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Obdachlosenhilfe in Stuttgart

Zuerst die Wohnung

Obdachlosenhilfe in Stuttgart: Zuerst die Wohnung
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Obdachlosigkeit ist ein Thema, mit dem sich kaum einer so intensiv beschäftigt hat wie Andreas Strunk, der Gründer der Ambulanten Hilfe Stuttgart. Ein Besuch beim emeritierten Professor für einen Blick zurück.

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"Nichts mehr davon, ich bitt' euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen, habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst." Zugegeben, das Schiller-Zitat ist geklaut: aus der Einleitung von Andreas H. Schmidt, Redakteur der Straßenzeitung "Trott-War", zu Andreas Strunks Buch "Ambulante Wohnungslosenhilfe". Strunk hat die Ambulante Hilfe in Stuttgart in den 1970er-Jahren gegründet. Das Cover des Buchs zeigt den Abbruch des ehemaligen Obdachlosenasyls in der Nordbahnhofstraße, das er einst geleitet hat. Ein sprechendes Bild.

Eigentlich war Strunk Architekt. 1943 geboren, hat er das Fach, nach einem kurzen Versuch mit der Theologie in Tübingen, in Stuttgart studiert und wurde bald Mitarbeiter, dann auch Redakteur der hier gegründeten, heute in Berlin ansässigen linken Architekturzeitschrift "arch+". "Sachzwang herrscht dort, wo die Institutionen der Öffentlichkeit vertrocknet sind", schreibt er im Juli 1970 in einem Artikel zum Thema "Provocacy Planning" über "Altenwohnen in Stuttgart-Ost". Ein Zitat, das viel von seiner Haltung verrät.

Wie aber kommt man von der Architektur zur Obdachlosenhilfe? "Das kann ich Ihnen erzählen", sagt Strunk, der mit seinen fast achtzig Jahren noch immer viel als Berater unterwegs ist. Im September war er bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der selbst 1991 eine Doktorarbeit unter dem Titel: "Bürger ohne Obdach" angefertigt hat. An den Wänden von Strunks Wohnung hängt Kunst, wo immer sich Platz findet. In seinen Regalen stehen heute aktuelle Bücher: Doug Sanders' "Arrival City"; Werke von Thomas Piketty und David Graeber, dem Initiator von Occupy Wall Street.

Gute Architektur? Die Betroffenen fragen!

Architektur als ästhetische Selbstverwirklichung war nicht das, was Strunk interessierte. Vielmehr ihre soziale Funktion, insbesondere der Zusammenhang von Psychoanalyse und Städtebau. Gemeint sind Namen wie Alexander Mitscherlich, der 1965 das berühmte Buch "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" veröffentlicht hatte, oder dessen Mitarbeiter Alfred Lorenzer – auch er ursprünglich Architekt –, der 1968 ein Büchlein mit herausgegeben hatte über "Architektur als Ideologie".

An der Uni war Strunk an mehreren Forschungsprojekten beteiligt. In einem ging es um die "Wohnsituation ausländischer Arbeitnehmer in Baden-Württemberg", gefördert durch das Arbeits- und Sozialministerium des Landes. In einem anderen um Partizipation, finanziert von der VW-Stiftung, genauer gesagt um die "Demokratisierung der Stadtplanung durch operablen Medieneinsatz". Beteiligt war auch der spätere Gründer des Künstlerhauses Ulrich Bernhardt. "Wenn man brauchbare Architektur will", so Strunk, "muss man die Betroffenen fragen." Damals eine neue Erkenntnis.

Für das Sozialamt Stuttgart verfasste Strunk eine Studie über die "Wohnraumversorgung der Über-65-Jährigen auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt". Darin vertrat er die These, es sei besser, Wohnungen für alleinstehende ältere Menschen mit Nachbarschaftshilfe zu schaffen, statt sie in Heime einzuweisen. Eine Forderung, wie sie heute die Architektenkammer vertritt, ohne dass sich seither viel getan hätte. Sie stieß aber auf den Widerstand der Altenheim-Träger, die verhinderten, dass Strunks Gutachten in den Sozialausschuss des Gemeinderats gelangte.

1975 ist "Normalisierungsarbeit" angesagt

Dieter Rilling, von 1973 bis 1991 Leiter des Stuttgarter Sozialamts, fand Strunks Ideen dagegen gut. Er war damals auf der Suche nach einem Leiter für das Obdachlosenasyl – so nannte sich das – in der Nordbahnhofstraße. Ein stadtweit berüchtigter Ort. Bis zu 16 Männer mit vielen Problemen schliefen in Stockbetten in einem Raum und wurden morgens um acht vor die Tür gesetzt. Die Beschäftigten hatten keine Ausbildung in Sozialarbeit. Sie hatten eine "Bullenmentalität", sagt Strunk, der den Job annahm – obwohl er weniger verdiente als an der Uni und der negative Ruf der Einrichtung auch auf ihn selbst abfärbte.

"Wir dürfen mit den Menschen so nicht umgehen." Das war seine Überzeugung. Was er dann tat, als er 1975 Leiter der Unterkunft wurde, nennt er Normalisierungsarbeit. Menschen ohne Wohnung waren damals mit jahrhundertealten Vorurteilen konfrontiert. Sie wurden selbst für ihre Lage verantwortlich gemacht und erhielten wenig Unterstützung. "Verkannt wurde damals", so Strunk heute, "dass Nichtsesshaftigkeit vor allem durch die Art und Weise des Umgangs der Stellen erzeugt wurde, die als Helfer angetreten waren."

Gibt es einen Unterschied zwischen Nichtsesshaften, Wohnungslosen und Obdachlosen? Das sei ein Streit um des Kaisers Bart, meint Strunk, der sich sogleich daran machte, die Unterkunft zu reformieren. Die Grundlagen fand er in einer Broschüre des Diakonischen Werks, die vier Forderungen stellte: rechtskonforme Sozialarbeit, Einrichtung zentraler Beratungsstellen, Ausbau ambulanter Hilfen und Weiterentwicklung der kommunalen Wohnungspolitik.

Obdachloses Paar darf zusammenbleiben

Dieser Linie folgte Strunk, der zugleich in der Nordbahnhofstraße zusammen mit den Bewohnern eine Fülle von Initiativen entwickelte. Mit Hilfe des Kommunalen Kontakttheaters – das soeben im Cannstatter Kulturkabinett sein fünfzigjähriges Bestehen gefeiert hat – versuchte er, die Kontakte zur Nachbarschaft zu verbessern. Er machte Umfragen im Obdachlosenasyl, wo sich auch eine "Bürgerinitiative der Heiminsassen" gründete. Es gab eine Heimzeitung, Kooperationen mit Hochschulen und anderes mehr.

Ein Schlüsselerlebnis war, dass gleich im ersten Jahr ein obdachloses Paar um Aufnahme bat. Sie wurden getrennt untergebracht. Strunk fand das unerträglich und bemühte sich um ein Hotelzimmer und dann um eine Wohnung. Dies war der Ausgangspunkt zur Gründung der Ambulanten Hilfe, als Verein Ende 1977 gegründet, während früher im selben Jahr schon die Zentrale Beratungsstelle (ZBS) eingerichtet worden war. Stuttgart war in diesem Bereich führend, wenn auch nicht allein. Es gab einen regen Austausch mit anderen Kommunen.

Es gab freilich auch andere Initiativen, vor allem eine "Initiativgruppe Nichtsesshafte" unter Leitung eines Mitarbeiters des Sozialamts, der dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW) angehörte – und später wegen Mietwucher vor Gericht stand. Er gab eine Zeitschrift "Der Berber" heraus. So nannten sich auch seine Anhänger. Sie gebärdeten sich radikal. "Strunk, du Schwein", skandierten sie, als sie den Leiter der Nordbahnhofstraße auf einer Demonstration am Straßenrand erblickten. Sie warfen ihm vor, er führe die Wohnsitzlosen wieder in die kapitalistische Ausbeutung zurück.

Wenig Teilnehmende, viel dicke Luft

Bundesweit Aufsehen erregte 1981 ein Berberkongress. "Statt der Tippelbrüder nur Presseleute", spöttelte indes der Reutlinger Generalanzeiger: "Reinfall beim Berberkongress – von insgesamt 80.000 Nichtsesshaften kamen nur 30 nach Stuttgart."

Der Berberkongress trug allerdings dazu bei, die Atmosphäre zu vergiften. Einzelhändler und Fremdenverkehrsverbände rebellierten. "Randgruppen nicht noch weiter entgegenkommen", forderte das "Stuttgarter Wochenblatt". Die Stimmung kippte. Dazu kam, dass die Stadt Stuttgart ihre Wohnungslosenhilfe von Geld auf Sachmittel umstellte. Rechtswidrig, fand Strunk, der erfolgreich dagegen klagte. Das passte wiederum Oberbürgermeister Manfred Rommel nicht. "Der Strunk muss weg", soll er gesagt haben. Und so kam es.

Strunk ging ans Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik nach Frankfurt, dann nach Bremen, wo er schließlich auch promovierte: über Innovation im Sozialleistungssystem. Er erhielt einen Ruf an die Hochschule Esslingen, unterbrach dann aber seine Lehrtätigkeit, um für die Wohnungswirtschaft tätig zu werden. Seit 2007 ist er emeritiert. Aber von Ruhestand lässt sich kaum reden, dafür ist seine Expertise zu sehr gefragt.

Gegen Stigmatisierung und für "Housing first"

Wie wird man wohnungslos? "Es gibt keine monokausale Erklärung", erwidert Strunk. Ökonomische Gründe spielen natürlich eine Rolle, aber an erster Stelle nennt er eine Erfahrung, mit der er im Auf und Ab seiner Laufbahn oft konfrontiert war: Wer über längere Zeit einer Stigmatisierung ausgesetzt ist, übernimmt schließlich die negativen Urteile, die andere über ihn fällen. Die Menschen trauen sich nichts mehr zu. Manch einer hat bei Mietschulden dann Angst, zur Beratungsstelle zu gehen. Erst an letzter Stelle nennt Strunk persönliche Gründe wie eine gescheiterte Ehe.

Und wie lässt sich gegen Wohnungslosigkeit vorgehen? Darauf hat Strunk eine klare Antwort. "Housing first", lautet ein neues Schlagwort, das aus New York kommt und nun auch in der EU Gehör findet. "Zuerst die Wohnung", heißt das bei Strunk. In einem neuen, noch nicht erschienenen Buch gelangt Thomas Specht, langjähriger Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, zu der Erkenntnis, das Konzept sei eigentlich vor 45 Jahren in Stuttgart erfunden worden.

Die Ambulante Hilfe ist auf diesem Gebiet auch selbst aktiv geworden. Sie besitzt mittlerweile 15 Häuser mit über 150 Wohnungen. Ermöglicht hat dies ein "kunstvoller Weg der Finanzierung", wie Strunk sagt: Grundvoraussetzung sei ein günstiges Grundstück, in der Regel von der Stadt. Eine "intelligente Spendenpolitik", so Strunk, verschafft der Ambulanten Hilfe ein Eigenkapital, das durch ergänzende Mittel der Diakonie komplementiert wird. Sondermittel für Obdachlosenunterkünfte stellt auch das Land zur Verfügung: ein Programm, das noch nicht einmal ausgeschöpft wird.

Aber um bei den galoppierenden Mietsteigerungen, der derzeitigen Inflation und den nicht im selben Maß steigenden Einkommen etwas zu bewirken, müssen auch andere aktiv werden. "Wir brauchen neue Formen von gemeinnützigem Wohnungsbau", ist Strunk überzeugt.


Info:

Die Unterlagen von Andreas Strunk gingen inzwischen ans Stadtarchiv Stuttgart. Das Stadtarchiv veranstaltet am morgigen Donnerstag, 13. Oktober 2022 von 9 bis 17.30 Uhr die Tagung "Obdachlosigkeit. Historische und aktuelle Perspektiven auf ein ungelöstes Problem". Die Tagung kann auch online verfolgt werden. Nähere Informationen hier.


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