EM in Stuttgart, was ein Wahnsinn. Die Stadt – gestopft voll, mehrere Plätze sind der Öffentlichkeit entzogen und in EM-Blau gekleidet, alles Mögliche gibt es schon wieder in Deutschlandfarben. Grausig. Aber irgendwie steckt diese ganze Feierlaune auch an, wo doch sonst grade alles eher übel ist um einen herum. Bei einem Gang durch Stuttgart am Abend der Eröffnung dieses völlig spinnert-überteuerten Werbespektakels zeigte sich außerdem, wie viele Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte sich derzeit ebenfalls Deutschlandflaggen umhängen, weil sie in diesem Land zu Hause sind. Alles easy going also?
Vom "unverkrampften Patriotismus" war bei der WM 2006, beim "Sommermärchen" in Deutschland, allerorten die Rede. Damals wurde das Deutschsein wieder in. Mittlerweile haben Studien gezeigt, wie dieser "Patriotismus", der damals so unverkrampft aus allen Poren des Landes kroch, dabei mithalf, die Geister der AfD heraufzubeschwören. Und jetzt? Leben wir in einem Land, in dem manche Bundesländer zur Europawahl mehr als 30 Prozent AfD-Stimmen verzeichneten, in dem rassistische Parolen Partyknaller sind. In nahezu allen europäischen Ländern sind die Rechtspopulisten auf dem Vormarsch, in Frankreich könnten nach den Neuwahlen im Juli tatsächlich Rechtsextremisten die Macht übernehmen. Und so hat Kylian Mbappé, Kapitän der französischen Nationalmannschaft, jüngst wohl einen der denkwürdigeren Sätze dieser Europameisterschaft gesagt. Fußball sei wichtig, es gebe aber auch wichtigeres. Die Wahl in Frankreich beispielsweise. "Die Extremisten klopfen an die Tür. Deswegen: geht wählen!"
Wie die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die unser Autor Volker Haefele bei der Mobilen Jugendarbeit getroffen hat. Mit ihnen hat er sich über ihre Wünsche und Bedürfnisse unterhalten und war sehr angetan, wie engagiert junge Menschen sind. Muss ja nicht gleich jeder revolutionäre Reden schwingen – und dann auch noch vor einer Marienkapelle! Hans Böhm, aka der "Pfeifer von Niklashausen" hat damit im Spätmittelalter Massen in den kleinen Ort im heutigen Main-Tauber-Kreis gelockt, wie die EM Menschen nach Stuttgart. Letztlich hat ihn die Geschichtsschreibung beinahe vergessen. Völlig zu unrecht, meint unser Autor Gunter Haug und hat ihm in dieser Ausgabe einen Artikel gewidmet.
Ach ja. Und Stuttgart 21 wird erst 2026 fertig. Haha, wer's glaubt. Mittlerweile steht die Finanzierung von wichtigen Einzelschritten des "Bahnknotens" nicht mehr, weil das bundeseigene Verkehrsunternehmen deutschlandweit und seit Jahrzehnten derart vor sich hin gammelt, dass es nun eben an allen erdenklichen Ecken und Enden viel Geld verschlingt. In Stuttgart-Heslach hängt seit Langem ein Werbeplakat für einen Baumarkt, das den Zustand der Bahn ganz gut beschreibt. Darauf zu sehen ist ein altes, gammeliges Wohnzimmer mit kaputten Möbeln, drunter steht: "Die Zeit wird es nicht richten." Wie wahr.
Und überhaupt – die Zeit im Allgemeinen: Die Menschheit befinde sich in einem entscheidenden Jahrhundert, das über ihr Überleben als Spezies entscheiden könnte, sagte Ingar Solty, Referent der Rosa-Luxemburg-Stiftung, auf einem Kongress am vergangenen Wochenende im Stuttgarter Gewerkschaftshaus. In einem Jahrhundert, in dem sich entscheide, ob ein "zivilisatorischer Rückfall in Zeitalter der Massenverarmung, Unruhen, Gewalt und Ressourcenkonflikte" drohe. Überleben werden im schlimmsten Falle zumindest – Pilze! Im Stuttgarter Künstlerhaus wachsen die gerade aus dem Hegelwerk und werden demnächst verspeist. Na dann wohl bekomm's!
5 Kommentare verfügbar
Karl Heinz Siber
am 20.06.2024