Es sind Worte wie aus einer anderen Welt: Der Umgang mit Geflüchteten tauge in Stuttgart nicht als Wahlkampfthema, berichtete die "Stuttgarter Zeitung" vor einem Jahrzehnt, als Kommunalwahlen anstanden. Das städtische Handeln sei bei diesem Thema "von einem breiten Konsens der Ratsfraktionen getragen, auch als es zuletzt um den Neubau von Unterkünften für die wachsende Zahl von Flüchtlingen ging", hieß es damals. Und Autor Mathias Bury bilanzierte: "Diese Einmütigkeit ist ein wichtiger Grund für die Erfolge auf diesem Politikfeld."
Tatsächlich gab es im Rathaus einmal eine parteien- und ideologieübergreifende Zusammenarbeit, wenn es darum ging, schutzsuchenden Menschen eine Zuflucht zu bieten. Doch der breite Konsens ist inzwischen aufgekündigt. Die AfD hat ihn nie mitgetragen, seitdem sie 2014 erstmals in den Gemeinderat der Landeshauptstadt eingezogen ist. Das blieb jedoch lange die Außenseiterposition. Trotz der immensen Herausforderungen, die sich durch die 2015 und 2016 extrem angestiegene Zahl von Menschen ergeben hatten, die in Deutschland Asyl suchten, war für die demokratischen Parteien im Stuttgarter Rathaus klar: Die humanitäre Verpflichtung zu helfen steht nicht zur Debatte. Oder in den Worten der Stuttgarter CDU: Wer "in der Heimat etwas Schlimmes erlebt" habe, verdiene es, "hierzulande Schutz zu finden und ein menschenwürdiges Leben führen zu können". Die Partei unterstützte daher "nachdrücklich die rasche Erstellung von Flüchtlingsunterkünften".
Diese war auch nötig. Nach 2013 hat sich die Anzahl von Geflüchteten in Stuttgart in nur drei Jahren mehr als verzehnfacht, von 800 Menschen auf 8.200 im Jahr 2016. Zwischenzeitlich ist viel Schulsport ausgefallen, weil aus Turnhallen Notunterkünfte wurden. Neben diesen Improvisationslösungen in kürzester Zeit setzte die Stadt zudem mittelfristig auf sogenannte Systembauten. Diese haben den Vorzug, dass sie schnell genehmigt und gebaut werden können – und den Nachteil, dass ihre Lebensdauer auf zehn Jahre angelegt und befristet ist. Ohne Verlängerung der Nutzungsdauer müssen sie abgerissen werden. Die Deadline rückt näher.
Nach Auskunft der Stadtverwaltung verfügen die 24 Systembauten in Stuttgart über 3.700 Unterbringungsplätze. Diese werden voraussichtlich bis Ende 2026 größtenteils verschwunden sein. Eine verwaltungsinterne Prüfung läuft, ob die Genehmigungsfristen im Einzelfall verlängert werden können. Nach Kontext-Informationen wird das jedoch bei mindestens 15 der Systembauten als aussichtslos eingeschätzt. Parallel dazu fallen weitere Unterkünfte weg. Ohne Gegenmaßnahmen reduzieren sich die Unterbringungskapazitäten in den nächsten sieben Jahren um 69 Prozent. Das geht aus einem Bericht der Stadtverwaltung hervor, über den der Ausschuss für Wirtschaft und Wohnen im vergangenen Oktober diskutierte. Laut Sozialbürgermeisterin Alexandra Sußmann (Grüne), die dem Gremium vorsitzt, sei beim Thema Flüchtlingsunterbringung ein "Stimmungswandel in der Bevölkerung" festzustellen, die Herausforderungen seien groß. Nichtsdestotrotz stehe die Verwaltung "zur gesetzlichen Aufgabe und der humanitären Verpflichtung, nach Stuttgart kommende geflüchtete Menschen gut aufzunehmen und unterzubringen".
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Hans Steitz
am 07.07.2024