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Anti-Obdachlosen-Architektur

Eiseskälte

Anti-Obdachlosen-Architektur: Eiseskälte
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Die Meldungen über Kältetote häufen sich. Derweil setzen Öffentliche und Private auf Architektur, die Obdachlose aus dem Stadtbild verdrängt. Eine Gruppe Stuttgarter Aktivist:innen kontert mit Handarbeit.

Am Ende muss doch noch die Flex raus. Funken fliegen, kreischende Geräusche, dann ist die letzte Stange gelöst, eine, die besonders hartnäckig war.

Vergangenen Samstag in den frühen Morgenstunden hat sich eine Gruppe von Aktivist:innen vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof in der Lautenschlagerstraße versammelt. Ihr Ziel ist ein Gebäude, das noch der Schriftzug von Bankhaus Bauer ziert, doch aktuell stehen die Räumlichkeiten ungenutzt leer. Der Vermögensverwalter ist umgezogen, hat den neuen Standort im November mit einem "hervorragenden kulturellen Programm" und "kulinarischen Leckerbissen" feierlich eingeweiht und betont in der Selbstbeschreibung "die Unternehmenswerte des vertraulichen Miteinanders".

Da darf natürlich niemand stören. Vor den raumhohen Fenstern der verlassenen Filiale gibt es zur Straße hin drei Betonflächen, auf die sich Menschen setzen oder legen könnten – wenn da nicht 60 Stahlwinkel angebracht wären, um genau das zu verhindern. Für diese Art der Gestaltung hat sich der euphemistische Begriff der defensiven Architektur eingebürgert, der im englischsprachigen Raum ursprünglich für bauliche Abwehrmaßnahmen an Befestigungsanlagen reserviert war. Inzwischen ist der Gebrauch großzügiger: Insbesondere fallen darunter architektonische Anstrengungen, den öffentlichen Raum so ungemütlich wie nur möglich herzurichten, damit die Bessergestellten nicht durch die Präsenz von Obdachlosen belästigt werden. Als alternative Bezeichnungen kursieren auch die treffenderen Begriffe feindselige Architektur oder auch Anti-Obdachlosen-Architektur.

Einer der Aktivisten nennt es "überhaupt schon erbärmlich, dass es einer reichen Gesellschaft nicht gelingt, Wohnraum für alle zur Verfügung zu stellen". Das wäre aus seiner Sicht das mindeste. "Aber völlig katastrophal ist es doch, Menschen, die nicht mal ein Dach über dem Kopf haben, aus dem Stadtbild zu verdrängen nach dem Motto: aus den Augen, aus dem Sinn." Er verweist darauf, dass in diesem Winter bereits die ersten Menschen erfroren sind – "und das ist im Grunde in jedem einzelnen Fall unterlassene Hilfeleistung".

Vergangene Woche hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) erste Kältetote aufgelistet. "Dabei startet der Winter gerade erst", heißt es in der Meldung. Ein 62-jähriger Obdachloser wurde in Schmalkalden (Thüringen) tot auf einer Parkbank gefunden. Ein 39-jähriger Obdachloser erfror im Hauptbahnhof von Hannover. Bei einem 40-Jährigen, der nach einer Regennacht und Temperaturen um den Gefrierpunkt tot vor einem Supermarkt in Saarlouis aufgefunden wurde, bleibt die offizielle Todesart ungeklärt. "Da es keinen Hinweis auf ein Fremdverschulden gibt, wird der Leichnam des Mannes nicht obduziert", berichtet der Saarländische Rundfunk.

Die BAG W listet für den vergangenen Winter 23 erfrorene Obdachlose in der Bundesrepublik. Allerdings gibt es keine offiziellen Statistiken von staatlicher Seite. Die Opferzahlen werden nicht erfasst, und so geht die Wohnungslosenhilfe von einer hohen Dunkelziffer aus.

Wer Warnweste trägt, ist für die Polizei unsichtbar

Der amtierende Bundespräsident hat in seiner Promotion "Bürger ohne Obdach" schon 1992 einen Vorschlag für ein "Grundrecht auf Wohnen" formuliert. Zum letzten Tag der Wohnungslosen lud Frank-Walter Steinmeier (SPD) Betroffene ins Schloss Bellevue. Erst kürzlich gab er ein Interview, das in den Dezember-Ausgaben verschiedener Straßenzeitungen erschienen ist. "Wohnungslose Menschen geraten im Alltag zu oft aus unserem Blickfeld", sagt er da. Steinmeier verweist auch auf die steigende Zahl von Haushalten, die aktuell in finanzielle Schwierigkeiten geraten und betont: "Die Angst vor Wohnungsverlust ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen." Beim Kampf gegen Wohnungslosigkeit komme es laut dem Bundespräsidenten "vor allem auf die Kommunen an. Wir sehen, dass sich viele der Probleme vor allem unmittelbar vor Ort lösen lassen."

Für Stuttgarterinnen und Stuttgarter ist das keine frohe Botschaft. Hauptursache für Wohnungslosigkeit sind nach wie vor zu hohe Mieten. Diese steigen in der Landeshauptstadt deutlich schneller als im baden-württembergischen Schnitt. Die Quote an Wohnungslosen ist bereits die zweithöchste in der Republik (nach Hamburg) und der Bau bezahlbarer Wohnungen hinkt weiter dem vorhandenen Bedarf hinterher.

Im "Zielkonzept für eine lebenswerte Innenstadt" verspricht die Stadtverwaltung zwar mehr "Räume zum Flanieren und Verweilen", zudem solle die "Aufenthaltsqualität im gesamten Gebiet weiter erhöht" werden. Doch beim hier exemplarisch genannten Neubau der 100 Millionen Euro teuren Straßenbahn-Haltestelle "Staatsgalerie" wurden Bänke gewählt, auf die sich niemand legen kann.

Um wenigstens ein symbolisches Zeichen gegen die Ausgrenzung der Ärmsten zu setzen, haben nun zwölf junge Männer und Frauen Handarbeit verrichtet, also die 60 Stahlwinkel vor der leerstehenden Bank abmontiert. Bei fast allen hat ein Akkuschrauber gereicht, in zwei Fällen musste die Flex ran. Damit sie ihre Arbeit ungestört verrichten konnten, haben sich die Aktivist:innen neonorange Warnwesten übergestreift – und der Trick funktioniert verblüffend gut: Nach etwa zehn Minuten hält ein Streifenwagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Aus dem Auto heraus beobachten zwei Polizisten das Geschehen eine Weile lang und kommen offenbar zu dem Resultat, dass hier alles seine Ordnung hat. Als sie aussteigen, laufen sie jedenfalls in die entgegengesetzte Richtung los und kommen auch nicht mehr wieder.

Um im Zweifelsfall nur wegen Diebstahl der Stahlwinkel angezeigt zu werden, haben die falschen Bauarbeiter:innen die Schrauben und Muttern am Tatort zurückgelassen. "Legal war unsere Aktion vermutlich nicht", sagt einer, der dabei war. Aber allen, die sich darüber aufregen, rät er, ihre Prioritäten neu zu sortieren.


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3 Kommentare verfügbar

  • Alfred
    am 23.12.2022
    Antworten
    @Jogi: endlich mal ein sinnvoller Kommentar ohne verbales Anspucken. Ja, so ist es.
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