KONTEXT:Wochenzeitung
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Cap Hoffnung

Cap Hoffnung
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 Fotos: Martin Storz 

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Datum:

14. September 2011, Kontext-Ausgabe 24: Der Campingplatz CAP Rotach in Friedrichshafen ist ein All-inclusive-Campinggelände. Das heißt aber nicht, dass es für die Besucher Drinks bis unter den Tisch und überbordende Essensbüfetts gibt. Es geht um Inklusion, das Konzept einer Gesellschaft, zu der alle gehören, egal wie sie sind. CAP Rotach ist ein Integrationsbetrieb, die Hälfte der Mitarbeiter ist behindert.

Manchmal kommen Journalisten zu Markus Fricker, um sich seinen Campingplatz zeigen zu lassen. "Der Zeltbetrieb ist dieses Jahr gelaufen", sagt Fricker an diesem Tag im September. Fricker zeigt mit seinem an einem blauen Band befestigten Schlüssel auf kahle Stellen im Rasen. "Hier war viel los im Sommer. Sonst würde noch Gras wachsen." Der 45 Jahre alte Betriebsleiter des CAP Rotach steht vor dem modernen Hauptgebäude. Dort ist neben der Rezeption ein Lokal untergebracht; im ersten und zweiten Geschoss werden Gästezimmer vermietet. Etwas abseits wohnen die Dauercamper. Neben verwitterten Vorzelten wachsen dort bunte Blumen, die Stammgäste haben es sich schön eingerichtet.

Icon Archiv-Perle

Icon: Freepik, Bearbeitung: Kontext

Kleine Perlen

Kaum eine Zeitung im Netz hat ein Archiv wie wir: Von der ersten Kontext bis zur aktuellen Nummer sind dort alle Texte als komplette Ausgaben aufrufbar. Viele kleine Perlen schlummern in dieser Sammlung aus sieben Jahren Kontext. Manche davon einfach schön erzählt, andere aktueller denn je, wieder andere entlarvend für das Heute. Über die großen Ferien werden wir für unsere LeserInnen jede Woche eine Geschichte aus dem Archiv holen, die es wert ist, noch einmal gelesen zu werden.

Vor dem Zweiten Weltkrieg sonnten sich hier die Friedrichshafener im Strandbad, nach dem Krieg wurden die ersten Zelte aufgebaut. Lange Jahre war der Platz im Besitz eines Ehepaars. Doch als der Mann gestorben war, verkaufte die Witwe das Gelände. Im Jahr 2003 kam so die Chance für zwei Vereine, nämlich die Körperbehindertenförderung Neckar-Alb und den Verein für sozialpädagogisches Segeln, ein Wunschprojekt zu verwirklichen: einen Campingplatz, der gemeinsam von behinderten und nicht behinderten Menschen betrieben wird. Die zwei Gesellschafter des CAP Rotach mussten zunächst einmal jede Menge Geld investieren. Rund zwei Millionen Euro verschlangen die Sanierung der Anlage sowie der Bau des Hauptgebäudes. Inzwischen verzeichnet CAP Rotach 30 000 Übernachtungen pro Jahr. Der Betrieb trägt sich selbst und wirft sogar einen Überschuss ab, obgleich nicht allzu groß.

Der Rundgang über den Platz dauert nicht lang. Rechts und links rahmen ihn Naturschutzgebiete ein, am oberen Ende eine breite Straße. Markus Fricker geht mit seinen Besuchern zum Ufer am Ende des leicht abfallenden Geländes. Vom See her weht ein frischer Wind, die Gischt der Wellen verbirgt kaum, dass das aufgewühlte Wasser darunter an diesem Tag mehr braun als blau ist. Frickers Schlüsselband flattert. "Wir sind einer der kleinsten Campingplätze am Bodensee", sagt er, während er die Augen zusammenkneift und aufs Wasser schaut. 250 Besucher haben auf dem CAP Rotach Platz, dann ist er ausgebucht. Fricker würde das Areal gerne erweitern, doch das ist nicht möglich. 25 Mitarbeiter kümmern sich um den Betrieb, die Hälfte von ihnen hat ein Handicap, psychische wie geistige Behinderungen. "Es gibt viel größere Campingplätze anderswo am Bodensee, die mit genauso vielen Mitarbeitern auskommen", berichtet er. "Aber unsere Aufgabe ist es ja auch nicht, ein Restaurant zu betreiben oder einen Zeltplatz. Unsere Aufgabe ist es, Stellen zu schaffen."

Isabel Zwigard hat einen dieser Arbeitsplätze. Die 27-Jährige erzählt, sie sei während ihrer Lehre zur Hauswirtschaftshelferin einmal eine Treppe hinabgestiegen, ein paar Flaschen unter dem Arm geklemmt. Sie kam ins Straucheln, stürzte. Zwigard zieht den Ärmel ihres dunklen Pullovers zurück, breite Narben führen quer über das Gelenk. Sie kann mit der rechten Hand keine schweren Sachen mehr heben, sie ist nicht mehr so beweglich. "Ich war damit plötzlich schwerbehindert", sagt sie. Später putzte sie in einem Hotel, merkte, dass sie zu langsam war. Dann wurde sie arbeitslos.

Anfangs hat Isabel Zwigard den Gedanken, behindert zu sein, weit von sich geschoben, hat gezögert, einen Ausweis zu beantragen. Nicht, dass sie Berührungsängste gegenüber Behinderten gehabt hätte; als Kind war sie mit Gehörlosen befreundet, ihre Schule lag direkt neben der Schule ihrer Freunde. "Ich wusste aber, dass einige in meinem späteren Freundeskreis mit meiner Behinderung nicht klarkommen würden. In der Tat habe ich auch einige Freunde deswegen verloren", berichtet sie. Zwigard lacht viel, ist ein fröhliches Energiebündel. Ihr geht es gut. Damals war das anders. "Ich war die Einzige mit einem Schwerbehindertenausweis", sagt sie.

Dieser Schwerbehindertenausweis war es aber, der ihr zu ihrer jetzigen Stelle verhalf. Das Arbeitsamt steckte sie in eine Maßnahme, so kam sie für ein einjähriges Praktikum nach Friedrichshafen. Auf dem CAP Rotach bäckt sie nun Kuchen für die Gaststätte, putzt die Sanitärräume und Gästezimmer – in Festanstellung. Sie ist glücklich. "Es ist toll hier, wie in einer Familie. Meine zwei Chefs sind supernett." Mit ihrem Freund plant sie, nach Friedrichshafen zu ziehen. Sie ist im vierten Monat schwanger, will aber auch als Mutter weiter für das CAP Rotach tätig sein. "Kuchen kann ich ja auch zu Hause backen, oder?", sagt sie – und lacht wieder.

"Draußen muss man schnell sein, funktionieren"

Die Geschichte von Isabel Zwigard zeigt: Arbeitgeber schreckt eine Behinderung oft ab, selbst wenn es nur eine nicht optimal funktionsfähige Hand ist. Dabei ist die Isabel mit der langsamen Hand kein anderer Mensch als die Isabel mit den flinken Fingern. Häufig fehlt in Betrieben das Verständnis für Menschen wie sie. Dazu kommen manchmal Selbstzweifel bei den Behinderten selbst. Ein Unternehmen wie CAP Rotach erfüllt also mehrere Funktionen. Formal soll die gemeinnützige Integrations-GmbH ihre Mitarbeiter fit für den ersten Arbeitsmarkt machen. Tatsächlich geht es um weit mehr.

Menschen, die aus der Gesellschaft gefallen sind oder sich bisher nie dazugehörig fühlten, weil sie wegen ihrer Andersartigkeit gemieden wurden, entdecken ihren Wert neu, polieren ihr Selbstwertgefühl. "Außerhalb geht man anders miteinander um", sagt Isabel Zwigard. "Draußen muss man schnell sein, funktionieren. Hier weiß man, dass das nicht alle können, und achtet mehr auf den Einzelnen. Das tut gut."

Markus Fricker will diesen Aspekt nicht in den Vordergrund rücken. Er ist ein Bastler, ein Macher, gelernter Kaufmann, kein Sozialpädagoge. Das überlasse er seiner Frau, sagt er, die sei da ein Naturtalent. Fricker betont, dass er CAP Rotach unternehmerisch führen müsse. Auch eine Integrations-GmbH stehe im Wettbewerb. Das Lohnniveau sei branchentypisch, also niedrig. Und sozialpädagogische Fachliteratur lese er auch keine am Wochenende. Doch wenn man ihn mit seinen Mitarbeitern erlebt, merkt man, dass er sehr wohl etwas davon versteht – und nicht nur kühl Zahlen hin- und herwendet. "Man muss einfach sehen, was man seinen Leuten abverlangen kann. Was heute geht, geht morgen nicht und übermorgen vielleicht wieder", sagt er.

Ein Job im CAP Rotach – auch für den Leiter eine neue Freiheit

Vielleicht braucht es für so einen Job jemanden mit einer Lebensgeschichte wie ihn. Frickers Weg war lang und kurvenreich: Nach seiner Lehre habe er mal zwei Semester "was studiert", sagt er, Jura. Dann arbeitete er in der Autoindustrie und im Handel. "Es hat mir aber nach einigen Jahren keinen Spaß mehr gemacht, mich mit Dingen zu befassen, die mir zu fern lagen", sagt er. "Es war Zeit zu wechseln." Er wollte wieder mit Menschen zu tun haben, fühlte sich aber "in dem Korsett eines SAP-Systems gefangen".

Ein Praktikum in Friedrichshafen im März 2006 war der Einstieg zu einer raschen Karriere. Vier Monate später wurde er Betriebsleiter des CAP Rotach. Seitdem genießt er die neu gewonnene Freiheit – und die Aussicht. "Wir haben zwar eine Wohnung in Friedrichshafen, aber auch ein Zimmer hier. Den Seeblick kann sich ein Normalsterblicher nicht leisten."

Fricker hatte schon in seiner Jugend mit Menschen mit Handicap zu tun. Mit Behinderten zusammenzuarbeiten war für ihn keine große Umgewöhnung. "Wir sind gemeinsam auf Freizeiten gefahren. Ich war zuerst als Teilnehmer dabei und später als Teamer." Fricker sagt, das sei damals schon Inklusion gewesen, nur habe es keiner gewusst.

Inklusion ist das alles beherrschende Konzept im Umgang mit Behinderten, es hat die Integration abgelöst. Der Begriff steht für eine neue Denkweise. Es geht nicht nur darum, andersartige Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, sondern auch um ein Wertesystem, das Andersartigkeit als Bereicherung versteht. Inklusion zielt auf alle Andersartigen – Behinderte, Senioren, Ausländer, Homosexuelle – und auch Nicht-Andersartige. Und immer auf Gruppen, also etwa Schulklassen mit behinderten und nicht behinderten Schülern oder eben einen Campingplatz. Vereinfacht gesagt: Während Integration ausgeschlossene Gruppen in die Gesellschaft eingliedern will, setzt die Inklusion früher an. Es soll vermieden werden, dass Menschen ausgeschlossen werden und Integration überhaupt erst nötig wird.

Schotter ist schlecht für den Rollstuhl

Das Konzept stammt aus den USA. Dass es Konjunktur in Deutschland hat, ist wesentlich auf ein Papier der UNO zurückzuführen. Eine Arbeitsgruppe hatte das sogenannte Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ausgearbeitet. Seit März 2009 gilt es auch für Deutschland. Dieses Abkommen würdigt Behinderungen als Teil der Vielfalt menschlichen Lebens und distanziert sich damit von dem Prinzip der Fürsorge. Und es fordert, dass das Anderssein nicht mehr als störende Ausnahme wahrgenommen wird, sondern als Bereicherung.

Die Bundesregierung hat im Juni dieses Jahres einen nationalen Aktionsplan beschlossen, der für das kommende Jahrzehnt Wege aufzeigt, wie Inklusion gefördert werden kann. Auch die neue grün-rote Landesregierung will die Linie der alten Regierung fortführen und setzt verstärkt auf Inklusion.

"Behinderung findet im Kopf statt", sagt Siegfried Gschwind aus Stuttgart. "Die Menschen sind nicht böse, sie denken nur nicht daran." Der 58-Jährige ist seit einem Tag auf CAP Rotach. Er steht in einem Rollstuhl vor seinem Wohnmobil, das mit einer extrabreiten Tür und einer Hebebühne versehen ist, sodass er es ohne fremde Hilfe befahren kann. Er will den Platz testen, ob er für einen Ausflug mit Freunden und Bekannten geeignet ist. Neben dem Eingang zu seinem Wohnmobil steht ein Zelt. Es ist die Garage für seinen Elektrorollstuhl. "Der Weg hier geht gar nicht", sagt er und zeigt auf den Straßenbelag vor dem Wohnmobil, Schotter. Mit dem Rest ist er jedoch hoch zufrieden.

Gschwind ist seit einem Autounfall vor 40 Jahren auf den Rollstuhl angewiesen. Er reist viel mit seiner Frau, war in Gibraltar und am Nordkap und fährt regelmäßig an den Gardasee. Die italienischen Plätze seien inzwischen sehr behindertenfreundlich, sagt er, und in Amerika habe man als Rolli-Fahrer ohnehin kaum Probleme. Deutschland müsse dagegen noch aufholen. Wenn Architekturstudenten an der Universität mit behinderten Kommilitonen studieren würden, sagt er, dann würden sie bei ihren Entwürfen auch die Belange Behinderter nicht vergessen.

"Den Zivildienst abzuschaffen ist das falsche Signal"

Die wichtigste Förderung der Inklusion, so Gschwind, hat die Regierung dagegen unlängst gestrichen. Das regt ihn auf. "Den Zivildienst abzuschaffen war das völlig falsche Signal in die Gesellschaft." Er kenne junge Leute, die Mechatroniker gewesen seien oder Automechaniker. "Die wollten nach dem Zivildienst nichts mehr mit Maschinen zu tun haben, sondern mit Menschen." Gschwind wünscht sich ein verpflichtendes Sozialjahr für alle. "Der Gesellschaft zu dienen schadet niemandem", sagt er, "im Gegenteil, es hilft jedem, auch dem späteren Manager. Und vor allem würde es die Inklusion extrem voranbringen."

Vielleicht würde so irgendwann ganz selbstverständlich, dass Anlagen wie CAP Rotach von Behinderten und Nichtbehinderten gemeinsam betrieben werden. Wie zum Beispiel für Detlef Glahé. Der Feuerwehrmann in Rente aus Recklinghausen kommt gerade mit seiner Frau im Wohnmobil auf dem Platz an. "Es ist ein Highlight, wenn man mit dem Wohnmobil in Stadtnähe bleiben kann", sagt Glahé, fährt sich mit der Hand durch seinen Bürstenhaarschnitt, schaut einmal über das Gelände und erzählt dann weiter von seinen Urlaubsplänen.


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