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Fotoausstellung zur Kellerschenke

Kalt und fettig

Fotoausstellung zur Kellerschenke: Kalt und fettig
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Mit ihren holzgetäfelten Hinterzimmern ermunterte die Kellerschenke unter dem Stuttgarter Gewerkschaftshaus zu Kontroversen und Intrigen. Eine Ausstellung erinnert an das Kultlokal und zeigt die glücklich verunglückten Schnappschüsse eines Küchenchefs, der für seine "Ente im Mayonnaise-Mantel" eine Medaille bekam.

In grauen Vorzeiten, als die Linke Sahra Wagenknecht noch leiden konnte, nutzte die Partei den prominenten Namen, um die Massen herbeizuködern. Doch weil sich manche Dinge niemals ändern und sich das Verkehrschaos rund um Stuttgart als katastrophische Konstante erweist, blieb der Stargast 2011 bei der Anreise in einem Tunnel stecken, und das Publikum im Gewerkschaftshaus musste mit Michael Schlecht Vorlieb nehmen. Erwartungsgemäß stellte der damalige Bundestagsabgeordnete das globale Finanzkasino ebenso an den Pranger wie die Agenda 2010. Und der "Tagesspiegel" führte zu Protokoll: "Sahra Wagenknecht ist noch immer nicht da. Also redet Schlecht weiter, er ist jetzt so weit: 'Hartz IV muss abgeschafft werden, das ist eine Demütigung.'" Doch eine Zuschauerin fragt sich, was folgen soll, bekommen wir dann gar nichts mehr? "Hmm, das klären wir später in der Kellerschenke", verspricht Schlecht.

Das rustikale Lokal im Untergeschoss des Gewerkschaftshauses war bis zu seiner Schließung vor zehn Jahren ein beliebter Sammelpunkt für die linke Szene, wobei kontroverse Debatten durch das Vorhandensein holzgetäfelter Hinterzimmer begünstigt wurden. Er habe hier "Bündnisse und böse Intrigen" erlebt, sagte einmal der 2013 verstorbene SPD-Politiker Peter Conradi. Wenige Monate vor der Schließung wurde in der Kellerschenke noch eine Art Tribunal einberufen, um Streitereien zwischen Pro Bahn und dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 zu verhandeln. Die "Stuttgarter Zeitung" adelte das Untergrundlokal als "Gulaschkanone des Arbeitskampfes" – und die Küche tat alles, um diesem Anspruch gerecht zu werden: Als etliche Beschäftigte im öffentlichen Dienst 2006 die Arbeit niederlegten, erinnert sich die langjährige Chefin Edith Küster, wie sie die Streikmoral in Stuttgart mit 1.000 Portionen des köstlichen Klassikers gestärkt haben.

In noch graueren Vorzeiten – denen der Schwarz-Weiß-Fotografie – war in dem urigen Ambiente womöglich die "Geburtsstunde aller heutigen Kochshows" zu bezeugen. Jedenfalls glaubt der Stuttgarter Künstler und Autor Harry Walter nicht, dass er zu weit geht, wenn er das behauptet: "Eines der vielen Dinge, auf die Stuttgart stolz sein könnte, wenn es nicht andauernd falsche Prioritäten setzen würde", führte er Mitte Oktober bei seinem Vortrag "Kalter Krieg und Kalte Platten – Über den Fettbedarf der deutschen Nachkriegsgesellschaft" im Gewerkschaftshaus aus. Er selbst hat nur eine einzige Kindheitserinnerung an die Kellerschenke, wobei ihm insbesondere die in den Untergrund herab führende Treppe im Gedächtnis geblieben ist. Sein Vater Richard Walter war hier von 1951 bis 1958 Küchenchef, und da er sein Handwerk im edlen "Badischen Hof" zu Baden-Baden gelernt hatte, verschmolzen auf der Speisekarte die ansonsten unversöhnlichen Sphären von Bourgeoisie und Proletariat zu Kreationen von gehobener Kuriosität. Kein "mit Petersilie getarnter Kantinenfraß", stellt Walter junior klar, "aber auch keine Amselzungen mit Kaviarhäubchen auf Blattgoldsalat, sondern alles, was einem zwischen Wurstsalat, Kaiserschmarrn und Filetbeefsteak à la Mayer so einfallen kann".

Und das ist eine Menge. Im Fotoalbum der Familie Walter nahm etwa die "Ente im Mayonnaise-Mantel mit gelierten Früchten im maurischen Stil" eine ganze Seite ein. Das Werk veranlasste den Hotel- und Gaststättenverband dazu, dem Vater eine Medaille für hervorragende Leistungen zu verleihen, die ihren Platz neben dem Gefrierfleischorden aus dem Zweiten Weltkrieg fand (also dem Orden für die Winterschlacht im Osten 1941/42). Im Gegensatz dazu blieb die ähnlich konzeptionierte, nämlich ebenfalls mit Mayonnaise ummantelte "Selleriebombe" ungekrönt, also verkannt.

Küchenpsychologische Deutungsversuche

Allen Ernstes volle Teller

Unter Gastro-Pseudonym hat der Schriftsteller Heinrich Steinfest der Kellerschenke ein paar Zeilen in seinem Roman "Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte" gewidmet: "Das Lokal, das der Katholik Borowski auswählte, nannte sich Gewerkschaftskeller und besaß eine nüchterne, jedoch nicht kalte Rustikalität. Wirkte mehr ländlich als städtisch, trotz der Glasfenster im Stil des sozialistischen Realismus, durch die künstliches Licht drang. Tageslicht gab es hier nicht. Was in keiner Weise störte. Überhaupt vergaß man, wenn man dort unten saß, dass man sich mitten in Stuttgart befand. Aber das war es nicht, warum der Vielesser Borowski den Gewerkschaftskeller hoch schätzte. Was ihn anzog, war das erstaunliche Zusammentreffen ziviler Preise mit großen Portionen, anders gesagt: Hier wurden die Teller allen Ernstes bis zur Gänze gefüllt."  (min)

Was den Vater veranlasste, Knusprigkeiten derart unknusprig einzukleiden, ist auch dem Sohn ein Rätsel. Die 1950er-Jahre seien eine Zeit gewesen, in der das Verlangen nach Vergangenheitsbewältigung um ein Vielfaches kleiner gewesen sei als das nach Fett, sagt Harry Walter. Wenn überhaupt, könne er sich Mayonnaise-Mäntel nur durch die allgemeine Versiegelungswut erklären, die im jungen Nachkriegsdeutschland auch in Gestalt von Beton, Heimatfilm oder Schlagermusik in Erscheinung trat. "Nach all den Unappetitlichkeiten der Vergangenheit, den Ruinenlandschaften und den ruinierten Biografien", so Walter, "war das Bedürfnis nach heiler Welt durchaus nachvollziehbar. Eine heile Welt erkennt man daran, dass sie keine Löcher und Risse aufweist, also nichts, was den Eindruck erwecken könnte, dass unter der Oberfläche etwas Böses lauern könnte. Eine heile Welt ist eine von allen Konflikten bereinigte, von der Sehnsucht nach Harmonie bestimmte, eine glattgestrichene Welt."

Aber ein allzu sattes Auge, das sich allein durch äußere Erscheinung einlullen lässt, verkennt die unheimliche Kehrseite all dessen, was keinen Spalt zum Hindurchspähen hat. Das wahrhaft Hermetische trotzt jeder Transzendenz, die Erkenntnis unbekannter Inhalte wird erst durch den Bruch des Siegels möglich. Was aber, wenn das, was freigesetzt wird, mehr ist, als ein Mensch verkraftet? Was, wenn die durch ein Zubeißen verlustig gegangene Ahnungslosigkeit über das, was unter der Oberfläche liegt, rückblickend als friedliche Insel inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit beseufzt wird? Was, wenn unter dem Deckmantel der Mayonnaise keine Ente schlummert, sondern das kalte Grauen in Selleriegestalt lauert? Versiegelt womöglich nur, wer etwas zu verbergen hat?

"Die von einem seltsamen Schleifenband umkränzte Mayonnaise-Haube hat hier eindeutig eine Tarnfunktion", schreibt Harry Walter über die "hochdekorierte Tellermine" namens Selleriebombe. Wie in der Küche der Kellerschenke Pionierarbeit geleistet wurde, versucht Walter auch anhand der Kalten Platten seines Vaters deutlich zu machen: "Kalte Platten sind Miniaturlandschaften aus Esszitaten mit der Tendenz zum Erhabenen. Die aus Wurst, Zwiebelringen, Tomaten, Mayonnaise und Salzgebäck zusammengesetzten Landschaften beziehen ihren Charme aus dem dekorativen Spiel mit Verwechslungen. Eine mit Mayonnaisetupfern zum Fliegenpilz umgedeutete Tomatenhälfte muss im Zentrum einer von Käsescheibenkaskaden, Pumpernickelabstraktionen, Rosmarinsträußchen und Salzstängelfanfaren durchsetzten Welt wie eine Aufforderung zum Glücklichsein erscheinen."

Mehr noch als die Zubereitung wurde die Präsentation dieser Platten zum Spektakel. Im Gegensatz zu den Performance-orientierten Kochorgien und Küchenschlachten der Gegenwart, die das Fernsehen in Millionen von Haushalten spült, ging es bei der Demonstration der Kalten Platten "nicht um das Vorführen ihrer Herstellung, sondern um die öffentliche Kommentierung ihres Gemachtseins mit anschließender Verköstigung durch das Publikum", hält Walter fest. Vorgeführt wurden die verzehrfähigen Miniaturwunderwelten nicht in der Kellerschenke, sondern ein paar Stockwerke höher, im Festsaal des Gewerkschaftshauses, wobei eine "puristische Strenge" das Geschehen bestimmte: Denn der "Schauwert lag hier nur knapp über dem didaktischen Gebrauchswert". Willfährig aufgesaugt von einem lernbegierigen Publikum, das zum größten Teil aus der Generation der Trümmerfrauen und Soldaten stammte.

Das doppelte Bild als bereicherndes Scheitern

Inzwischen ist der Abstieg in die Kellerschenke versiegelt, mit einer Wiedereröffnung ist nicht zu rechnen. Doch wenige Meter über dem aufgegebenen Untergrundlokal, im Erdgeschoss des Gewerkschaftshauses, sind noch bis zum 15. Dezember Aufnahmen zu sehen, die Harry Walter als "erkenntniserweiterte Bildunfälle" bezeichnet. Es handelt sich um versehentliche Doppelbelichtungen seines Vaters aus dem Jahr 1958. Dieses Missgeschick war schon allein deshalb ein Glücksfall, weil es Bildbeschreibungen möglich gemacht hat, die ansonsten kaum vorstellbar wären und isoliert betrachtet ein bisschen so klingen, als habe Hieronymus Bosch einen Fiebertraum erlitten.

Beispielsweise notiert Walter zu den Fotos Dinge wie: "Aus den nackten Schulterblättern eines Küchenangestellten treten die Zahnreihen zweier lachender Frauengesichter hervor." Oder: "Ein riesiger Küchenherd fährt durch ein Herrensakko." Oder: "Einer auf einem Feldbett zusammengekrümmten Frau wird von einer anderen Frau tröstend um die Schultern gefasst, wobei aus dem Schwerpunkt der ineinander verschränkten Körper ein hornbebrilltes Gesicht aufsteigt, das nichts Gutes verheißt."

Vor allem aber begeistert sich Walter für das Sujet, weil sich beim doppelt belichteten Analogfoto "zwei getrennte Wirklichkeiten auf vollkommen zufällige Weise überlagern" und das Resultat "gerade wegen dieser technischen Fehlleistung wirklichkeitshaltiger" sein könnte, "als es jede der beiden Serien für sich alleine" ist. Im Fall der Bilder aus der Kellerschenke überlagern sich ein rauschendes Fest und Aufräumarbeiten, sodass der gleichzeitige Blick vor und hinter die Kulissen möglich wird. In den Worten Walters: "Die unbeabsichtigte Zusammenschau von Küchenschweiß und Partylaune, von Schuften und Schäkern scheint die Arbeitswelt eines beständig zwischen zwei komplett unterschiedlichen Klimazonen, zwischen den rauen Kommandotönen im Küchentrakt und den alkoholgeschwängerten Sprechblasen in der Gästezone hin und her pendelnden Küchenchefs genauer zu treffen als das, was in einer Werbebroschüre für Kochberufe oder in einem Familienalbum davon übrig geblieben wäre."

Als sie es 2011 schließlich doch noch nach Stuttgart schaffte, landete übrigens auch Sahra Wagenknecht in der Kellerschenke. Dass ihr schon damals in einem der Hinterzimmer die Idee kam, sich mit ihrem prominenten Namen zu verselbstständigen, ist allerdings eine wilde Spekulation, für die es keinerlei Beweise gibt. Die vorhandene Evidenz spricht eher dagegen. Denn, wie der "Tagesspiegel" notiert hat, dauerte der Besuch nur 20 Minuten. Dann zogen die Linken mit ihrem Stargast weiter, spazierten die Börsenstraße entlang zu einem gehobenen "Italiener, den auch die bessere Stuttgarter Gesellschaft gerne besucht", um bei einem guten Glas Wein auf den gelungenen Abend anzustoßen. Ob die Hartz-IV-Bezieherin ihre Frage nach der Alternative zufriedenstellend beantwortet bekommen hat, ist nicht überliefert.

Die Ausstellung "Die Kellerschenke. Fotoausstellung zur Geschichte einer Stuttgarter Institution" ist noch bis zum 15. Dezember 2023 im Stuttgarter Gewerkschaftshaus zu sehen, montags bis freitags zwischen 8:00 und 18:00 Uhr in der Willi-Bleicher-Str. 20. Zur Vernissage am 12. Oktober hielt Harry Walter den Vortrag "Kalter Krieg und Kalte Platten", in dem er unter anderem den Direktvergleich des Fettkünstlers Joseph Beuys mit dem gleichaltrigen Mayonnaise-Designer Richard Walter suchte. Beide sind während des Zweiten Weltkriegs im Feindesland abgestürzt und haben sich in der Nachkriegszeit mit Fett der Volksaufklärung verschrieben. 


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