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WM in Katar und SSV Ulm

Von kickenden Spatzen und kraxelnden Fans

WM in Katar und SSV Ulm: Von kickenden Spatzen und kraxelnden Fans
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

"WM boykottieren – SSV Ulm 1846 unterstützen!", kommentierte ein Ulmer Fan unter der Kontext-Geschichte zu baden-württembergischen Kneipen, die beim Boykott der Fußball-WM mitmachen. Grund genug, den Ulmer Viertligisten zu besuchen.

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Die spätherbstliche Nachmittagssonne zeichnet lange Schatten auf den grünen Rasen. Im Hintergrund erstreckt sich das Ulmer Münster in seiner 162 Meter hohen Pracht. Auf dem Trainingsplatz neben dem Ulmer Donaustadion bleibt jedoch keine Zeit, das idyllische Bild zu genießen. "Nicht auf den Ball warten, zum Ball gehen", ruft Trainer Thomas Wörle lauthals zu seinem Team.

Der Wind ist bissig an diesem Freitagnachmittag, nur drei harte Kerle der mehr als 20 Kicker der 1. Mannschaft des SSV Ulm tragen kurze Hosen. Volksmündlich liebevoll als Ulmer "Spatzen" bezeichnet, mischt der Fußballverein SSV Ulm 1846 Fußball derzeit in der sogenannten vierten Liga mit und führt dort mit 41 Punkten die Regionalliga Südwest an. Der Traditionsverein kann auf eine bewegte Geschichte zurückblicken, hat internationale Größen hervorgebracht, träumt von der Rückkehr in die Bundesliga. Und er hat einige ganz besondere Fans.

"Tempo aufnehmen", ruft Wörle. Mit zunehmender Trainingsdauer nimmt auch die Kälte zu. Da helfen auch die Aufwärmversuche in Form von quirligem Hopsen bis hin zu lustigen Wärmetänzchen kaum mehr. Die Ulmer Spatzen müssen sich in diesem Jahr noch in zwei Spielen – einmal daheim und einmal auswärts im Bahlinger Kaiserstuhlstadion – beweisen. Im Gegensatz zur 1. und 2. Bundesliga und sogar zur 3. Liga hat sich die Regionalliga Südwest gegen eine Zwangspause aufgrund der WM in Katar entschieden. Als Ansporn für alle Fußballbegeisterten, trotz WM und bitterer Kälte ins Donaustadion mit seinen 19.500 Plätzen zu kommen, hat sich der Verein einen Marketinggag überlegt: das Neun-Euro-Ticket für die letzten Heimspiele. Das und der anhaltende Erfolg der Mannschaft dürfte viele Fans ins Stadion locken.

"Große Erfolge, große Niederlagen"

Zurzeit ist der SSV Tabellenerster, der Verein hat sich nach einem transfertechnisch großen Umbruch im Sommer gut erholt: 15 Zu- und Abgänge. Da hieß es, schnell zusammenzuwachsen und zu lernen, als Mannschaft zu agieren. "Wir sind ein sehr familiärer Verein – das wird bei uns großgeschrieben und das merkt man sofort am ersten Tag hier", sagt Torwart Christian Orteg. Dieses freundschaftliche Gefühl ist auch während des Trainings spürbar, wenn auf jeden "guten Ball" euphorisches Klatschen und Jubeln von den Teamkollegen folgt. Auch Verteidiger Johannes Reichert stimmt zu: "In erster Linie geht es im Fußball genau darum: mit Menschen im Team zu spielen. Das Schöne ist, am Ende mit diesen Menschen gemeinsam Erfolge zu feiern."

Zuletzt feierte man einen 4:1-Sieg gegen den 1. FSV Mainz II. "Wir sind ein Traditionsverein mit einer großen Geschichte, die geprägt ist von großen Erfolgen, aber auch großen Niederlagen", sagt Reichert. Der Grundstein für den Fußballverein wurde mit der Gründung des Turnvereins TSG Ulm im Jahr 1846 gelegt, voriges Jahr feierte der sein 175. Jubiläum. 1894 entstand auf Initiative des Ulmer Gymnasiallehrers Paul Sturm eine eigene Fußballabteilung innerhalb des Vereins – das war der Startschuss für den heutigen SSV.

Der sehnlichste Wunsch der Mannschaft ist und bleibt die Rückkehr in die Bundesliga – so wie in der Saison 1999/2000, als die Spatzen es zum ersten und bisher einzigen Mal in die 1. Bundesliga geschafft hatten. Der Aufstieg damals geschah schnell und unerwartet. Ein Jahr zuvor noch als Abstiegskandidat in der 2. Bundesliga gehandelt, entpuppte sich die Mannschaft unter Ralf Rangnick, dessen Trainerkarriere ihn bis in die Premier League zu Manchester United führte, als Geheimfavorit und schaffte den Sprung in die höchste Profi-Liga. Eine Saison lang konnten die Spatzen Erste-Bundesliga-Luft schnuppern. Ein Jahr später scheiterte man am Klassenerhalt in der 2. Liga. Nun wolle man die Sache langsamer und bedachter angehen, "step by step", meint Orteg. Bleibt der SSV bis Ende Mai 2023 Tabellenerster, wird er nächste Saison in der 3. Liga spielen – und wäre somit nur noch einen Schritt von der 2. Bundesliga entfernt.

Nicht alles ist Gold, was glänzt

Besonders schwerwiegend waren die finanziellen Probleme des Vereins ab den 2000er Jahren. Nach einer ersten Insolvenz und dem Zwangsabstieg in die fünftklassige Oberliga gelang der Mannschaft immerhin eine historische Sensation: Zum ersten Mal schaffte es ein Fünftligist im DFB-Pokal in die zweite Runde, dank eines 2:1-Sieges gegen den Erstligisten 1. FC Nürnberg.

Zehn Jahre, einige Manipulationsversuche und viele sportliche Niederlagen später musste der Verein erneut Insolvenz anmelden. Trotz finanzieller Unterstützung durch Gläubiger und schuldenfreiem Saisonstart 2011/2012 schlitterte man 2014 aufgrund hoher Spielergehälter und fehlender Sponsoren in die dritte Insolvenz. Von da an ging es langsam aber sicher aufwärts bis an die Spitze der Regionalliga.

Die Fans haben immer zu ihren Spatzen gehalten. Für Trainer Wörle zählt denn auch die "riesen Fanbase" zu den Besonderheiten des SSV Ulm. Teile dieser Ulmer Fußballbegeisterten sind dem Verein jedoch immer wieder ein Dorn im Auge: Seit Jahren ist medial von vereinzelten rechtsextremen Spatzengetreuen die Rede. Mehrfach wurde der Vorwurf laut, der Verein setze sich zu wenig gegen rechte Fans ein. Erst vor einem Jahr rückte die rechte Fanszene des SSV durch einen Fernsehbeitrag von Sport-Inside erneut ins Rampenlicht. Zu sehen waren Fans mit Reichskriegsflaggen und Hitlergrüße. Bis heute wird über ein spezielles Fanprojekt diskutiert. Doch die Stadt verweigert die Mitfinanzierung und allein kann der Verein das Projekt nicht stemmen.

Zwei Urgesteine am Spielfeldrand

Zurück aufs Spielfeld. Neben den vielen jungen Männern im Ulmer Schwarz-Weiß trotzen zwei ältere Schaulustige am Spielfeldrand der Kälte: einer mit Uschanka auf dem Kopf, einer russischen Mütze mit nach oben geschlagenen Ohrenklappen, der andere die Sonnenbrille im Gesicht. "Seit 25 Jahren bin ich hier dabei", erzählt der 72-jährige Uschanka-Träger Alexander Beck. In Ulm sei der ursprünglich aus Sibirien stammende Rentner bereits seit 26 Jahren. Anfangs musste er sich mit der Arbeitssuche beschäftigen, konnte also trotz seiner Fußballbegeisterung den SSV noch nicht aktiv unterstützen. "Auch das Geld für Stadiontickets hat mir damals gefehlt." Die Lösung war raffiniert. "Sehen Sie die Pappel dort drüben?", mit der Zigarette zwischen den zittrigen Fingern deutet Beck auf den höchsten Baum hinter dem Donaustadion. "Da bin ich raufgeklettert, ausgestattet mit einem Gurt, einem Kissen und einem Regenschirm. Und dann hab ich von dort aus Fußball geschaut. Die Frauen, die unten vorbeigegangen sind, staunten nicht schlecht." Er lacht herzhaft, der östliche Akzent ist ihm geblieben.

Neben Beck steht sein 80-jähriger Kumpel Ivo Milanovic. Erst nach einiger Zeit wirft der aus Kroatien Stammende bescheiden ein, er sei bereits seit 55 Jahren an der Seite der Ulmer Spatzen – 27 davon als Betreuer der Mannschaft. Hat organisiert, Spielberichte verfasst, die gegnerische Mannschaft sowie den Schiedsrichter an Spieltagen betreut. Für ihn und Beck ist es selbstverständlich, zum SSV zu halten: "Das habe ich immer schon gemacht. Jetzt passt auch alles bei der Mannschaft, aber klar wünscht man sich, dass es noch besser wird." Sowohl ein Training als auch ein Heimspiel lassen sich die beiden nur ungern entgehen.

Das Kind im Brunnen

Genauso wenig entgehen lassen sich Beck und Milanovic die Spiele in Katar – auch wenn viele Ulmer Fans zum WM-Boykott aufgerufen haben. "Ich habe erst ein WM-Spiel verpasst", sagt Beck. Auch der Ulmer Verteidiger Reichert hat sich dem Boykott nicht angeschlossen: "Für mich geht es um das sportliche Interesse. Ich kann aber beide Seiten gut verstehen." Schlussendlich sei und bleibe es ein Fußballevent und er selbst sei und bleibe eben Fußballer. "Tatsache ist: Das Kind ist schon viel früher in den Brunnen gefallen. Das Problem war die Vergabe an Katar bereits vor vielen Jahren", sagt der Trainer Wörle. "Ich schaue die Spiele durch die Brille eines Fußballtrainers und suche nach neuen Taktiken und Spielweisen."

Ob man sich nun für oder gegen den WM-Boykott entscheidet, wer am 10. Dezember um 14 Uhr die Spatzen im Ulmer Donaustadion gegen Eintracht Trier unterstützen möchte, schafft es fast rechtzeitig noch vor den Fernseher zum ersten WM-Viertelfinalspiel um 16 Uhr.

Laut Milanovic und Beck wahrscheinlich ohne die deutsche Nationalelf.


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2 Kommentare verfügbar

  • Murat
    am 01.12.2022
    Antworten
    Ein cooler und sympathischer Verein mit starkem Charakter!
    Tausend mal besser, als alles was die FIFA und der DfB machen.
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 6 Stunden
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