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Jungwähler:innen

Zuversichtlich in die Zukunft

Jungwähler:innen: Zuversichtlich in die Zukunft
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Ganze 16 Prozent der Jugendlichen in Deutschland haben bei der Europawahl AfD gewählt. Was bewegt junge Menschen in Stuttgart nach der Wahl? Unser Autor hat sich auf Spurensuche begeben.

Die Tierschutzpartei in Stuttgart holte rund 1,2 Prozent der Stimmen. Viele Kleinstparteien und Gruppierungen wurden nicht zuletzt von Jugendlichen gewählt. Hans Ritter, Sozialarbeiter bei der Mobilen Jugendarbeit Hallschlag, erzählt von einem Jugendlichen, der regelmäßig ins Haus der "Mobilen" kommt: Die Fürsorge, die er seinem Hund entgegenbringe, wie er mit seinem Hund umgeht, darin erkenne er einen Teil seiner sozialen Intelligenz.

Ritter ist ein erfahrener Sozialarbeiter, immer nah dran – er hat ein sehr feines Gespür für die Bedürfnisse junger Menschen, ist im Hallschlag aufgewachsen und genießt ein hohes Ansehen bei der Jugend im Quartier. Er möchte nicht fotografiert werden, das lenke nur ab vom Thema, begründet er. Ritter erzählt lieber vom Naturerlebnisprojekt "Abenteuer Draußen", das er vor Jahren mit Kindern, Jugendlichen und mit Kooperationspartnern machte. "Das hat nachhaltige Wirkung bei ihnen hinterlassen", sagt er. Die Kinder, die dabei waren, sind heute Jugendliche oder junge Erwachsene – wie Roman V., Sohn einer russlanddeutschen Familie, der damals FSJ-ler bei der "Mobilen" in Stuttgart-Ost war. Auch beim Projekt im Hallschlag war er dabei und wirkt immer noch ehrenamtlich mit. Trotz seiner Erwerbsarbeit als IT-ler, die das kaum mehr zulasse.

Roman ist heute 29 Jahre alt und hat gewählt. SPD. Sein Vater hat die AfD gewählt, er habe heftige Auseinandersetzungen darüber mit ihm. "Politisch Verantwortliche gehen zu wenig an die Schulen", sagt Roman. Seine damalige Schule, das Wirtschaftsgymnasium West, habe bei den vergangenen Wahlen alle Parteien in die Aula zum Gespräch eingeladen. Das ging von der Schule aus und nicht von den Parteien, berichtet er. "Die zeigen sehr wenig Eigeninitiative", hat er festgestellt. Es brauche aber niederschwellige Angebote. Kaum jemand gehe freiwillig an einen Wahlstand, das gelte auch für Erwachsene. Roman meint, die Jugendlichen im Alter von 16 bis in ihre 20er sähen wenig Sinn darin, sich politisch zu beteiligen. Deren Argument: es ändere sich eh wenig und hätte keine direkten Auswirkungen.

Dyar

Auch der 17-jährige Dyar (Name ist der Redaktion bekannt, hier aber geändert) wählte nicht. "Lieber nicht wählen als etwas falsches", sagt er. Bei CDU oder AfD hätte er aber kein Kreuz gemacht, eigentlich favorisiert er die SPD. Er mag Olaf Scholz, den Bundeskanzler. "Israel und Palästina sind kein Problem für mich", aber er wolle nicht, dass die SPD Israel finanziell im Gaza-Krieg unterstütze. Seine Informationsquellen sind vornehmlich Tiktok und Instagram. Oder der Gemeinschaftskundeunterricht seiner Gemeinschaftsschule in Stuttgart-Münster. Er bedauert, dass dieser Unterricht dauernd ausfalle, weil die Lehrerin oft fehle. Dyar informiert sich wenig über Parteien: "lieber über Deutschland", sagt er. Im Gemeinschaftskundeunterricht habe er eine Präsentation über den Ärztemangel in Deutschland gehalten, dabei habe er viel gelernt.

Dyar ist engagiert, er ist Klassen- und Schülersprecher, in der SMV organisieren sie zum Beispiel Fußballturniere. Sein Herzensprojekt ist allerdings, eine Gruppe oder einen Verein zu gründen, der über den Islam aufklärt. Am liebsten ein Medium, das sich von Islamist:innen distanziert. Er will nicht, dass die Mehrheitsgesellschaft den Islam über einen Kamm schert und Vorurteile darüber gestreut werden. Dyar ist aufstiegsorientiert wie sein Vater, der ihm ein Vorbild sei und der eine eigene Firma gegründet habe. Sein Großvater ist vor 28 Jahren aus der Türkei eingewandert. Auf eigenen Beinen stehen, das sei wichtig in der Familie, meint er. Seine Mutter wolle, dass er studiert, sein Vater sei etwas gelassener und sage, "mach den Job, den du machen möchtest." Im Hinblick auf die Zukunft sei er zuversichtlich. "Wir dürfen uns nicht einreden, dass wir es nicht schaffen", sagt er. Sicher, manchmal verliere er die Lust, aber dann käme wieder die Power. Zum Beispiel für seinen eigenen Verein zu kämpfen.

Kira

Kira (Name ist der Redaktion bekannt, hier aber geändert) ist auf dem Sprung, wir erwischen sie nur kurz. Die 18-Jährige findet gut, dass sie wählen darf. Es sei ja nicht selbstverständlich, dass Frauen wählen dürfen, es wurde ja lange dafür gekämpft. "Frauen und Männer sind gleichberechtigt, das kapieren viele Männer nicht", sagt sie. Sie sieht sich als Feministin. "Frauen verdienen im Vergleich zu Männern weniger." Auch sexueller Missbrauch spiele für sie eine Rolle. Sie findet, dass das härter bestraft werden sollte. Das sei auch in Social Media, in ihrer Schule und ihrem Arbeitsumfeld ein Thema. Sie macht eine Ausbildung im sozialen Bereich. Ihre Arbeitsstelle möchte sie nicht nennen. Viele Jugendliche seien nicht gut informiert und setzten sich wenig mit Politik auseinander, hat sie beobachtet. Sie lerne viel in der Schule. Sie sei mal Klassensprecherin gewesen und habe eine Weiterbildung zur Streitschlichterin in der Realschule gemacht, erzählt sie.

Kira hat gewählt: eine Partei, die sich für Frauenrechte einsetzt. "Ich habe gewählt, weil es um die Zukunft junger Menschen geht." Sie habe im Internet recherchiert, für welche Themen die Parteien stehen, und nutzt darüber hinaus Lernmaterial an ihrer Berufsschule. Etablierte Medien nutze sie allerdings wenig. Sie sei viel auf Instagram unterwegs. Viele ihrer Freund:innen seien nicht an Politik interessiert, weil sie gerne Konflikten aus dem Weg gingen. Auch sie findet, Politiker:innen sollten weniger streiten und konsensorientierter arbeiten.

Leonardo

Leonardo treffen wir an seinem Wohnort in Untertürkheim. Er habe an allen drei Wahlen teilgenommen, erzählt er. Als Jugendrat meldete er sich auch als Wahlhelfer in seinem Wohngebiet.

Bei der Gemeinderatswahl hat er kumuliert und panaschiert, also Stimmen verteilt und gehäuft und vornehmlich "ökosozial" gewählt. Seit der achten Klasse ist Leonardo in der SMV aktiv und wurde auch zum Schulsprecher gewählt. Seit zwei Jahren engagiert er sich im "Team Tomorrow", einem Verein, der Politikformate wie den "Tomorrow Talk" organisiert, Gemeinderäte in die Schulen einlädt oder öffentliche Diskussionsveranstaltungen für Jugendliche organisiert. Das Team gelte als öko-links, das sei jedoch ein Vorurteil. Das Format sei für alle demokratisch gesinnten Menschen offen. In der Schule wurde Leonardo politisiert. Das Wagenburggymnasium lege großen Wert darauf und sei bekannt dafür, meint er.

Seine Eltern, die aus dem Libanon eingewandert sind, seien zwar politisch interessiert und gingen wählen, engagierten sich aber nicht aktiv. Der Gemeinderat sollte mehr auf die Schulen zugehen, denn die Wahl sei nicht auf Jugendthemen zugeschnitten, meint Leonardo. Es fehlen Freiräume für Jugendliche, konsumfreie Orte, Jugendliche gelten oft als Störfaktor. Von selbstorganisierter Raumaneignung, wie bei den Skatern am Nordbahnhof, hält er nicht viel. Irgendwann würden solche Gruppen vertrieben. "Wir machten uns in Cannstatt für die P7-Anlage, ein altes Parkhaus, stark und das sollten die politischen Gremien und die Verwaltung umsetzen, dafür sind sie ja da", sagt er.

Wie informiert er sich? Instagram sei zum Beispiel ein Medium, das viele Jugendliche erreiche. Tiktok sei per se kein schlechtes Medium. "Die Neue Rechte hat das deutlich besser erkannt, es sind einfache und kurze Formate", erklärt er. Aber er selbst tue sich mit Mediennutzung schwer. Er hält es für wichtig, politikferne Menschen zu ermutigen. Kommunalpolitik müsse in den Schulen präsenter sein. Es müssten alle Gesellschaftsschichten und Milieus repräsentiert werden. Bürgerhaushalte und Zukunftswerkstätten oder ähnliche Formate sollten Bürger:innen ermutigen, in ihrer Gemeinde mitzuarbeiten.

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