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Zum Tod von Harry Walter

Kunst als Wartezubehör

Zum Tod von Harry Walter: Kunst als Wartezubehör
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Zuletzt ist Harry Walter vor allem mit der Künstlergruppe SOUP in Erscheinung getreten, die sich mit dem Stuttgarter Hauptbahnhof beschäftigt. Doch dahinter steht mehr: Er hat die moderne Kunst zu Ende gedacht. Ein Nachruf.

In einer Publikation des Filmkünstlers Jonnie Döbele erinnert sich Harry Walter: "Noch auf dem Gymnasium war mir zu Ohren gekommen, es gebe an der hiesigen Universität etwas zu sehen, das man so schnell nicht wieder vergesse". Und zwar: "Einen Philosophieprofessor, der 90 Minuten aus dem Stegreif philosophieren könne und bisweilen so sehr in Rage gerate, dass er öffentlich zu explodieren drohe, falls jemand den Auslöseknopf finde." Gemeint ist Max Bense, dessen Vorlesungen an der Stuttgarter Uni Döbele 1976 besucht und in Schwarzweißfotos festgehalten hatte.

Bense, damals schon über 60, brachte das Kunststück fertig, mit intellektuellen Drahtseilakten ein breites Publikum in seine öffentlichen Vorlesungen zu locken. "Das interessierte mich", bekennt Harry Walter, "zumal ich kurze Zeit vorher in der Stuttgarter Liederhalle erleben durfte, wie Jimi Hendrix mit der Zunge die Saiten seiner elektrischen Gitarre zupfte und damit bewies, dass alles, im Prinzip alles, auch anders sein könnte. Warum sollte das nicht auch für den Vorgang des Lehrens gelten?"

Es ist völlig unmöglich, Leben und Werk Harry Walters, der vor einer Woche, am 3. September einem Krebsleiden erlag, linear zu erzählen. War der Stuttgarter Künstler doch schon zu Beginn seiner Künstlerlaufbahn zu der Gewissheit gelangt, dass die Zeit der Avantgarden, des immer Neuen, sich totgelaufen hatte und sich vielmehr die Entwicklung im Kreis drehe. In seinen neueren Texten und künstlerischen Arbeiten reflektierte er zunehmend seine Herkunft: Anfang und Ende sind eins. In der Mitte steht die Erkenntnis, dass es keinen Fortschritt gibt.

Das Archiv beider Richtungen

Deshalb der Reihe nach, von den Bense-Vorlesungen aus zugleich vor und zurück: "Archiv beider Richtungen" (ABR) hieß eine von Walter mit begründete Künstlergruppe. Das war 1982, doch da sind wir noch nicht. Harry Walter muss zuerst noch ein Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte absolvieren, unter anderem in Stuttgart bei Bense und in Tübingen bei Ernst Bloch.

1975 gründete Achim Kubinski, Künstler und später vorwiegend Galerist, in Stuttgart die "Galerie und Kunstschule Neue Weinsteige 10", die den damals Beteiligten noch heute heilige Schauer über den Rücken jagt, während alle anderen sich mit Gerüchten zufrieden geben müssen. Harry Walter war mittendrin. Und auch an der Gründung des Stuttgarter Künstlerhauses war er beteiligt. Mit René Straub, im Vorstand des Vereins, und zeitweise auch Ulrich Bernhardt, dem künstlerischen Leiter, gründete er dann das Archiv beider Richtungen.

"Herkömmliche Archive blicken regelmäßig nur in eine Richtung", diagnostiziert 2001 Johann-Karl Schmidt, Direktor der Galerie der Stadt Stuttgart (heute Kunstmuseum) im Katalog zur Ausstellung "Ornament und Versprechen": "Sie tragen den Vektor in die Vergangenheit, deren Nachlässe sie der Gegenwart vorrätig halten. Aber Archiv beider Richtungen?" Walter und Straub wollten Arbeitsmaterialien von Künstlern sammeln, um die Entstehungsprozesse zu dokumentieren. Im Nachwort lösen sie das Rätsel auf: "Irgendjemand fragte: 'In welche Richtung sammelt ihr denn eigentlich?' In einer spontanen Eingebung antwortete einer von uns: 'Eigentlich in beide Richtungen.' Damit war die nötige Unschärfe zurückgewonnen, um nicht das erste Opfer der von uns selbst ausgedachten Institution zu werden."

In einem Katalog der Gruppe schreibt Max Bense das Vorwort, will darin "auf die Bedeutung der Kunstproduktion bzw. der ästhetischen Realität im universalen Weltzusammenhang" hinweisen und kommt auf die Möbiusschleife zu sprechen: ein in sich verdrehtes, endloses Band. Ein schönes Bild dafür, wie Harry Walter und ABR, wie sich die zum Duo geschrumpfte Gruppe dann nannte, immer wieder ihren eigenen Spuren nachgehen. Bense spricht von der "Eigenrealität" des Kunstwerks, das "eine immer wieder kreative Realität, etwa ein 'Bild'" zeige "und zugleich 'sich von sich selbst her' als Zeichen repräsentiert."

Kunst ohne Stilfalle und Begriffsfalle

Doch mit dem "Werk" hatten es Walter und Straub gar nicht so sehr. "Nicht das Herstellenwollen von Kunstwerken unter einer gemeinsamen Stilprämisse war der Grund unseres Zusammenschlusses", schreiben sie, "sondern ganz im Gegenteil die Frage, wie man künstlerisch zusammenarbeiten könnte, ohne dabei in die individualistische 'Stilfalle' einerseits und in die konzeptuelle 'Begriffsfalle' andererseits zu geraten." Von einem "erweiterten Kunstbegriff" ist die Rede, von der Chance, als Gruppe andere Arbeitsformen zu entwickeln als in der Absicht der Selbstverwirklichung. "Und viel zu verlieren gab es nicht. Denn keiner von uns verfügte über so etwas wie ein elaboriertes Werk, eher über die verschiedensten Vorbehalte dagegen."

In der Einleitung zu "Meta 1. Die Kunst und ihr Ort", der ersten Publikation von Ute "Meta" Bauer am Künstlerhaus, zitiert Walter ausgiebig aus Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften": Eine Gruppe junger Leute verstrickt sich da in eine hitzige Debatte über moderne Kunst. "Die in der Debatte aufeinanderprallenden Behauptungen", so Walter, "erweisen sich ihrer Radikalität wegen als inkompatibel. Man redet infolgedessen zunehmend aneinander vorbei. Der Kreislauf der Überzeugungen führt zu einem Leerlauf der Begriffe. Von den anfänglich gutgemeinten Inhalten schwirren am Ende nur noch ausgebrannte Worthülsen herum. Der Begriff Kunst – das Zentrum der Auseinandersetzung – hat sich in relativ kurzer Zeit zu etwas Unfassbarem entwickelt."

So nahm Harry Walter die Kunst wahr. Und beschreibt dies selbst wesentlich besser als all die Kulturmanager und Philosophen. "Auf der Suche nach dem nicht-monumentalen, unserer Zeit und unserem Temperament entgegenkommenden Gesamtkunstwerk sind wir irgendwann in den letzten Jahren auf das Phänomen der Warteräume gestoßen", heißt es einleitend in einem frühen Katalog der Arbeiten des Duos, darunter ein Buch, ein Plakat, zwei "Souvenir-Sets" und ein Ensemble mit dem schönen Titel "Frühjahrsmüdigkeit", käuflich zu erwerben zu Preisen zwischen 20 und 8.000 D-Mark. "Die in diesem Katalog verzeichneten Produkte entstammen unserer Tätigkeit im Wartesektor. In ihrem ursprünglichen Zusammenhang sind sie Wartezubehör."

Jenseits von großen Gesten und hohen Werten

Da ist er, der unverwechselbare Harry-Walter-Tonfall. Der sich den großen Worten und Gesten nicht nur entzieht, sondern sie en passant auch entlarvt. Wartezubehör: Das klingt nicht nach Einzigartigem, nach hohen Werten. Eher nach Bushaltestellen und Arztpraxen, schäbigen Orten, an denen man seine Zeit totschlagen muss. Die aber nach Harry Walter viel mehr über unsere Zeit, unsere Befindlichkeiten aussagen als vermeintlich bedeutende Werke unsterblicher Künstler.

Er hätte auf der Documenta ausstellen können, doch es gab keine Werke, die er hätte präsentieren können. Das war kein Versagen und keine Koketterie, sondern die Konsequenz einer Haltung, die Begriffe wie "Werk" und "Künstler" längst ad acta gelegt hatte. Nicht aber die künstlerische Annäherung an die Welt, die Walter bis zuletzt in den Auseinandersetzung mit seinem Vater, dem Stuttgarter Hauptbahnhof, der NS- und Nachkriegsgeschichte, den Eisenbahner-Hochhäusern am Stuttgarter Nordbahnhof, wo er aufgewachsen ist, und der Modellbahnanlage von Wolfgang Frey weiter kultiviert hat.

Ein verschmitztes Blinken trat in seine Augen, wenn er erzählte, wie er mit einem Schulfreund, als der Vater die Modelleisenbahn weggeräumt hatte, am Fenster saß und mit dem Trafo auf dem Schoß die Züge des Stuttgarter Bahnhofsgeländes lenkte, das sich wie eine Modellbahn vor ihnen ausbreitete. Oder wie die Engländer im Zweiten Weltkrieg eine Holzbombe abwarfen, um den Deutschen zu zeigen, dass sie sich von ihren "Scheinanlagen", den Attrappenbahnhöfen aus Holz, nicht hinters Licht führen ließen.

Kunstvermittlung als Kunst des Zeigens

Harry Walter hat an der Universität Kanazawa in Japan Germanistik gelehrt, an der Münchner Kunstakademie und der ETH Zürich und viele Jahre in Nürtingen an der Freien Kunstschule, heute Kunstakademie, sowie der Hochschule für Kunsttherapie. "Zu den Tugenden seines bemerkenswerten Schaffens gehören Einfallsreichtum, Wandlungsfähigkeit, Witz und ständige kritische Selbstreflexion", stellt der Kunstkritiker Christian Demand als Juror der Stiftung Preußische Seehandlung fest, die ihm 2013 den "Friedlieb Ferdinand Runge – Preis für unkonventionelle Kunstvermittlung" verliehen hat.

"Harry Walter legt Wert darauf", so Demand, "dass Kunstvermittlung sich nicht darauf beschränken darf, Kunst zu 'erklären'. Sie sollte vielmehr eine Kunst des Zeigens und als solche Teil künstlerischer Praxis sein. Ein großer Teil der Aktivitäten, die Harry Walter selbst in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten unternommen hat, lässt sich als der Versuch verstehen, eine 'Grammatik des Zeigens' zu entwickeln, ob als Anstifter und Teilnehmer alternativer Kunstschulen und Ausstellungsräume … oder zuletzt mit SOUP (Stuttgarter Observatorium urbaner Phänomene), dem künstlerischen Begleitbüro zur Bürgerprotestbewegung Stuttgart 21."

Die Arbeit mit Archiven, die künstlerische Forschung, in der heutigen Kunst allgegenwärtig, hat Harry Walter mit eingeführt. Doch dann hat er sich, nahezu unbemerkt, immer mehr aus der Kunstwelt zurückgezogen – und dabei scheinbar nur wenige Spuren hinterlassen. Nicht nur wegen seines viel zu frühen Todes mit 70 Jahren: Es wäre an der Zeit, sein Archiv aufzuarbeiten.

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1 Kommentar verfügbar

  • Peter Bähr
    am 11.09.2024
    Antworten
    Großes zu Papier gebracht - Großes ist gelungen auf kleinen Stuttgarter Seiten!
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