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Debatte über Flucht und Migration

Hysteriespirale

Debatte über Flucht und Migration: Hysteriespirale
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Rund 120 Millionen Menschen sind nach den Zahlen des UNHCR weltweit auf der Flucht. In Deutschland, dem drittreichsten Land der Welt, leben weniger als drei Millionen Geflüchtete. Pro Kopf liegt der Anteil knapp über dem Durchschnitt aller EU-Länder. Und trotzdem wollen die Unionsparteien den "Notstand" ausrufen.

CDU-Chef Friedrich Merz kennt keine Hemmungen, die Bundesregierung immer weiter vor sich her zu treiben: mit faktenfernen Argumenten, mit Ultimaten und unerfüllbaren Forderungen. Allein logistisch ist es unvorstellbar, alle Menschen, die aus Nachbarländern mit der Bitte um Asyl nach Deutschland einreisen, an den Grenzen abzuweisen. Von allen (europa-)rechtlichen Fragen abgesehen, wäre dies von der Bundespolizei gar nicht zu leisten. Außerdem hat die österreichische Bundesregierung, geführt von der bürgerlichen ÖVP – Christ:innen unter sich –, bereits angekündigt, solche Personen nicht nur nicht zurückzunehmen, sondern im Niemandsland stranden zu lassen. In Österreich wird am 29. September ein neues Parlament gewählt.

Auslöser der Hysteriespirale, an der CDU und CSU ungeniert und auch mit Blick auf die Landtagswahl in Brandenburg am 22. September immer weiter drehen, ist das Messerattentat von Solingen mit drei Toten – und dabei wohl vor allem die Herkunft des mutmaßlichen Täters: Er war aus Syrien geflüchtet. Anja Bartel, Leiterin der Geschäftsstelle des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg, kritisiert, wie inakzeptable Einzelfälle, aber eben Einzelfälle, zur Grundlage für Entscheidungen werden, die Geflüchtete grundsätzlich treffen. Als Beispiel dienen der Politologin ein Bäcker, der seine Ehefrau ermordet, ein zweiter, der aggressiv gegen seine Familie wurde, und noch ein dritter Missetäter aus diesem Berufsstand – und schon würden bundesweit Einschränkungen gegen Bäcker verhängt: "Niemand würde dem zustimmen, für Flüchtlinge aber ist das längst Alltag."

Gilda Sahebi, im Iran geborene deutsche Ärztin und Autorin, geht noch weiter. Sie beklagt seit Langem, wie auf komplexe Sachverhalte nicht mehr mit komplexer Argumentation reagiert wird: In den Geisteswissenschaften gibt es den Begriff des Meisternarrativs für herrschende Erzählungen. Übersetzt: Es muss nur lange genug eine Überforderung durch Flüchtlinge beklagt werden, und schon sind immer mehr Menschen der Meinung, dass es diese Überforderung tatsächlich gibt.

Zündeln hat Tradition in der CDU

Merz jedenfalls hämmert dem Publikum ein, dass das Dublin-Übereinkommen wieder eingehalten werden müsse. Dabei ist der Vertrag, laut dem derjenige EU-Staat für ein Asylverfahren zuständig ist, in den ein Asylbewerber zuerst eingereist ist, seit 1990 zwei Mal fortgeschrieben worden mit den römischen Ziffern II und III. Und seit April 2024 ist das Übereinkommen aufgrund des EU-Asylkompromisses Geschichte. Das wollen CDU und CSU aber partout nicht wahrhaben, im anhaltenden Bestreben, die Ampelkoalition in Bedrängnis zu bringen. Dabei ist ein umfangreiches neues EU-Regelwerk endgültig verabschiedet. Alle Mitgliedsländer haben zwei Jahre Zeit, es umzusetzen. Für Deutschland sind laut Bundesinnenministerium die notwendigen Schritte bereits eingeleitet.

Flüchtlingshilfsorganisationen beklagen die "Erosion rechtsstaatlicher Standards in der EU". Und Helfer:innen von "Pro Asyl" oder in den Flüchtlingsräten erinnern daran, dass laut dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR fast 70 Prozent der Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, in Nachbarländern untergebracht sind. Und dass 75 Prozent weltweit in Ländern mit niedrigeren und mittleren Einkommen leben. Als Asylbewer:innen führt der UNHCR knapp sieben Millionen Menschen. Beate Gminder, Leiterin der Generaldirektion Migration und Inneres, wirbt seit Langem und immer wieder sogar auf Einladung der CDU/CSU im Bundestag dafür, wenigstens die Inhalte zur Kenntnis zu nehmen.

Denn vereinbart sind im Rahmen des "Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS)" wesentliche Einzelheiten zu Rückführungsabkommen oder Grenzkontrollen. Und sie ruft dazu auf, den weitreichenden Maßnahmen die notwendige Zeit zu geben, um ihre Wirkung zu entfalten. Etwa der EU-Datenbank für Fingerabdrücke, die ausgeweitet wird, um den Weg von Asylsuchenden und Migrant:innen in der gesamten EU besser zu überwachen. Oder dem neuen Verfahren, bereits an den Außengrenzen festzustellen, ob Anträge unbegründet sind oder unzulässig.

Natürlich sind Merz solche Details und alle rechtlichen Hürden bekannt. Aber mit Halbwahrheiten zündeln hat eben Tradition in der Union und das humanitäre Versagen viele Namen. Vor vier Jahrzehnten hatte sich die EU auf den Weg zur Freizügigkeit und der Aufhebung von Binnenmarktgrenzen gemacht. Ebenso lange stellen CDU und CSU die Innenminister – mit der Ausnahme von Otto Schily von 1998 bis 2005 und gegenwärtig seit 2021 Nancy Faeser (beide SPD). Nachdem das erste Dublin-Übereinkommen verabschiedet worden war, richtete sich die Bundesrepublik bequem und unsolidarisch ein in der Mitte Europas, umgeben von den derzeit oft bemühten angeblich sicheren Drittstaaten.

"Angst ist ein hinterhältiger Dämon"

Selbst als im Oktober 2011 vor Lampedusa rund 300 Menschen ertranken und Italien dringend um Hilfe bat, verweigerte der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) jede Veränderung des Verteilungssystems Asylsuchender mit dem Hinweis auf geltendes Recht. Operiert wurde in den Unionsparteien vornehmlich mit den absoluten Aufnahmezahlen, die bei über 80 Millionen Einwohner:innen in Deutschland gar nicht anders als hoch sein konnten im Vergleich etwa zu Malta mit 500.000 Einwohner:innen. In der Pro-Kopf-Statistik allerdings hatte die Bundesrepublik hingegen über sehr viele Jahre einen Platz knapp über dem EU-Durchschnitt gepachtet.

Zur Horrorvision verzerrt

Als die FDP 1982 die sozialliberale Koalition im Bund aufkündigte, trat FDP-Innenminister Gerhart Baum demonstrativ zurück. Das Ende seiner Ära läutete "eine zu Horrorvisionen verzerrte Asyldiskussion" ein. Aus einem "Wettlauf um Integrationskonzepte" sei ein "Wettlauf um eine Begrenzungspolitik" geworden, schrieb der langjährige SDR-/SWR-Journalist und Migrationsexperte Karl-Heinz Meier-Braun schon 1988. Auch die Folgen dieser Entwicklung wurden analysiert. "Bundesweit wie ein Schock wirkten die zwar schon in einer längeren Trendlinie stehenden, aber in ihren Größenordnungen doch überraschenden Wahlerfolge rechtsradikaler Parteien, etwa in Berlin", stellte die Friedrich-Ebert-Stiftung fest, nachdem die "Republikaner" im Januar 1989 mit 7,5 Prozent ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen waren. Für ihren Wahlkampf hatten sie einen mit Ennio Morricones Filmmusik zu "Spiel mir das Lied von Tod" unterlegten Spot produziert, der türkische Einwanderer zeigte und große Empörung hervorrief, aber nicht dazu führte, dass die Union auf ausländer- und fremdenfeindliche Parolen verzichtet.  (jhw)

Über all die Jahre galt es in der öffentlichen Debatte, die eigene Minderleistung zu verschleiern. Thomas de Maizière (CDU), der vor und nach Friedrich Innenminister war, verantwortete Personalabbau beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und damit das Auflaufen eines immensen Antragsstaus. Union und FDP reagierten darauf unter anderem mit der Aussetzung des Familiennachzugs. Während der Koalitions-Sondierungen nach der Bundestagswahl im Herbst 2017 appellierte der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg in einem Offenen Brief, die Realitäten anzuerkennen: "Weltweit sind circa 65 Millionen Menschen auf der Flucht, und wir können als Europa nicht so tun, als würde uns das nichts angehen."

Unionspolitiker:innen können aber sehr wohl so tun, und inzwischen tun Rote, Grüne und Liberale es ihnen nach. Ein einsamer Mahner mit inzwischen 91 Jahren ist Gerhart Baum (FDP), vor einem halben Jahrhundert war er in Bonn Innenminister. Nach dem Messerattentat von Solingen warnte er davor, dass die Vernunft auf der Strecke bleibt: "Angst ist unterwegs, und die ist ein hinterhältiger Dämon in einer freien Gesellschaft", erklärte Baum in einem "Zeit"-Interview. Das Gefühl sei verbreitet, "dass diejenigen, die uns regieren, versagen, was aber nur zum Teil richtig ist, weil von ihnen viel erwartet wird in einer Zeit, in der sich die Krisen häufen". Vieles gelinge, aber das dringe nicht durch.

Manches dagegen sofort: Die AfD hat am vergangenen Wochenende ein Positionspapier verabschiedet, das Grenzschutz durch das Hochziehen von Zäunen vorsieht. "Nein", sagt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in der ARD auf die Frage, ob er sich derartige Bauten vorstellen kann. Das ist wenig glaubwürdig, angesichts der viele AfD-Forderungen, die längst zum flüchtlings- und migrationspolitischen Repertoire der Unionsparteien gehören. Für Anja Bartel ist der Zaun in viel zu vielen Köpfen ohnehin längst vorhanden und nur noch nicht "materialisiert". Humanität sei längst auf der Strecke geblieben.

Und zugleich ist das Ende der Entwicklung noch sehr lange nicht erreicht, jedenfalls wenn die Hardliner:innen immer weiter die öffentliche Debatte bestimmen: Ungarns Vize-Innenminister Bence Rétvári hat am Montag mehrere Reisebusse präsentiert mit der Aufschrift "Röszke – Brüssel" und dem Ziel, Flüchtlinge von der serbischen Außengrenze direkt in die belgische Hauptstadt zu bringen. Auf diese Weise will Ungarns nationalistische Regierung, die gerade die EU-Ratspräsidentschaft innehat, auf eine Strafe in Höhe von bisher 200 Millionen Euro reagieren. Die hat der Europäische Gerichtshof gegen das Land verhängt, wegen des Umgangs mit Asylbeweber:innen und damit einem "beispiellosen und außergewöhnlich schweren Verstoß gegen EU-Recht". Die Brüsseler Verantwortlichen zeigen sich unbeeindruckt. Wenn Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán die Zahlung weiter verweigert, wird die Tag für Tag steigende Summe einbehalten und mit Förderungen gegengerechnet. Vielleicht ein Fingerzeig an alle Krawallmacher:innen europaweit.

Union fühlt sich getäuscht

Das war es vorerst also: Ampel und Unionspartei kommen nicht zusammen in der Frage eines neuen verschärften deutschen Außengrenzregimes. Umfassende Zurückweisungen aller Migranten werde es nicht geben, beklagte der CDU-Unterhändler Thorsten Frei nach dem Gespräch mit der Ampel-Regierung am gestrigen Dienstag im Bundesinnenministerium. Man fühle sich getäuscht, hieß es danach, und dass "über dieses Klein-Klein" nicht weiter geredet werden müsse. Ohne Gespräche, vor allem mit Verantwortlichen oder Parteifreund:innen in Wien, Prag oder Warschau, werden allerdings auch die Unionspolitiker:innen ihre Vorstellungen nicht weiter verfolgen können. Denn unstrittig ist, dass CDU und CSU die immer neuen Forderungen mit den Nachbarn nicht abgesprochen haben. „Ich bin sicher, das löst sich von selber“, gab sich Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) am Sonntag noch naiv, als er auf die Tatsache aufmerksam wurde, dass Österreich eine Zurückweisung von Flüchtlingen nicht akzeptiert.

Dabei ist die Rechtslage ausgesprochen diffizil. Gerald Knaus, renommierter Migrationsexperte, warnt seit langem davor, „zynische Politik“ als Antwort auf Rechtspopulist:innen misszuverstehen. Politiker:innen hören auf den gebürtigen Salzburger vor allem dann, wenn er ihre eigenen Positionen stützt. Diesmal findet er deutliche Worte an die Adresse der Hardliner:innen. Denn die Unions-Pläne seien nur umsetzbar mit dem Bau eines Zauns, der Sperrung der Grenzübergänge oder der Abschaffung von Schengen. Außerdem macht Knaus deutlich, dass nach der bisherigen Logik auch Österreich, Tschechien oder die Schweiz nicht für die Asylbeweber:innen verantwortlich sind, weil die über den Balkan, Italien oder Griechenland in die EU gekommen sind und dann dorthin zurückgebracht werden müssten. Und er traut sich im N-tv-Interview noch eine Prognose zu: „Die Leute, die nach Deutschland wollen, die haben schon vier oder fünf international bewachte Grenzen überwunden.“ Sie würden sich nicht abhalten lassen. Allein zwischen Salzburg und Passau ist die bayerisch-österreichische Grenze übrigens mehr als doppelt so lange wie jene zwischen Deutschland und Dänemark, die als Vorbild für gelingenden Grenzschutz herhalten muss.

Öl ins Feuer gießt zudem auch noch die Polizei. Manuel Ostermann, der stellvertretende Vorsitzende der Bundespolizeigewerkschaft, wirft den Anrainerstaaten vor, bisher das Modell "Augen zu und alle nach Deutschland" gar "vollumfänglich" gefahren zu haben. Das wird vor allem Österreich freuen, wo über Jahre pro Kopf viel mehr Flüchtlinge als in Deutschland aufgenommen worden sind. Von der überproportional großen Hilfsbereitschaft in Polen gegenüber Menschen aus der Ukraine ganz zu schweigen.  (jhw)


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6 Kommentare verfügbar

  • Oktarine
    am 17.09.2024
    Antworten
    Wer ehrlich ist, weiß, dass das BIP eines Landes sehr wenig über die Verteilung sagt. Dies ist ein reiches Land, eines, in dem 40 % der Haushalte keine Rücklagen haben, das den größten Niedriglohnsektor in der EU hat. Eines mit 600 000 Wohnungslosen, 50 000 auf der Straße.
    https://taz.de/Aktionspla…
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