Cannstatts Echte
Lassen sich dank lautem Gekreische gut verorten: Freilebende Gelbkopfamazonen in Stuttgart-Bad Cannstatt. Foto: Kostas Koufogiorgos, CC BY-SA 4.0, Link
Fotos: Jens Volle
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Lassen sich dank lautem Gekreische gut verorten: Freilebende Gelbkopfamazonen in Stuttgart-Bad Cannstatt. Foto: Kostas Koufogiorgos, CC BY-SA 4.0, Link
Brrr! Brrr! Brrr! Mit grünem Kleid und gelbem Schopf hüpfen sie von links nach rechts und schnattern aufgeregt durcheinander. Eine kommt ganz nah ans Publikum heran, flüchtet jedoch schnell wieder in ihren Schwarm zurück: Seit vielen Jahren sind die Gelbkopfamazonen, eine Papageienart, in Stuttgart-Bad Cannstatt zu Haus, machen manchmal ein ziemliches Geschrei und streiten sich mit den Krähen um Baumquartiere.
In freier Wildbahn in Mittelamerika sind sie bedroht: von Tierhändlern und dem Verschwinden der Lebensräume. In Cannstatt dagegen breiten sie sich aus. 1984 hat sich ein Weibchen selbstständig gemacht, im Tierpark Wilhelma nach Artgenossen gesucht und zwei Jahre später erstmals Junge zur Welt gebracht. 2011 wurden 45 Tiere gezählt, sieben Jahre später waren es bereits 65.
Die Gelbkopfamazonen, um die es hier geht, sind allerdings vier- bis fünfmal so groß wie ihre tierischen Artgenossen. Es sind Schauspieler:innen. "La Fuchsia Kollektiva" nennt sich das Ensemble und die performative Radtour entlang des Neckars heißt: "Lärm der Exot:innen".
Der Treffpunkt am Zuckerleberg liegt schräg gegenüber der abgerissenen Bettfedernfabrik Straus. "Es war so eine schöne Ruine mit kaputten Fenstern und Graffitis", bedauert Rita (Johana Gomez). "Stellt euch vor, Straus & Cie. war Ende des 19. Jahrhunderts schon die weltweit größte Bettfedernfabrik", weiß Renata (Magda Agudelo). "So eine schreckliche Vorstellung. Die eigenen Federn für die Gemütlichkeit anderer zu opfern", findet Ruth (Catalina Cadavid). Bama (Nestor Gahe) beruhigt sie: "Die Fabrik wurde schon 2002 geschlossen."
Die Zuschauer:innen bekommen Kopfhörer ausgeteilt und werden aufgefordert, dem blauen, gelben, roten oder grünen Fahrrad zu folgen. Aber was hat die Bettfedernfabrik mit Exot:innen zu tun? Ruth findet eine weiße Feder in Ritas Haar. "War diese Feder von einer chinesischen, von einer russischen Gans?", fragt Renata. "Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat die Firma ins Ausland expandiert", ergänzt Bama. "Vielleicht können wir unsere Federn verkaufen", schlägt Rita vor. Grüne Federn für exklusive Pariser Hüte.
Aber wo ist Margarita? Die Suche nach der ersten Stuttgarter Gelbkopfamazone setzt die Radtour in Gang. Sie meldet sich per Handy. Bei den Worten "Ich bin mit dem Schiff…" bricht die Verbindung ab. Die Truppe aus Schauspieler:innen und Teilnehmer:innen bricht auf zum Schiff-Spielplatz Neckarine. Cumbia-Musik ertönt aus dem Lautsprecher. Bis alle absteigen und schieben und dafür die Kopfhörer aufsetzen. "Ein Schiff ist ein Schiff ist ein Schiff ist ein Schiff", sagt eine Stimme. "Es gibt unterschiedliche Schiffe: Galeeren, Wikingerschiffe, Segelschiffe, Karracken, Karavellen, Galeonen, Dampfschiffe, (…). Es gibt vor allem Containerschiffe."
Sie breiten ihre Gürtel-Tücher auf der Wiese aus und bieten exotische Gewürze zum Verkauf an: Muskatnüsse, Cardamom, Ingwer, Zimt. Die Güter haben eine lange Handelsgeschichte: "Das war damals pures Gold." Nicht umsonst wurden die reichen Hamburger Pfeffersäcke genannt. "Vor 600 Jahren hätten Sie für ein Kilo Pfeffer in Indien ein bis zwei Gramm Silber bezahlt, in Alexandria zehn bis 14 Gramm (Silber), in Venedig 14 bis 18 Gramm (Silber) und hier 20 bis 30 Gramm Silber bezahlt", schnattern alle durcheinander.
Darum geht es: Die Kolonialgeschichte zu erzählen und im Stadtraum sichtbar zu machen. Das Projekt kam zustande auf eine Ausschreibung des städtischen Kulturamts, genauer gesagt der Koordinierungsstelle Erinnerungskultur und der Förderabteilung Kunst im öffentlichen Raum. "Hidden Places": Unter diesem Titel werden in verschiedenen Städten Erlebnis-Stadttouren angeboten. "Stuttgart neu erzählt!" lautet der Untertitel, es geht um "Erinnerungsorte im öffentlichen Raum, die gar nicht unmittelbar als solche wahrnehmbar sind und für bisher wenig beleuchtete Themen und Perspektiven stehen".
Allerdings scheint das Kulturamt bemüht, diese verborgenen Orten weiterhin verborgen zu halten. Auf seiner Website findet sich zu den meisten Projekten keinerlei Information, wann und wo etwas stattfindet. Wenn man die QR-Codes auf dem Flyer einliest (Stand 15. September), erscheint wie so oft auf der Seite der Stadt Stuttgart nur: "Oooops – wie konnte das passieren?", der Inhalt konnte nicht gefunden werden. Immerhin gibt es am kommenden Sonntag noch Gelegenheit, zwei der Projekte in Cannstatt kennenzulernen, darunter eine weitere Performance von "Lärm der Exot:innen".
Für Magda Agudelo kam die Ausschreibung wie gerufen. In Kolumbien geboren, hat sie in Bogotà Schauspiel studiert, kam vor 20 Jahren nach Deutschland und hängte ein Studium der Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Augsburg an, das sie mit einer Arbeit über Bertolt Brecht abschloss. Seit sieben Jahren lebt sie in Stuttgart. Bereits 2020, während der Corona-Krise, hat sie in Cannstatt nach Orten recherchiert, die sich für Theateraufführungen im öffentlichen Raum eignen. Daraus entstand eine "Vision für Cannstatt" im Kontext des "Volk*stheater Rampe", einem "Community-Projekt" des Theater Rampe "für ein "vielstimmiges Geschichtenerzählen im öffentlichen Raum."
Auf diese Recherchen konnte Agudelo dann im Juni 2022 bei "kann.statt.frei" zurückgreifen: ein interdisziplinärer Kunst-Rundgang durch den Stadtteil zum Thema Wasser, mit einer Blaskapelle, einer Puppenspielerin und einem Schlagzeuger und Hackbrettspieler. Nestor Gahe als professioneller Tänzer und, verkleidet als grüner Vogel, die Gesangslehrerin Catalina Cadavid hatten auch da schon wichtige Rollen.
Bei "Lärm der Exot:innen" geht es nicht nur um Cannstatt, sondern zugleich um das Thema, das die Koordinierungsstelle Erinnerungskultur anspricht: Es gibt Erinnerungsorte, vornehmlich zur NS-Zeit, die durch Gedenktafeln, Kunstwerke oder in anderer Weise markiert sind. Die Kolonialgeschichte mit fortdauernd grausamen Auswirkungen wurde hingegen lange Zeit völlig ausgeblendet. Im öffentlichen Raum ist das Thema, vom Bau des Linden-Museums abgesehen, fast gar nicht präsent.
Aber wenn man wie Magda Agudelo anfängt zu recherchieren, stößt man auf Schritt und Tritt auf Spuren: Fabriken verarbeiteten Kolonialwaren, Kakao und Kaffee sind Produkte, die auch heute noch auf Kosten der Hersteller:innen zu Spottpreisen konsumiert werden. Verschiedene Orte der Radtour erinnern daran. Nicht zuletzt die Wilhelma. Sollte Margarita, auf der Flucht vor Kakao- und Kaffeeduft, der bei ihr traumatische Erinnerungen wachruft, dorthin zurückgekehrt sein? Zu den "edlen Wilden"? Es entspannt sich ein Streit: "Du bist der Wilde." – "Ja, natürlich. Und du bist eine Barbarin." – "Hast du einen Vogel?" – "Bei dir piept's wohl." – "Vogelwild? Nein. Exotischer Papagei." – "Und was sind wir?"
"Wir sind die Gelbkopfamazonen!", rufen alle zusammen im Chor, "die Exot:innen von Bad Cannstatt. Wir sind hier! Wir sind laut!" Es ist das zentrale Statement des Stücks: Die Exot:innen sind gekommen, um zu bleiben. Einmal, nächste Szene, hat allerdings schon ein Naturschützer mit der Schrotflinte auf sie geschossen.
Gegenüber des Stadtarchivs in Bad Cannstatt befand sich früher das Zollamt. "GKW" steht in einem verblassten Medaillon hoch oben im Giebel. Das bedeutet "Großeinkaufsverein der Kolonialwarenhändler Württemberg". Die Spuren der Kolonialgeschichte: Hier sind sie zu finden. "Wir betrachten mit Interesse die tropischen Nutzpflanzen wie Kokosnüsse, Kautschuk, Sisalhanf, Baumwolle, Kaffee, Kakao, Zuckerrohr und Tabak", liest Nestor Gahe vor aus dem Katalog der Stuttgarter Kolonialausstellung 1928. "Wir sehnen uns nach dem Genuss von prächtigen Tropenfrüchten wie Ananas, Bananen, Apfelsinen, Zitronen, Papayas, Mangos, Annonen … Diese Produkte allein beweisen schon, wie wichtig für uns eigene Kolonien waren und welch große Werte wir durch deren Wegnahme verloren haben."
Margarita ist derweil immer noch nicht gefunden. Gespielt von Jeiny Cortes, ist sie aus Kolumbien zugeschaltet. In der letzten Szene leckt sie sich genussvoll die Lippen, während die anderen malochen müssen. Des einen Genuss ist des anderen harte Fronarbeit.
Weitere Termine: Samstag, 21. und Sonntag, 22. September, jeweils 17 Uhr. Anmeldung an anmeldung.lfk bis zwei Tage vorher. @gmail.com
Interaktive Spaziergänge mit Vermittlerin Lilian Contzen zu weiteren Projekten am Sonntag, 22. September um 11 Uhr, Startpunkt Stadtstrand Stuttgart (vor dem Kiosk), Seilerwasen 6 (zu den Projekten "Lärm der Exot*innen" und "Out oft he Blue); und am Sonntag, 28. September, 14 Uhr, Treffpunkt Bushaltestelle Hölderlinstraße (Linien 40, 43), Ecke Herdweg / Azenbergstraße (Projekte "Space Has Become a Crowded Place" und "Bei Nills"), Anmeldung und Fragen: erinnerungskultur @stuttgart.de
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