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Koalitionsvertrag und Migration

Wir haben Platz

Koalitionsvertrag und Migration: Wir haben Platz
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Rund 16.000 Flüchtlinge wird Baden-Württemberg nach offiziellen Angaben aus dem Justizministerium 2021 aufgenommen haben. Diese Zahl reicht aus, um alte Reflexe zu reaktivieren. In der Partei mit dem stolzen C im Namen wird sogar laut über Grenzschließungen nachgedacht.

Dafür reicht Mathe auf Grundschulniveau: In jeder der 1101 baden-württembergischen Gemeinden müsste im laufenden Jahr Platz geschaffen werden für rein rechnerisch eineinhalb Menschen. Im vergangenen Jahr war es eineR, im nächsten sind es vielleicht zwei oder drei. Und die Verantwortlichen in dem Land, das sich gerade mit einer Abwerbekampagne weltweit hübsch macht "im Kampf um die besten Köpfe" (O-Ton Winfried Kretschmann), weil bis zu 60.000 Fachkräfte fehlen, singen allen Ernstes das böse Lied von der Überforderung – nach der Melodie, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, obwohl davon gar keine Rede sein kann.

Das hat viele traurige Gründe – allen voran den, dass Europa sich zur Festung umbaut und Regierungen verschiedenster Couleur sich Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe abtrainiert haben. Die laut UNHCR seit 2015 mehr als 20.000 Toten im Mittelmeer (bei einer weitaus höheren Dunkelziffer), die Menschen, die irgendwo an den inzwischen rund tausend Kilometer langen Grenzanlagen von Ungarn bis Griechenland strandeten – sie alle drohen über der Tragödie in den Wäldern zwischen Polen und Belarus in Vergessenheit zu geraten. Oder über das vergangene Woche im Ärmelkanal gesunkene Schlauchboot, unterwegs zwischen zwei Staaten, die sich für Kulturnationen halten und Menschen doch behandeln wie Tiere.

Zum Auftakt der heute beginnenden 215. Innenministerkonferenz von Bund und Ländern in der Landeshauptstadt will das Stuttgarter Aktionsbündnis für Menschenrechte und Flucht (SAMFT), dem unter anderem die Seebrücke Stuttgart, Amnesty International und der Flüchtlingsrat BW angehören, zur "Empfangsgala vor leeren Rängen" laden. 400 Stühle stehen dabei sinnbildlich für den Platz, den es zwar gibt, der aber ungenutzt bleibt, weil die Weichen falsch gestellt sind, weil Egoismus und Gleichgültigkeit vorherrschen. "Unerträglich" nennt es Jonas Gutknecht von der Seebrücke Stuttgart, "dass Tausende Menschen vor den Toren Europas Leid erfahren müssen, das wir uns kaum vorstellen können. Das Schlimme ist, dass diese Menschen in unserer Gesellschaft nicht gehört werden und so viele wegschauen, wenn europäische PolitikerInnen Machtspielchen auf den Rücken Geflüchteter austragen".

CDU würde Polizei schicken

Es ist wahr, dass der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko die EU erpressen will, indem er Menschen mit falschen Versprechungen an die polnische Grenze bringen lässt. Die "hybride Kriegsführung" (CDU-Fraktionschef Manuel Hagel) funktioniert aber nur, weil sich die EU erpressbar gemacht hat. Anstatt sich hinter den Luxemburger Außenminister Jean Asselborn zu stellen, der seit Wochen für ein Umdenken wirbt, überbieten sich gerade christdemokratische Politiker in ihrer Abschottungsrhetorik. Oder sie versuchen in ihrer Anhängerschaft mit verquerer Argumentation zu punkten.

"Wir sehen derzeit ohne Frage eine menschliche Tragödie an der EU- Außengrenze zwischen Belarus und Polen", sagt der CDU-Aufsteiger Hagel. Stimmt. "Da wurden Menschen als politisches Druckmittel missbraucht." Stimmt auch noch, ebenso wie die Forderung, dass nicht weggeschaut werden darf. Drei Mal Richtigliegen schützt aber nicht davor, falsche Konsequenzen daraus zu ziehen. "Zelten, Decken und alles, was dazugehört" schicken, rät er, und notfalls "Landespolizisten, um Solidarität mit unserem EU-Partner Polen zu üben, trotz aller Differenzen, die wir mit der polnischen Regierung derzeit haben". Am ersten Adventsonntag hat bei Hagels daheim natürlich die erste Kerze auf dem Kranz gebrannt, und abends hat er per Facebook "allen Jüdinnen und Juden ein fröhliches Chanukka" gewünscht, jenes Fest, das vor allem im Zeichen der Familie steht. An der polnisch-belarussischen Grenze sind bereits Menschen gestorben.

Marion Gentges, CDU, hat aber ganz andere Sorgen, gerade wegen jener 2.900 Flüchtlinge, die allein im Oktober ins Land kamen. Pandemiebedingt werden die Plätze in den Erstaufnahmeeinrichtungen knapp, berichtet die neue Justizministerin, die in der grün-schwarzen Landesregierung für das Thema Migration zuständig ist. Ihr Parteifreund Frank Schroft ist Bürgermeister von Meßstetten auf der Schwäbischen Alb und wirbt im Netz dafür, dass seine 10.500-Einwohner zählende Gemeinde "von hoher Lebensqualität immer eine Reise wert ist, auch, um hier 'Fuß zu fassen' – zum Wohnen, zum Leben, zum Arbeiten". Drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt steht die frühere Erstaufnahme für Flüchtlinge in einer alten Kaserne leer, ganz leer, seit sie 2017 geschlossen wurde.

Alle Ansiedlungspläne in der Folge haben sich zerschlagen, keine Polizeischule, kein Industriepark wurde eingerichtet. Also wäre da eine schnell zu revitalisierende Unterkunft. Die Stadt könnte helfen, der Gemeinderat will aber nicht, obwohl sich die Bürgerschaft 2015ff bundesweit bekannt gemacht hat mit ihrer großen Hilfsbereitschaft. Schroft aber beharrt auf Verträgen und Paragraphen, Landrat Günther-Martin Pauli, noch einer mit CDU-Parteibuch, bezeichnet inzwischen das Areal als für eine Flüchtlingsunterbringung "völlig ungeeignet", denn auf dem benachbarten Truppenübungsplatz werde gesprengt und geschossen.

Seebrücke-Stadt will aufnehmen

Zumindest auf dem Papier schlagen die neuen AmpelkoalitionärInnen im Bund eine ganz neue Tonlage an: "Wir bekennen uns zu unserer humanitären Schutzverantwortung und wollen die Verfahren zu Flucht und Migration ordnen (…) und wollen einen Neuanfang, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird." Dann fällt das große Wort vom Paradigmenwechsel: "Wir werden irreguläre Migration reduzieren und reguläre Migration ermöglichen. Wir stehen zu unserer humanitären Verantwortung und den Verpflichtungen, die sich aus dem Grundgesetz, der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und dem Europarecht ergeben, um Geflüchtete zu schützen und Fluchtursachen zu bekämpfen."

Der Stadtrat von Duisburg hat mit einer rot-grün-roten Mehrheit das Papier umgehend mit Leben gefüllt. "Wir haben Platz", heißt es in dem Beschluss der Seebrücke-Stadt mit einer Arbeitslosenquote von mehr als zwölf Prozent. An der polnischen Grenze komme es zu Festnahmen, Pushbacks und gewaltsam durchgeführten Einsätzen polnischer Grenzsoldaten, bei denen Flüchtlinge, obwohl schon auf EU-Boden angelangt, zurück an die Grenze gebracht und in Richtung Belarus abgesetzt werden. "Das verstößt gegen die Menschenrechte und geltendes EU-Recht", stellen die Kommunalpolitiker fest. Oberbürgermeister Sören Link, ein Sozialdemokrat, wird aufgefordert, sich "medienwirksam" mit anderen aufnahmewilligen Städten und Gemeinden zu verbünden und Druck auf die Bundesregierung auszuüben. Unterdessen machen im baden-württembergischen Justizministerium Gerüchte die Runde, dass hiesige Seebrücke-Gemeinden, wenn es konkret wird, nicht wirklich daran interessiert seien, Menschen aufzunehmen. Nachfragen nach konkreten Details gehen natürlich ins Leere.

Fast alle Parteien ducken sich weg

Innenminister Thomas Strobl ("Unser Kompass ist das christliche Menschenbild"), der die Migrationsagenden an Gentges abgegeben hat, fantasiert von Schleierfahndung und Grenzschließungen als "ultima ratio". Grüne, SPD und Liberale üben sich in Zurückhaltung, was bei Lichte betrachtet einen Eindruck davon vermittelt, wie die Führung dieser drei Parteien die eigene Anhängerschaft einschätzt: Offenbar wird ihr nicht zugetraut, offensives Werben für die Aufnahme von Flüchtlingen zu goutieren. Lena Schwelling immerhin, die Grüne, die am kommenden Wochenende zur neuen Landesvorsitzenden gewählt wird, beklagt die "absolute Notlage", in der sich die Menschen befänden und verlangt von der neuen Bundesregierung, ihnen zu helfen.

Allein die Linke findet bisher konkrete klare Worte. Menschenrechte würden an den EU-Außengrenzen mit Füßen getreten, sagt der Stuttgarter MdB Bernd Riexinger. Die Folge sei die Militarisierung des Grenzschutzes durch Frontex, Zäune und Mauern um EU-Staaten und illegale Pushbacks im Mittelmeer mit tausenden Toten: "Nun erfrieren Menschen – auch Babys und Kinder – in den Wäldern an der polnisch/belarussischen Grenze, und der belarussische Diktator führt der Welt vor, welche Doppelmoral in der europäischen Politik herrscht." Der Appell des früheren Parteichefs richtet sich konkret an die in der Landeshauptstadt konferierenden Innenminister: "An den Außengrenzen der EU dürften keine Menschen mehr ertrinken oder erfrieren."

Wie heißt es im Weihnachtsevangelium (Lukas 2, 1–20): "... sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war". Und wenn sie coronabedingt dürfen, werden Singgruppen im ganzen Land von Haus zu Haus ziehen, um einschlägige Szenen nachzustellen. Wenigstens wäre "Wer klopfet an?" eine Gelegenheit, über die Aufnahmebereitschaft ernsthaft neu nachzudenken. In einer der reichsten Gegenden der Welt.


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2 Kommentare verfügbar

  • Grundschulniveau
    am 02.12.2021
    Antworten
    16000 Flüchtlinge, 1101 Gemeinden, 11/2 Menschen/Gemeinde, Mathe Grundschulniveau
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