Als man Peter Schuhmacher mitteilt, dass er eigentlich tot ist, plant er gerade einen Neuanfang: Er hat es im August 2002 geschafft, weniger zu trinken, er will endgültig weg von der Straße. Er hat sich bei der Obdachlosenhilfe im hohenlohischen Künzelsau gemeldet und Pläne gemacht, sesshaft zu werden, in der Nähe seines Heimatorts Bieringen. Er ist 54 Jahre alt und will zurück. In seine Heimat. Peter war jahrelang nur auf Durchreise, schon oft wäre er gerne nach Bieringen zurückgekehrt. Im August 2002 ist er diesem Traum ganz nahe, als ihm der Tod einen üblen Streich spielt. Ein Polizist hatte irgendwo eine Leiche mit Peters Ausweis in der Tasche gefunden. Den hatte er wohl irgendwann in seinem Wanderleben verloren.
Die Todesnachricht platzt wie eine Bombe in Peters Heimatort Bieringen, wo ihn alle Pitt nennen und fast alle seine Geschichte kennen. Schon gehört, unser Pitt ist gestorben, erzählen sie sich auf dem Sportplatz oder im kleinen Dorfladen. Sie halten in der Kirche St. Kilian eine Messe für ihren Pitt. Der hört erst ein paar Tage später davon. "Mir haben sich sofort die Haare gesträubt", sagt er und streicht über seine Unterarme, als wollte er die Erinnerung abschütteln. Er bekommt bis heute Gänsehaut, wenn er daran denkt. Dass sie ihn "als Lebendigen begraben" haben, wie er sagt, ausgerechnet in seinem Bieringen, ausgerechnet in dem Moment, als er wieder zurückkehren wollte, das wirft ihn aus der Bahn. Peter Schuhmacher trinkt ein paar Bier zu viel, wie so oft, und taucht ab. Mal wieder.
O. f. W., ohne festen Wohnsitz, stand fast 40 Jahre in seinem Pass. All die Jahre versucht der Mann aus dem Hohenlohischen immer wieder, von der Straße und vom Alkohol wegzukommen. Er will zurück und in der Nähe der großen Linde wohnen, die sein Großvater dort gepflanzt hat. Die Geschichte von Peter Schuhmacher ist eine Geschichte von vielen Neustarts und von geduldigen Helfern. Und mit einem ungewöhnlichen Ende. Aber der Reihe nach.
Mit fünf Mark in der Tasche auf Wanderschaft gegangen
Heute sitzt Peter Schuhmacher am Küchentisch in seiner Wohnung, in der er seit sechs Jahren lebt. 63 Jahre ist er jetzt alt. Er hat ein paar Schrammen davongetragen vom Leben auf der Straße. Auf seiner Halbglatze, ein Stück über der Schläfe, kann man eine tiefe Narbe erkennen. Andere Narben sieht man nicht. Es geht ihm gut. Er hat sich für den Besuch frisch rasiert, seine wenigen grauen Haare sind kurz geschnitten. Wenn er von früher erzählt, stockt er manchmal, als ob es ihn schmerzte, sich zu erinnern. Dann wechselt er das Thema. Lieber erzählt er von den guten Erlebnissen. Öfter setzt auch die Erinnerung aus, der Alkohol hüllt manches in einen gütigen Schleier. Aber wie es angefangen hat, daran erinnert er sich noch gut.
5 Mark und 20 Pfennige hat Peter Schuhmacher in der Tasche, als er 1966 sein Heimatdorf Bieringen verlässt. Da ist er noch keine 20 Jahre alt. Peters Mutter stirbt früh, die Schwestern kümmern sich um den Jüngsten der neun Geschwister. Er ist ein ruhiger Schüler, Ministrant in der katholischen Kirche St. Kilian. Und er wächst mit einem angeborenen Klumpfuß auf. Der Vater schimpft, weil das Kind immer teure Schuhe braucht. Mit dem großen, strengen Hausherrn gibt es auch sonst viel Streit. Der Junge will nicht auf dem Hof der Familie schuften, keine Äcker pflügen. Peter will lieber mit den anderen Jungen bolzen, statt Kühe zu melken. Er möchte sein eigener Herr sein. "Ich hatte nie Freiheit", sagt er, und da schwingt viel Sehnsucht mit. Eine Schreinerlehre macht er fertig. Dann verkündet er seinen Klassenkameraden: "Ich geh unter die Brücke." Eine Entscheidung, die sein Leben bestimmen wird. "Es hat zu Hause nicht mehr gestimmt, also bin ich ab."
Sein Heimatort ist wie ein Magnet
Das Leben auf Wanderschaft beherrscht Peter bald. Anfangs sucht er regelmäßige Arbeit, nach ein paar Jahren nur noch Gelegenheitsjobs. Oft ist er in der Gegend um Mainz und Mannheim unterwegs. Er arbeitet als Schreiner, als Glasschneider oder auf Baustellen. Je nachdem, wo es Arbeit für ihn gibt. Wenn doch Geld oder Essen fehlt, klingelt er an Türen und bettelt. "Das lernt man automatisch", sagt er. Er klingt stolz, als er die Tricks aufzählt, die er gelernt hat. Als wäre Vagabundieren ein Handwerk. Wenn er sich bis elf Uhr bei einem Sozialamt meldet, kann er den Tagessatz abholen. Mitte der 1990er sind das 8,50 Mark in bar und 8,50 Mark in Gutscheinen für Lebensmittel. Peter weiß auch genau, wo es Häuser für Obdachlose gibt. Wenn er mal wieder auf dem Simonshof bei Bad Neustadt an der Saale landet, begrüßt ihn die Chefin schon: "Herr Schuhmacher, sind Sie auch mal wieder da?"
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!