu verzögern.

Das ist zwar europarechtlich problematisch, müsste zumindest ernsthaft breit diskutiert werden. An der Tatsache übervoller Kita-Gruppen und Schulklassen ist – wie in vielen anderen europäischen Großstädten – nicht zu rütteln. Komplizierte Abwägungsprozesse wären angemessen, gehen aber gegenwärtig unter im radikalen Popanz, auf den die FPÖ mit ihrem ganz allein auf Parteichef Herbert Kickl abgestimmten Wahlkampf setzt. Die Nationalist:innen haben laut Umfragen beste Chancen, Ende September erstmals stärkste Fraktion im Nationalrat zu werden. Die sich selbst so nennenden Freiheitlichen verheißen den Bau von Mauern und eine Obergrenze Null. Und wenn Kickl, bis zum Ibiza-Skandal im Mai 2019 Innenminister unter Sebastian Kurz (ÖVP), mit juristischen Bedenken konfrontiert wird, dann preist er einen Ausweg an, der inzwischen in CDU und CSU hoffähig geworden ist: die Erklärung des Notstands. Genauso wie die Familiennachzugs-Idee längst Kreise zieht – bis tief in die baden-württembergische FDP.

Würde Dobrindts Ziel von den umfallenden Dominosteinen und den hochgezogenen Zäunen erreicht, wären von Bayern über Österreich zwei Balkanrouten dicht: die im Norden über Ungarn, Rumänien und Bulgarien und etwas weiter südlich über Slowenien und Kroatien. Allerdings offenbarte neulich ein Lokalaugenschein von Amnesty International im kroatischen Bihać, an der EU-Außengrenze zu Bosnien-Herzegowina, dass derzeit die Hotspots des Flüchtlingsandrangs anderswo sein müssen. Im dortigen Lager Lipa sind jedenfalls mehr als tausend Plätze für gestrandete Menschen nicht belegt.

Schweiz: Die rechte SVP erhöht den Druck

Das rückt andere Fluchtrouten und damit die Schweiz in den Fokus. Deren Grenzkontrollen funktionieren, erklärte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) kürzlich. Illegal Einreisende würden aufgegriffen und zugleich der kleine Grenzverkehr, "das selbstverständliche Miteinander im Alltag", kaum beeinträchtigt. Zugleich sehen sich Schweizer Verantwortliche seit Montag zusätzlich unter Druck, obwohl sich zwischen Konstanz und Kreuzlingen, in Rheinfelden oder zwischen Bad Säckingen und Stein durch die seit Montag geltenden Regeln ohnehin nichts geändert hat.

Aber kein Thema eigne sich "für die Rechtspartei so gut, um die Wählerinnen und Wähler bei der Stange zu halten", wie das Thema Asyl, urteilt die "Neue Zürcher Zeitung". Die rechtsgerichtete Schweizer Volkspartei (SVP) versucht, den Druck auf die politische Mitte zu erhöhen, und problematisiert sogar die Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge. Außerdem will sie den Familiennachzug begrenzen, humanitäre Visa abschaffen und ebenfalls Grenzen schließen. "Asylsuchende, die ein sicheres Land durchqueren, sind keine Flüchtlinge", heißt es in einem parlamentarischen Antrag.

Frankreich: Barnier will Sozialleistungen einschränken

Das wiederum träfe vor allem die Rechtsaußen-Regierung in Rom sowie den neuen französischen Premier Michel Barnier, der im Parlament keine Mehrheit hat und unübersehbar heftig rechts blinkt in Richtung der Nationalisten des RN rund um Marine Le Pen. In Paris werden schon drastische Maßnahmen erwogen, darunter, "die EU aufzumischen" und den Schengen-Raum auf jene Mitgliedsländer schrumpfen zu lassen, die ihre Grenzen "insgesamt und effektiv" schützen. Neuer Innenminister könnte mit Frédéric Péchenard ein langjähriger Weggefährte von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy werden. Barnier selbst ist für eine Einschränkung von Sozialleistungen und will die medizinische Versorgung von Asylbewerber:innen auf eine Notfallhilfe beschränken.

Niederlande: bei Ablehnung auf die Straße

Schon deutlich weiter sind die Niederlande. Marjolein Faber, Ministerin für Asyl und Migration von der radikal rechten Partei für die Freiheit (PVV), will "unser Land für Flüchtlinge so unattraktiv wie möglich machen". Dabei liegen die Zahlen in dem 18 Millionen Einwohner:innen zählenden Land seit langem stabil bei etwa 40.000 Asylbewerbern pro Jahr. Die sollen jetzt bei Ablehnung auf die Straße gesetzt werden. Wobei Städten erlaubt bleibt, die Betreuung auf eigene Kosten fortzuführen.

Immerhin, Amsterdam hat angekündigt, genau dies zu tun – und wird dafür von der neuen Rechtsaußen-Regierung scharf kritisiert. Die hat in ihrem eben erst verkündeten Regierungsprogramm die Idee von CDU-Parteichef Friedrich Merz aufgegriffen, einen Notstand zu erklären. Aktiv werden müsste dafür allerdings der niederländische König Willem Alexander. Wie in Deutschland warnen Europarechtler:innen vehement vor einem solchen Schritt. Auch deshalb werden in rechtsnationalen Regierungen in Europa noch ganz andere Ideen ausgebrütet, allen voran die eines Antrags an die EU-Kommission, von der europäischen Asyl- und Migrationspolitik abweichen zu können.

Dänemark: harter Kurs auf Kosten anderer EU-Staaten

Sündenfall seit Jahrzehnten aus Brüsseler Sicht ist Dänemark. Dem kleinen Land wurden beim Beitritt 1973 eine Reihe von Sonderregelungen zugestanden, darunter das Verbot des Häuserkaufs durch Ausländer:innen. Das Gebot der Zusammenarbeit mit der EU gilt nur für Verteidigungspolitik, Justiz und Polizei. Daraus abgeleitet wird das Recht auf eine eigene harte Asylpolitik – auf Kosten anderer EU-Staaten, wie der sozialdemokratische Integrationsminister Kaare Dybvad Bek kürzlich in einem Interview offen und von sich aus eingestand. Die im nächsten Atemzug verbreitete Mär von der Zähmung der Radikalen durch einen eigenen harten Kurs, die er sogar bei einer CSU-Klausur im vergangenen Winter zu verbreiten versuchte, stimmt allerdings nicht: Verteilt auf mehrere Parteien, kommen sie in Dänemeark auf zwischen 16 und 20 Prozent.

Pro-Kopf-Zahlen unterstreichen die Schieflage. Dänemark nahm 2023 pro 100.000 Einwohner:innen 40 Menschen auf, die einen Asylantrag stellten, Frankreich und die Niederlande jeweils 210 und Italien 220. Der EU-Schnitt liegt bei 230. In Bulgarien waren es, Stichwort Balkanroute, 350, in Ungarn Null, in Deutschland 390, in Griechenland 560 und in Österreich 610. Aufschlussreiche Zahlenkolonnen hat auch die Bundesregierung auf Anfrage der Linken vorgelegt, unter anderem zu den gegenwärtig vieldiskutierten Übernahmen von Asylbewerber:innen durch diejenigen Länder, über die sie nach Deutschland eingereist sind.

Überstellungen innerhalb der EU: Riesenaufwand, wenig Erfolg

So wollten im ersten Halbjahr 2024 deutsche Behörden fast 7.000 Geflüchtete zurückschicken ins ohnehin überlastete Griechenland. Tatsächlich überstellt wurden sechs, in Richtung Italien zwei. Für den bürokratischen Riesenaufwand, der auf diese Weise betrieben werden muss, stehen die Zahlen aus Frankreich. Bei fast 2.700 Übernahmeersuchen von Deutschland wurden 474 Asylbewerber:innen nach Frankreich überstellt, umgekehrt aber bei 2.400 Ersuchen aus Frankreich kamen 300 Menschen zurück nach Deutschland. Im zuständigen baden-württembergischen Justizministerium werden Überstellungen unter der Überschrift Abschiebungen erfasst: 2022 wurden fast 4.800 Abschiebungen eingeleitet, nur 1.650 aber erfolgreich zu Ende geführt, 2023 waren es 2.100 von 5.700.

Spanien und Italien: Abschiebungen und Einreisequote

Apropos Abschiebungen: Besonders erfolgreich ist im europäischen Vergleich – nur auf den ersten Blick überraschend – Spanien. Nach den Prognosen von Eurostat wird das Land in mehr als 10.000 Fällen erfolgreich sein im laufenden Jahr. Zugleich öffnet es seine Tore. Auf seiner Afrikareise kürzlich hatte der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez eine aufsehenerregende Ankündigung im Gepäck: die Einführung einer legalen Einreisequote.

Anklage: sechs Jahre Haft für Salvini

Internationale Vereinbarungen könnten durch einen Spruch italienischer Richter:innen auf ein neues Niveau gehoben werden. Angeklagt ist kein Geringerer als Matteo Salvini, stellvertretender italienischer Ministerpräsident und Chef der rechtsnationalistischen Lega, unter anderem wegen Geiselnahme und Pflichtverletzung. Die Staatsanwaltschaft Palermo hat Ende vergangener Woche eine sechsjährige Haft gefordert und argumentiert damit, dass ein "unumstößlicher Grundsatz des internationalen Rechts" sei, Menschen in Seenot – selbst Schlepper und erst recht Flüchtlinge – gerettet und so rasch wie möglich in einen sicheren Hafen gebracht werden müssen. Salvini hatte 2019 das Anlegen des NGO-Schiffes "Open Arms" in Lampedusa verhindert und pochte auf sein Amt als Innenminister. Durch das sei ihm die Pflicht aufgetragen, den Schutz der Grenzen Italiens durchzusetzen. Dieses Argument, so die Staatsanwaltschaft in Abwesenheit des Angeklagten, verfange nicht, weil das "übergeordnete internationale Rechtsgebot" gelte. Salvini selbst sieht sich laut einer Einlassung auf der Online-Plattform X als Opfer eines politisch motivierten Verfahrens. Und seine Chefin Giorgia Meloni hält ohnehin zu ihrem Vize: "Es ist unfassbar, dass ein Minister sechs Jahre Gefängnis riskiert, weil er seine Aufgabe erledigt und die Grenzen unseres Landes verteidigt hat."  (jhw)

Mit einer solchen operiert auch – ausgerechnet –Postfaschistin Giorgia Meloni. Sie hat, außerhalb Italiens bisher wenig beachtet, per Dekret die Einreise von 452.000 Ausländer:innen "für saisonale und nichtsaisonale Hilfsarbeit und für Selbstständige" ermöglicht, verteilt auf drei Jahre: 136.000 waren es 2023, 151.000 sind in diesem Jahr möglich und 165.000 im Jahr 2025.

In Deutschland haben die Grünen im Bundesrat, unabhängig von der Regierungsbildung in Thüringen und Sachsen, Zugriff auf 34 Stimmen – immer unterstellt, die jeweiligen Partner:innen in den Landesregierungen ziehen mit. Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Kretschmann wird beim Thema Migrationsbegrenzung nicht müde, auf die Notwendigkeit breiterer Einwanderungskorridore zu verweisen. Zum Wohle des Landes und zum Wohle von Menschen, die nach einem besseren Leben streben. Als er sich entschied, eine dritte Amtszeit anzustreben, erklärte er das auch mit seiner Absicht, in komplizierten Zeiten unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, denn Deutschland braucht Einwanderung. Im April hat Baden-Württemberg die Initiative "FachkräfteLÄND" gestartet, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Es gibt keinen vernünftigen Grund, die Initiative nicht auf Flüchtlinge mit Bleibeperspektiven auszuweiten. Am besten als grün-schwarze Vorreiter bundesweit.

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3 Kommentare verfügbar

  • Bedenkenträger
    vor 3 Wochen
    Antworten
    In der "Zeit" vom 19. September beschäftigt sich die Journalistin Mariam Lau mit diesem Thema.
    Ihr Vater war Flüchtling aus dem Iran. Sie führt unter anderem aus:" Aber die Wahrheit ist,
    politisch Verfolgte wie mein alter Herr, für die das deutsche Asylrecht einmal gemacht war,
    bilden den…
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