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Künstlerhaus Stuttgart "Rotting Hegel"

Futter für den Weltgeist

Künstlerhaus Stuttgart "Rotting Hegel": Futter für den Weltgeist
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 Fotos: Jens Volle 

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Den Werken des Philosophen Georg W. F. Hegel rückt das Künstlerhaus Stuttgart mit Pilzen zu Leibe. Die Ernte wird am Samstag in einem Bankett gereicht. "Farm everything", ist das Motto des Leitungsduos Tamarind Rossetti und Stephen Wright.

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Die Werke Georg Wilhelm Friedrich Hegels, Höhenflüge der Geistesgeschichte, herabgewürdigt zur Nahrung von Pilzen: jener niedrigen Lebewesen, die der Stuttgarter Philosoph nicht einmal als genuine Pflanzen betrachten konnte. Das hätte sich der alte Besserwisser wohl nicht träumen lassen. Im Stuttgarter Künstlerhaus findet es statt: Austernpilze laben sich an den Seiten der "Phänomenologie des Geistes", von Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie oder zur Ästhetik.

Die Gruppe Spora aus Bobigny bei Paris, gegründet von der Künstlerin Charlotte Janis und dem Landschaftsarchitekten Roberto Dell'Orco, veranstaltet seit einigen Jahren Ausstellungen, Workshops, Forschungsprojekte und Waldspaziergänge zum Thema Pilze. Als Substrat, um Pilze zu züchten, dienen in der Regel Holzspäne oder Stroh. Doch auch Papier ist geeignet. Tamarind Rossetti und Stephen Wright, das aktuelle Leitungsduo des Künstlerhauses, wollten die Pilzexpert:innen einladen, suchten aber nach einem Stuttgart-Bezug.

"Rotting Hegel" nennen sie den Vorgang, in dieser Einfachheit kaum ins Deutsche zu übersetzen. Ähnlich wie das Motto ihres Programms für das Künstlerhaus: "Farm everything!" Alles wie landwirtschaftliche Produkte anbauen, säen, pflanzen, züchten: Das ist anders, als wenn ein:e Künstler:in ein Werk produziert. Es kommt noch etwas hinzu, was ohne menschliches Zutun passiert: die Arbeit pflanzlicher oder tierischer Akteure. "Rotting Hegel" wiederum impliziert mehr als ein bloß passives "Verrottenlassen": Es ist ein aktives Eingreifen, das die Verrottung herbeiführt.

Ideen säen vom Zentralmassiv bis Stuttgart

Wright, Kunsttheoretiker aus Vancouver, Kanada, dem man seine 60 Lebensjahre kaum ansieht, lebt seit 30 Jahren in Frankreich. Rossetti, 1976 in Kalifornien, USA, geboren, dokumentiert ihre künstlerischen Aktivitäten gern mit Aquarellen. Beide unterrichten an verschiedenen französischen Hochschulen und haben vor sechs Jahren im Zentralmassiv südlich von Limoges einen "Bauernhof in der Wildnis" gegründet – ihre "ferme au sauvage", ein 2.000 Quadratmeter großes Versuchsfeld der Landwirtschaft als künstlerische Praxis.

Das klingt nach idealistischen Träumereien, die unweigerlich auf eine harte Probe gestellt werden. Tatsächlich mussten die beiden schnell feststellen, warum das Ackern sprichwörtlich viel Arbeit steht – in diesem Fall zudem für wenig Geld. Sie gaben nicht auf und fanden eine Lösung: gehobene Küche, Farm-to-Table, mit selbst angebautem Gemüse. Das lief so gut, dass die Leute sagten: Warum stellt ihr für die Landwirtschaft nicht jemanden ein und konzentriert euch aufs Kochen? Sie dachten darüber nach, entschieden sich aber dagegen. Sie wollen keine Hierarchien.

Das Versuchsfeld von Rossetti und Wright ist nicht nur dafür da, Landwirtschaftsprodukte biologisch zu erzeugen. Sie wollen Ideen säen. Das impliziert einen weiten Radius, weit über ihr Dorf im Zentralmassiv hinaus. Als 2023 die Stelle der künstlerischen Leitung des Stuttgarter Künstlerhauses wie alle vier Jahre neu ausgeschrieben wurde, schickten sie eine Bewerbung. Ohne sich große Chancen auszurechnen. Doch unter 57 Bewerber:innen machten sie das Rennen.

Vier Beutel Austernpilze

Was die Berufungskommission überzeugt hat, war gerade der Vorschlag, nicht im üblichen Sinne Ausstellungen zu kuratieren, sondern sich als "usership coordinators" zu verstehen, die alle Aktivitäten der Nutzer:innen des Künstlerhauses koordinieren. "One usership", lautet ihr Slogan. Alle Nutzer:innen sind gleich: ob sie die Siebdruck-, Töpfer- oder Kinderwerkstatt benutzen, im Haus ausstellen, ein Atelier haben, oder dort angestellt sind. Keine Hierarchien.

Das Denken Hegels ist dagegen streng hierarchisch gegliedert: Ein großes Gebäude, das Europäer über Menschen aus anderen Erdteilen stellt, Menschen über Tiere, Tiere über Pflanzen und noch darunter die Flechten, Algen und Pilze. An der Spitze: der weiße Mann, der Philosoph. Dieser Vision ist das Myzel der Austernpilze nun subversiv zu Leibe gerückt. Sie saugen ihre Nahrung aus den Schriften des großen Philosophen, verdauen sie buchstäblich, wie kein Leser sie je verdaut hat. Um dann in einem Bankett am kommenden Samstag selbst wieder als Nahrung zu enden. Transformation nennen Rossetti und Wright das.

Die Idee ihrer Bewerbung war, landwirtschaftliche Aktivitäten in die Stadt zu tragen. Die Arbeit der Bäuerinnen und Bauern erfährt in der Regel wenig Wertschätzung, erklärt Wright, obwohl alle Menschen auf sie angewiesen sind. Die Künstlerhaus-Leiter:innen wollen mit "Farm everything!" den Boden bereiten für eine Begegnung von Landwirtschaft und Kunst. Das hat bereits erste Früchte getragen. Zwei Künstlerinnen, Mitglieder des Vereins, haben für wenig Geld einen Weinberg in Steillage erworben und Ende April zu einem "Wine Bottling Day" eingeladen: Alte Trollinger-Reben, von Hand geerntet, reifen nun zum Künstlerhaus-Hauswein.

Die nächste Station war die Pilzzucht: Hegels Philosophie, auch in Übersetzung, wurde in pH-neutrales Wasser getaucht. An geeigneten Textstellen wurden die Sporen eingestreut und die Bücher in Plastiktüten verpackt. Die nicht ganz keimfreie Atmosphäre am Künstlerhaus bewirkte, dass sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen in manchen der Bücher Fäulnisbakterien eingenistet haben. Doch in der Mehrzahl gediehen die Austernpilze prächtig. Vier volle Beutel waren die Ausbeute.

Künstlerische Heuhaufen und Kimchi auf Schwäbisch

Wright muss noch ein Stück Streuobstwiese sensen. Vor einer Woche hat er an einem Workshop der Stuttgarter Sensenschwinger, ein Projekt des Vereins Bienenschutz Stuttgart, teilgenommen und ist nicht ganz fertig geworden. Das Ergebnis der Mäh-Aktion wird ein Heuhaufen in der zweiten Etage des Künstlerhauses sein. Unter anderem soll dort ein Workshop von Kathrin Böhm und Wapke Feenstra vom niederländisch-deutsch-englischen Projekt "myvillages" stattfinden, das sich seit 20 Jahren mit dem Stadt-Land-Verhältnis beschäftigt. Die beiden wollen den "ländlichen Untertönen" in der Stadt nachgehen, den Beziehungen, die ihre Teilnehmer:innen, etwa über Vorfahren oder Verwandte, zum ländlichen Raum haben.

Ein paar Tage später bietet Paul Sullivan, ein irischer Künstler, der in Liverpool lebt, einen Kimchi-Workshop an. Während einer Künstlerresidenz in Korea hat er die dort omnipräsente, zumeist aus Chinakohl hergestellte, scharfe Beilage kennengelernt. Sullivan zeigt, wie man Kimchi selber herstellt – und auch die schwäbische Variante: das Sauerkraut. Anschließend wird er am Künstlerhaus für eine Woche ein Kimchi-Café betreiben.

Geht es also nur ums leibliche Wohl? Soll alles Geistige, für das Hegel, der Autor der "Phänomenologie des Geistes", wie kein anderer steht, zersetzt werden? "Mitnichten. Hegel hat die Konzeptkunst vorweggenommen", sagt Wright und beeilt sich, die entsprechende Stelle aus den Ästhetik-Vorlesungen herauszusuchen. Die Kunst sei "nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes", steht da. "Damit hat sie für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt".

Andererseits war der Philosoph aber noch ganz in der Vorstellung verhaftet, Werke von Ewigkeitswert zu schaffen. Das ist so nicht haltbar. Wie alles andere unterliegt auch seine Philosophie einem Transformationsprozess. "Auch Büchereien verrotten", sagt Wright.


Das Hegel-Dinner "Dialektik der Myzelien: Ein Bankett" am Samstag, 22. Juni beginnt um 19 Uhr und kostet 39 Euro. Die Zahl der Plätze ist begrenzt. Im Juli wird Stephen Wright unter dem Titel "Farming Hegel" einen Vortrag im Hegelhaus halten – sobald der Termin feststeht, wird er hier veröffentlicht.

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