Nun ist es amtlich: "Menschen mit Armutserfahrung haben schlechtere Chancen bei der Wohnungssuche." Diese Erkenntnis teilte das baden-württembergische Sozialministerium Ende August als Ergebnis seines zweiten Berichts zur gesellschaftlichen Teilhabe mit, der sich mit der Wohnsituation armutsgefährdeter Menschen beschäftigt. "Für armutsgefährdete Menschen ist es schwierig, auf dem angespannten Wohnungsmarkt eine Wohnung zu finden", präzisiert das Sozialministerium in einer Mitteilung, und "wenn sie eine Wohnung haben, sind sie von den steigenden Wohnkosten der letzten Jahre besonders betroffen."
Weniger Geld bedeutet also weniger Möglichkeiten. Vielleicht brauchte es für diese Erkenntnis in der Landesregierung tatsächlich einen Bericht, um die Funktionsweise des kapitalistischen Marktes zu erkennen. "Nur wer die genaue Situation kennt, kann Maßnahmen ergreifen", heißt es dazu auf Anfrage zumindest vom Sozialministerium. Der Bericht sei Teil einer "aussagekräftigen Datengrundlage", um "passgenaue, nicht stigmatisierende und gut erreichbare Unterstützungsangebote zu entwickeln." Es sollen weitere Berichte zu den Themenbereichen Soziales, Gesundheit und Integration folgen.
In Finnland gibt es Housing First schon seit 1999
Eine der Maßnahmen, um armutsgefährdete und benachteiligte Menschen zu fördern, ist ein zum Jahresbeginn aufgesetztes Pilotprojekt, das die Idee von "Housing First" verfolgt. Der Ansatz wurde in der US-amerikanischen Sozialpolitik beim Umgang mit Obdachlosigkeit angewandt und soll eine Alternative zum herkömmlichen System der Notunterkünfte und der vorübergehenden Unterbringung bieten, seine Grundidee: Obdachlose können direkt in eine eigene Wohnung ziehen und müssen nicht erst verschiedene Unterbringungsformen durchlaufen, um sich für dauerhafte, unabhängige Wohnungen zu qualifizieren.
Im Rahmen des neuen Pilotprojekts fördert das Land sechs Projekte in Esslingen, Freiburg, Heidelberg, Herrenberg, dem Gemeindeverbund Mittleres Schussental und Reutlingen für drei Jahre mit 1,5 Millionen Euro. Ein Drittel dieses Budgets kommt von einer Stiftung. Housing First wird bereits in anderen europäischen Ländern umgesetzt, in Finnland schon seit 1999.
"Wohnen ist ein Grundrecht", sagt Renate Stemmer, Geschäftsführerin von Hilfe zur Selbsthilfe, einer Einrichtung für die mobile Jugendarbeit, die das Pilotprojekt in Reutlingen organisiert. Housing First könne ein zentraler Baustein für die Sozialarbeit sein. "Man kann auch komplexe Problemlagen angehen, wenn existenzielle Fragen geklärt sind", sagt Stemmer. Das eigene Dach über dem Kopf erleichtere die Arbeit an anderen Problemen wie Abhängigkeit, Schulden, psychischen Erkrankungen oder Konflikten. In Baden-Württemberg waren Anfang des Jahres 92.675 wohnungslose Menschen in staatlich refinanzierten Wohnangeboten untergebracht. Mit den Pilotprojekten sollen sie und obdachlose Menschen von der Straße über eine eigene Wohnung neue Perspektiven für das Leben erhalten.
Nach elf Jahren Notunterkunft in die eigene Wohnung
"Ziel ist es, die Wohnungslosigkeit zu beenden und mit den Betroffenen einen Weg in ein selbstständiges Leben zu erarbeiten", sagt Bennet Melcher, der bei der Stadt Herrenberg mit dem Projekt "Erst.Ein.zu:Hause" den Housing-First-Ansatz als Pilotprojekt umsetzt. Die Zielgruppe umfasst etwa 40 Menschen in der Stadt. In den ersten Monaten wurden 22 von ihnen durch eine eigens geschaffene Stelle angesprochen. "Ein Klient wurde nach elf Jahren aus der Unterbringung in einer städtischen Notunterkunft in ein unbefristetes Mietverhältnis vermittelt", nennt die Stadt auch einen ersten sichtbaren Erfolg. Doch nicht immer klappt die Vermittlung reibungslos. Eine Frau ist kurz vor dem Umzug in ein privates Mietverhältnis abgesprungen. "Leider ist der Umzug aufgrund ihrer multiplen Problemlagen nicht zustande gekommen, da sie sich kurz vor dem Umzug der Veränderungen, die damit einhergehen, nicht gewachsen fühlte", erklärt die Sozialbehörde.
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