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Herrenfußball-EM in Stuttgart

"No Scotland, no party"

Herrenfußball-EM in Stuttgart: "No Scotland, no party"
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Stuttgart feierte am vergangenen Freitag den EM-Auftakt. Eine Gruppe Tierschützer:innen leistet Widerstand, andere wünschen sich mehr Schatten, und dem Oberbürgermeister verrutscht bei der Eröffnungsrede das Trikot. Begegnungen aus einer Stadt im Fieber, zwischen Stadion und Fanmeile.

Vorher sei es hier überhaupt nicht schön zu sitzen gewesen, erzählen die drei, die gerne ihr Bier am Bahnhofsvorplatz in Bad Cannstatt trinken. Ein paar hundert Meter Luftlinie vom Stadion entfernt, in dem die "Host City Stuttgart" die EM-Spiele austragen lässt. Der Vorplatz ist immerhin pünktlich zur EM fertig geworden und: "Jetzt ist es richtig gemütlich", freuen sie sich, fragen sich aber – einer kratzt sich dabei wirklich am Kopf – warum die neuen Bänke aus hellem Holz genau da stehen, wo immer die Sonne hinknallt und nicht im Schatten? Bei dem Sommer, der da vor der Tür steht! Ein Stückchen weiter steht der große EM-Ball aus Plastik. "Wenn Deutschland verliert, nehmen die da ein Stück raus ...", sagt einer, der seinen Namen lieber für sich behält. Und lacht sich scheckig. "War nur ein Witz!"

Familie Christensen aus Sonderburg, Dänemark, träumt von einem 1992-Comeback. Damals hatte sich Dänemark nicht für die Europameisterschaft in Schweden qualifiziert, durfte dann aber doch mitmachen, weil Jugoslawien aufgrund des Balkankonflikts disqualifiziert wurde. Kurzerhand wurden die dänischen Nationalspieler von ihrem Urlaub aufs Spielfeld gelotst und holten am Ende sogar den Titel – im Finale gegen den amtierenden Weltmeister Deutschland mit einem 2:0. Die Christensens, wegen der Nähe zur Hansestadt HSV-Fans (St. Pauli sei ihnen "zu extrem"), sind sich sicher: Diesmal läuft es genauso. "In Berlin treffen wir uns wieder!" Dort werde sich Dänemark  den Titel sichern, "dann geben wir einen aus", versprechen sie dem Kontext-Team.

Wasilios Toussios, Inhaber der VfB-Kneipe Schwemme neben dem Cannstatter Bahnhof, erwartet Einbußen, sollten die Deutschen rausfliegen, denn "der deutsche Fußballfan ist tatsächlich ein deutscher Fußballfan". Doch um seinen EM-Biervorrat von 20 Fässern macht er sich keine Sorgen, schließlich beginnt im August wieder die Bundesliga-Saison mit intensiven VfB-Kneipenabenden. Zudem wurde das Bier extra für die EM gebraut und ist neun Monate haltbar – das sollte also reichen. Und wer in der urigen Kneipe landet, weiß dank des beschilderten Innenraums stets, wie spät es ist: "Oh, schon Bier Uhr!"

Das Corner am Bad Cannstatter Wilhelmsplatz, bekannt als begehrte Fußballkneipe und aus Medienberichten aufgrund eines einschlägigen polizeilichen Gastes (Andreas Renner, der ehemalige Polizeiinspekteur), ist um 18 Uhr noch leer. Getränkemäßig sind sie gut vorbereitet, sagt Manos Kondos, mit viel Bier – und Whiskey für die Schotten. "Das sind gute Partyleute und angenehme Fans." Bei der WM 2006 war ihm das bereits aufgefallen. "Die haben sogar ihre leeren Bierflaschen in die Mülleimer geworfen." Während er erzählt, betritt ein junger Mann die Bar: Deutschland-Trikot und bunte Brille. Der Plochinger ist mit seinen fußballfanatischen Kumpels hier, ihn selbst interessiere das Ganze nicht wirklich. Bevor sie sich das Auftaktspiel in einem Biergarten ansehen wollen, gibt's für Jungs noch einen Waldmeistershot im Corner – oder doch nicht, denn: keine Kartenzahlung möglich.

Auf Höhe McDonalds auf der Königstraße vor einem UEFA-Stuttgart-Schriftzug mit Fahnen stehen drei von "Animal Rebellion". Das sind Tierschützer:innen, oder schöner: eine "antispeziesistische Bewegung". Sie demonstrieren gegen den EM-Sponsor Wiesenhof, den skandalgebeutelten Mega-Geflügelfleischproduzenten, der seit Januar auf die Verpackung seiner armen industriegeschlachteten Billig-Hühnchen Gewinncodes hat drucken lassen für VIP-Tickets. "Bei der WM in Katar waren es die Menschenrechte, die mit Füßen getreten wurden, hier sind es die Tierrechte", sagt er. "Es kann nicht sein, dass die UEFA so einen Sponsor hat." Er müsse jetzt los, sagt sein Kollege, einer Gans am Max-Eyth-See helfen.

Entlang der Königstraße Richtung Schlossplatz herrscht ein buntes Durcheinander aus verschiedenen Sprachen und Dialekten, Menschen von überall kommen zusammen. Drei enthusiastische Fans mit breitem Grinsen plaudern in deutsch-italienischem Mischmasch. Sie wollen sich nicht festlegen, ihr Fußballherz schlägt für zwei Nationen. Doch für welche genau? Deutschland und Ungarn? Wobei sie bei der ungarischen Fahne das Rot und Grün mal kurz vertauscht haben? "Aber nein", reagieren sie empört. "Natürlich Italia." Na gut, das mit den  Horizontal- und Vertikalstreifen kann man auch mal verwechseln.

Der 21-jährige Calum Muldoon trägt Hose, sein gleichaltriger Kumpel Harris Chater Kilt. Sie sind aus Schottland angereist, um das Spiel im Gastgeberland zu erleben, erzählen sie. Der Austragungsort München war ihnen zu voll und zu teuer. Und: "There is no more beer in Munich." Tatsächlich sollen schottische Fans bereits am Mittwoch ein Lokal leergetrunken haben. "No Scotland, no party", ruft Muldoon und nippt an seiner Maß. Die beiden schwärmen von Stuttgart und den deutschen Fans. Die seien "nice", aber "too confident" – zu selbstsicher. Am Ende wurde die deutsche Zuversicht zwar mit einem 5:1-Sieg belohnt, doch Schottland kann abseits des Spielfelds mit vielem anderem punkten: etwa mit kostenfreien Periodenprodukten in städtischen Einrichtungen. Oder mit dem tollsten Nationaltier überhaupt, dem Einhorn. Und natürlich mit der schottischen Ehrlichkeit: Auf die Frage, was er denn unter dem Rock trage, lacht Chater. "Nothing, of course" – natürlich nichts.

Polizist:innen sind omnipräsent im Stuttgarter EM-Stadtbild. Dabei kann sich Stuttgarts Polizei glücklich schätzen, denn im Gegensatz zu ihren Berliner Kolleg:innen gilt für sie keine mehrwöchige Urlaubssperre. Trotzdem sind mehr als sonst im Einsatz. Oder wie es ein Beamter kurz vor Anpfiff am Freitagabend ganz diskret ausdrückt: "Viele dürfen arbeiten." Rechtzeitig zum Spiel angekommen und taufrisch aufgesetzt ist die neue Kopfbedeckungen der Polizei, das Barett. Knautscht sich besser in die Hosentasche als ein Helm, sagt einer.

Viele kennen sie vom Wasen, nun hält die Wasenboje – bei der EM unter dem Namen "Fanboje" – die Stellung in der Fan-Zone am Marktplatz. Die ehrenamtlich tätigen Frauen in hellblauen Warnwesten sind die vollen vier Wochen über bis ein Uhr nachts dort und bieten einen Safer Space, beispielweise in Fällen von Diskriminierung oder sexualisierter Gewalt. Bereits in den ersten vier Tagen kamen etwa 40 Menschen zu ihnen, berichtet die städtische Abteilung für Chancengleichheit. Diese benötigten meist "Unterstützung beim Heimweg, Stabilisierungsgespräche nach Konflikten oder kritischen Situationen, Auskunfts- oder Informationsgespräche, oder sie haben ihre Bezugsgruppe verloren".

"Das ist echt traurig", meint ein junger Mann, der an den ausgestellten Autos des chinesischen Autokonzerns BYD am Schlossplatz vorbeiläuft. Hätte ja auch ein BMW oder Daimler sein können. Das aufstrebende Unternehmen, das bereits den chinesischen E-Automarkt dominiert, ist der "offizielle Partner für E-Mobilität" der UEFA bei der hiesigen EM. Gleichzeitig diskutiert die EU-Kommission in Brüssel über Strafzölle für bestimmte E-Autos aus China: Für die relativ preiswerten Elektroautos von BYD soll ein Importzoll von 17,4 Prozent gelten.

Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) überkommt die Fußballfreude. Sie steht auf der leicht erhöhten VIP-Lounge am Schlossplatz, als ein Tor für Deutschland fällt, grinst über beide Ohren und reißt die Hände in die Luft. Völlig aus dem Häuschen ruft sie unserem Fotografen zu: "Ist das nicht toll?!"

Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper beim Jubeln. Zuvor stand er zur Eröffnung auf der Bühne und berichtete von seiner Zeit bei der E- und A-Jugend und seinem damaligen Spitznamen: "Vorstopper-Nopper". Aber alle Welt hat nur sein Trikot im Blick. Das ist schief und zu groß. Stellt sich später raus: Er hatte nur ein passendes Trikot der WM 2014 und die Crew am Schlossplatz nur ein neues in XL. Noppers Ehefrau Gudrun, selbst modeerfahren (Lackstiefel zur OB-Wahl), riet ihm wohl, das Shirt hinten in die Hose zu stecken, was vorne am Nopper aber zu unschönen Shirt-Wülsten und Schrägheit führte. Dass sich da ausgerechnet das "linke Lager" echauffiere, sei schon bemerkenswert, sagte Frau Nopper den "Stuttgarter Zeitungsnachrichten", "da sind auch nicht alle immer tipptopp gekleidet."

Das Highlight aber: die All-Gender-Klos auf der Fanmeile am Schillerplatz. 1a sauber und mit richtigem Porzellanwaschbecken!

Beim Public Viewing auf dem Schlossplatz gibt's nur Dixi-Klos, gepinkelt wird im Kreis (Bildmitte links). Kurz zuvor wurde Stuttgarts Fanmeile um seinen Rasen erleichtert: Denn beim ersten Public Viewing zur WM 2006 in Deutschland wurde das Grün mit Platten abgedeckt. Und schimmelte geruchsintensiv vor sich hin.

Fan-Zone vor dem Rathaus, eine von dreien. Außer einem aufgeschütteten Fußballfeld und bunten Bänken zum Konsum überteuerter Getränke gibt's dort: viel Platz.

Unsportlich und peinlich: Lautes Buh-Geschrei und Gepfeife begleitet die schottische Nationalhymne.

Und dann: große Freude über das 5:1.

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