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Mehr Ausländer, weniger Mordfälle

Mehr Ausländer, weniger Mordfälle
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So nicht! Im Interview mit "Berlin direkt" tadelt CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz erst einmal die Berichterstattung: Ihm "gefällt der ganze Unterton" nicht, der insinuiere, dass sich Politiker der CDU in der Migrationspolitik von Populisten treiben ließen "oder gar selber welche sind". Und sagt dann im nächsten Satz: "Wir sehen, dass in den Städten und Gemeinden in Deutschland kaum noch was geht." Gut, das ist nicht ganz so schlimm wie zu behaupten, dass Ausländer Haustiere essen, wie Trump das kürzlich tat. Aber das Traurige an der Asyldebatte ist: Es gibt fast nur noch Populismus, durch alle politischen Lager, und das nicht nur in Deutschland.

Immer wieder entsteht dabei der Eindruck, die Kriminalität habe neue Rekordwerte erreicht und die Politik unternehme nichts gegen unkontrollierte Massenzuwanderung. Dabei ist die europäische Außengrenze schon lange die tödlichste der Welt, die Zugangszahlen von Geflüchteten sinken seit Monaten. Und wie Stephan Anpalagan in einer "Stern"-Kolumne ausführt, die sich angenehm vom oft hysterischen Geschrei anderer Medien abhebt: "Im Jahr 1993 verzeichnete die Bundesrepublik Deutschland 1.299 Mordfälle. Dreißig Jahre später, im Jahr 2023, sind es nur noch 729. Im selben Zeitraum verdoppelte sich die Zahl der Ausländer auf 13,9 Millionen. Mehr Ausländer, weniger Mordfälle."

Doch offenbar ist jetzt eine neue Härte im Umgang mit Migrationshintergründen angesagt – und der Abschiebe-Eifer trifft auch solche Menschen, die bestens integriert sind. In Stuttgart ist die Musiklehrerin Mizuki Ikeya ins Visier der Ausländerbehörde geraten, weil ihre Fiktionsbescheinigung abgelaufen ist. Ihr droht die Abschiebung. Dass sie in ihren neun Stuttgarter Jahren nie Sozialhilfe erhalten hat, ein eigenes Einkommen vorweisen kann und fließend Deutsch spricht, tut offenbar nichts zur Sache. Wie sich Kulturen gegenseitig bereichern, scheint zunehmend irrelevant zu werden. Dafür stehen Blut und Boden wieder hoch im Kurs.

Was tun gegen die autoritäre Wende?, fragt sich auch das Stuttgarter Netzwerk gegen rechts, das regelmäßig Veranstaltungen organisiert. Am Samstag, 21. September, ist der Journalist Timo Büchner zu Gast im Stuttgarter Wizemann. Büchner, der auch für Kontext schreibt, wird dort ab 20 Uhr beleuchten, wie radikale Rechte mit Musik versuchen, die Jugend an sich zu binden.

Hirschhausens Quiz der Nachhaltigkeit

Und dann ist da noch, auch wenn ihn die Rechten beharrlich anzweifeln, der menschengemachte Klimawandel. In Rumänien, Polen, Tschechien und Österreich belegen beispiellose Überschwemmungen mal wieder dessen Existenz. "Die Welt hat Fieber", diagnostiziert dazu der Arzt, Kabarettist und Zauberkünstler Eckart von Hirschhausen. Nach über 30 Jahren Bühnenprogramm kündigte er daher 2022 an, eine Pause einzulegen, um sich stärker für den Klimaschutz einsetzen zu können – mit guten Argumenten: So führte er am 15. September im Interview mit "Zeit Online" aus, dass Naturschutz kein Luxus sei, weil Untätigkeit menschliche Lebensgrundlagen gefährde. Umso irritierender, dass Hirschhausen am vergangenen Dienstag, 17. September, beim 40-jährigen Jubiläum der LBBW-Stiftung auftrat, um ein Grußwort zu halten. Die Landesbank Baden-Württemberg steht schon seit Längerem in der Kritik von Klima-Aktivist:innen, weil sie massiv in Geschäfte mit Braunkohle und Fracking verstrickt ist. Und als Klimakleber:innen mit Stickern auf Geldautomaten auf diese Umtriebe hinwiesen, erstattete die LBBW Anzeige wegen "schwerer gemeinschaftlicher Sachbeschädigung".

Auf Anfrage schreibt Hirschhausen, er werde die Gelegenheit nutzen, seine Haltung zu den klimaschädlichen Aktivitäten der Bank klar zu machen. Die Lage sei "zum Verzweifeln", da die gesellschaftliche Priorität für Klimaschutz heute nicht mehr so hoch sei wie 2019. "Die rechspopulistische Auslegung, Klimaproteste in die Nähe von Diktatur und Terrorismus zu rücken, gewinnt an Momentum. Milliarden gehen in Kriege statt in den Erhalt der Lebensgrundlagen für alle." In dieser Situation wolle er zwischen verhärteten Fronten vermitteln, als "Brückenbauer zwischen den Bubbles".

Film zur Gäubahn

Eine Strategie, zumindest den Mobilitätssektor klimafreundlicher zu machen, wäre: mehr Bahnverkehr. Leider keine Strategie, die die Deutsche Bahn AG erkennbar verfolgt. Ein Symptom, wie sehr sie dieses Ziel hintertreibt, ist seit Langem das Immobilienprojekt Stuttgart 21. Zu dessen Folgen gehört ab April 2026 auch, dass die Gäubahn vom Stuttgarter Hauptbahnhof abgekoppelt wird und für unbestimmte Zeit am Kesselrand im Vaihinger Bahnhof enden soll. Einen "Treppenwitz der Geschichte" nennt das der ehemalige Schweizer Bahnchef Benedikt Weibel. Weibel kommt ausgiebig zu Wort in Klaus Gietingers neuestem Film "Der Kampf um die Gäubahn". Tausendsassa Gietinger, der 2022 auch schon einen Stuttgart-21-Film gemacht hat, verwebt darin die Geschichte der Bahn in Deutschland mit der Geschichte der Gäubahn und zeigt daran die eklatanten strukturellen Fehlentwicklungen der jüngeren Vergangenheit bis heute. Am Montag, dem 23. September um 20 Uhr hat der Film Premiere im Kino Delphi in Stuttgart.

Von Marckolsheim zum Klimastreik

Schon ein paar Tage zuvor, am 20. September, rufen die Fridays for Future zum globalen Klimastreik auf. Genau 50 Jahre zuvor fand im elsässischen Marckolsheim eine Aktion statt, die zeigte, dass Protest erfolgreich sein kann: Umweltaktivist:innen von beidseits des Rheins besetzten den Bauplatz, auf dem ein extrem umweltschädliches Bleiwerk entstehen sollte.

Am Ende wurde das Werk nicht gebaut. Unser Autor Axel Mayer, der damals dabei war, schreibt, auch in den Protesten vor 50 Jahren lägen die Wurzeln der heutigen Klimaschutzbewegung. Die hat mit vier jungen Leuten am vergangenen Dienstag die Stuttgarter Kirche St. Maria mit einem Banner verschönert. Das Banner hat eine bewegte Vergangenheit – es hing im Sommer schon am Ulmer Münster, dem höchsten Kirchturm der Welt. Samuel Bosch, einer der Aktivist:innen (blaues Shirt), saß kürzlich wegen seines Engagements fürs Klima sogar in Haft.


Update vom 19.09.2024: Ein Statement von Eckart von Hirschhausen erreichte uns nach Redaktionsschluss. Die entsprechende Passage wurde aktualisiert.


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