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Hermann hilft

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Offenbar ist dieser Mensch eine Projektionsfläche für alle, die alles, was nicht in ihre Ideologie passt, als ideologisch bezeichnen. Kritik an Stuttgart 21 (Fortschritt) ist Maschinenstürmerei, am Auto (Freiheit) ist Zwang, am Frieden (netter Traum) ist intellektuelle Traurigkeit. Winfried Hermann, 72, Grüner und seit 2011 Verkehrsminister in Baden-Württemberg, ist die ideale Figur dafür. 

In diesen Tagen hat er wieder Konjunktur – und dennoch ist es anders. Die "Stuttgarter Zeitung" (StZ) titelt nach seiner Ankündigung, zur Wahl 2026 nicht mehr anzutreten: "Ein grüner Minister, der sich treu blieb". Die "Süddeutsche Zeitung" sieht in ihm einen, "der den Pazifismus nicht aufgeben" und seine Partei "an ihre Wurzeln zurückführen" will. Die taz lässt ihn in einem langen Interview sagen: "Es braucht Friedensgespräche". Das sind moderate Töne, im Vergleich zu den Schmäh-Etiketten, die ihm, gerne auch in der eigenen Partei, angeheftet wurden. Selbstgerechter Lump, Putin-Freund, Vaterlandsverräter eben. Nicht zu vergessen den Auto-Hasser.

Ausgabe 579, 04.05.2022

"Ich gehe als Pazifist ins Grab"

Von Josef-Otto Freudenreich

Die Grünen haben einst für sich beansprucht, eine Friedenspartei zu sein. Jetzt marschieren sie vorneweg. Mit dem Ruf nach immer mehr Waffen für die Ukraine. Widerspruch ist unerwünscht. Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann hält sich nicht daran. In Kontext sagt er, warum.  

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Woher kommt die plötzliche Wertschätzung? Neu ist Hermanns Botschaft nun wirklich nicht. An dieser Stelle lohnt ein Blick in die Texte von StZ-Autor Reiner Ruf, der unüberlesbar an der intellektuellen Armut der öffentlichen Debatte leidet. Er registriert ein Befremden über den "nahezu vollständigen Ausfall" einer argumentativen Auseinandersetzung darüber, wie mit dem Krieg in der Ukraine umzugehen ist. Wer auf politischer Ebene das Wort Verhandlungen nur in den Mund nimmt, kritisiert Ruf, "wird medial niederkartätscht". Das sagt auch Hermann. Hinzu tritt bei dem Journalisten ein zunehmendes Gefühl persönlicher Bedrohung im Alltag, etwa durch "panzeraffine Fahrzeuge", vulgo SUV, in denen, soweit die getönten Scheiben dies erkennen lassen, meist nur eine Person sitzt. Das könnte auch Hermann unterschreiben. Für einen Beschäftigten bei einer Waffen- und Auto-orientierten Zeitung sind das bemerkenswerte öffentliche Aussagen. Andere tragen sie nur heimlich mit sich herum.

Hier kann einer wie Hermann helfen. Als Therapie gegen latentes Verzweifeltsein, als Beispiel, wie es gehen kann, wenn man sich traut und trotzdem überlebt. Der linke Grüne teilt das Leiden an den Verhältnissen, lässt es aber nicht beim Mitleiden bewenden, sondern handelt nach Überzeugungen, die nicht beliebig verhandelbar sind. Das Friedensgebot im Grundgesetz ist das eine. Der Kampf ums Klima ist das andere. Und mit letzterem verbunden, der Kampf für einen funktionierenden öffentlichen Verkehr (Den Fall Stuttgart 21 sowie weitere realpolitische Anpassungen klammern wir hier mal aus). Regelmäßige Kontext-Leser:innen wissen jedenfalls, dass Hermann bereits Ende 2018 einen Forderungskatalog vorgelegt hat, um die Misere der Bahn zu beheben – fast sechs Jahre, bevor DB-Chef nun ein Sanierungsprogramm vorgelegt hat, mit dem angeblich bis 2027 alles gut werden soll. So ist es doch tröstlich zu wissen, dass das Stehen für etwas, das Verlässliche und das Beharrliche jetzt eine Schlagzeile wert ist.

PS: In Kontext konnte, wer mochte, bereits im Mai 2022 nachlesen, wie Hermann erstmals seinen Pazifismus begründet, zwei Jahre später, im Juli 2024, seiner Gruppe "Aufbruch zum Frieden" im Kulturzentrum Merlin zuhören und die übervolle Veranstaltung auch zuhause per Video verfolgen (Links ganz unten im Beitrag).

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6 Kommentare verfügbar

  • Kilian Becker
    am 17.09.2024
    Antworten
    Man wird also 'medial niederkartätscht', wenn man bezgl. des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine das Wort Verhandlungen in den Mund nimmt.

    Möchte der Autor nicht wenigstens einmal in die Ukraine reisen, am besten zusammen mit dem zitierten Herrn Ruf, um zu erleben, wie dort wirklich…
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