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Politik im Jugendhaus

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Handy, Facebook, Party, Yolo! Bei der Landtagswahl 2011 hat nur die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen gewählt. Diskussionen wie die im Esslinger Jugendhaus Komma sollen helfen, mehr Junge an die Urne zu locken.

Max Schröder will den Politikern aus seinem Wahlkreis mal auf den Zahn fühlen. Deshalb ist er in den großen Saal des Jugendhaus Komma gekommen. "Ich bin zwar kein Fan von Parteien, doch der Rechtsruck in Deutschland erschreckt mich, und ich will wissen, was die Politiker dazu zu sagen haben", sagt der 22-jährige Esslinger, der gerade sein letztes Ausbildungsjahr zum Jugend- und Heimerzieher absolviert. Spiros Pechlivanidis ist zwar erst 16, brennt aber schon für Umweltpolitik. "Ich mag Tiere", sagt der Klassensprecher einer Werkrealschule. Er ist besorgt, dass die Klimaerwärmung zu weiteren Umweltkatastrophen führt.

Mit etwa 20 weiteren jungen Menschen zwischen 16 und 25 Jahren sitzen Max und Spiros in einem der drei kleinen Stuhlkreise vor der Konzertbühne. In einem Workshop wollen sie mit Mitarbeitern des AK Jugendpolitik Esslingen Fragen an die Politiker erarbeiten. Alle Fragen müssen prägnant sein, sie sollen mit Filzstift geschrieben auf einen kleinen Zettel passen. Eine Dreiviertelstunde haben alle Zeit, dann kommen die Politiker von CDU, Grüne, SPD, FDP und Linke herein, um sie zu beantworten – so der Plan von Christopher Mauthe vom Stadtjugendring Esslingen. Dass die AfD nicht dabei ist, dürfte für das Jugendhaus mit linksalternativem Anspruch zwar selbstverständlich sein, doch Mauthe drückt sich diplomatisch aus: "Wir haben unsere Parteien-Auswahl auf Landtags- und Bundestagsebene begrenzt", sagt der 35-Jährige und verteilt weitere Zettel und Edding-Stifte an die Workshopteilnehmer.

Was die Jungwähler in den vergangenen Jahren so in den Landtagswahlkabinen getrieben haben, zeigt ein kurzer Blick auf die Statistiken von 2011. Damals war die CDU für die meisten der 18- bis 24-Jährigen die Partei der Wahl (30,5 Prozent), die Grünen belegten Rang zwei auf der Beliebtheitsskala (27,4 Prozent). Platz drei ging an die SPD (23,8 Prozent), FDP und Linke bildeten die unbeliebten Schlusslichter (4,2 bzw. 2,2 Prozent).

Während bei Cola und Apfelschorle die jugendlichen Köpfe rauchen, stecken die geladenen Politiker nach und nach dieselben zur Tür herein und warten in einer Ecke des Jugendhauses auf den Startschuss. Andreas Deuschle (CDU), Nicolas Fink (SPD), Andrea Lindlohr (Grüne), Martin Auerbach (Linke) und FDP-Pressesprecher Marius Livschütz wirken leicht angespannt, als sich die kleinen Arbeitsgruppen auflösen und die Stühle zu einem großen Kreis für die Jugendlichen und zu sechs Politiker-Stühlen in der Mitte zusammengeschoben werden. "Jetzt geht's los", sagt Moderator Max Czipf und erklärt: Jeder darf sich zu den Politikern in die Mitte des Stuhlkreises setzen und seine Fragen vorlesen. Man kann auch anonym vorlesen lassen. Jetzt heißt es fragen, fragen, fragen, Fakten, Fakten, Fakten – eine Minute haben die Politiker Zeit, eine gute Figur zu machen, dann ertönt die Klingel.

"Würden Sie bei sich zu Hause Flüchtlinge aufnehmen?", liest der Moderator gleich zu Beginn eine anonyme Frage vor. Die erwischt Andrea Lindlohr (Grüne) offenbar auf dem falschen Fuß. "Gegenfrage: Würden Sie denn welche aufnehmen?", pampt die gebürtige Rheinländerin. Selbst als die Klingel nach einer Minute ertönt, monologisiert die stellvertretende Fraktionsvorsitzende weiter über Präsentierteller und Privatsphären. Verdutzte Gesichter. Betretenes Schweigen. Perfekter Einsatz für Nicolas Fink (SPD), der prompt die rote Karte zückt und deshalb sprechen darf, auch wenn die Frage nicht an ihn ging: "Die Aufnahme von Flüchtlingen ist ganz klar Aufgabe des Staates. Ich würde zu Hause auch keinen Kindergarten eröffnen oder Personalausweise ausstellen", sagt der 39-jährige Aichwalder Bürgermeister in coolen Skater-Schuhen. Lautes Gelächter im Saal. Eins zu null für die SPD.

Im weiteren Verlauf der Diskussion präsentiert sich Lindlohr immer wieder streitlustig und gerät mehrfach hart mit dem CDU-Landtagsabgeordneten Andreas Deuschle, 37, aneinander. Das zeigt sich auch, als die 17-Jährige Abiturientin Gesa Schneil wissen will, weshalb sie zwar auf kommunaler Ebene wählen, bei der Landtagswahl aber nicht mitmachen darf. Als nach einem Beschluss der grün-roten Landesregierung erstmals 16- und 17-Jährige bei den Kommunalwahlen 2014 an die Urnen durften, gab's harsche Kritik von der Opposition. CDU und FDP warfen Grün-Rot vor, mit der Senkung des Wahlrechts mehr junge Wähler für sich gewinnen zu wollen. Peter Hauk, damals CDU-Fraktionschef im Landtag, sprach gar von "Versuchskaninchen der Demokratie"; der FDP-Spitzenkandidat Hans-Ulrich Rülke sah es ebenso.

Und so wird Gesas Frage von der Grünen Lindlohr zum Anlass genommen, CDU-Mann Deuschle an den Karren zu fahren: "Du darfst nicht wählen, weil die Kollegen von der CDU das nicht wollen", sagt die 40-Jährige im Erklärbär-Modus und funkelt Deuschle dabei angriffslustig an. Marius Livschütz von der FDP gibt daraufhin locker-lässig den Anti-Rülke: "Prinzipiell habe ich nichts dagegen, das Wahlalter auf 16 zu senken." Verrückte Politikwelt. Das steht Gesa ins Gesicht geschrieben, als sie das Innere des Stuhlkreises ohne konkrete Ansage wieder verlässt.

FDPler Livschütz, 28, macht öfter den Eindruck, als hätte sich ein Rebell bei den Gelben eingeschlichen. Als der 18-jährige Bo Sixt Finckh von ihm wissen will, "ob es immer sein Traum war, Politiker zu werden", trennt sich die Spreu vom Doppelkorn: "Es gibt einfach Dinge, die mich stören, und an denen will ich was ändern. Dass man ab 22 Uhr keinen Alkohol mehr kaufen kann, das kotzt mich an", blafft Livschütz sichtlich erzürnt. Der Stuhlkreis johlt. Dann ist Auerbach-Time, und der Linke mit den schwarzen Chucks verwandelt die FDP-Vorlage zum Tor gegen Gelb. Als Gesa Schneil nämlich zunächst von Auerbach wissen will, warum er der Richtige für Esslingens Linke sei, kontert der 39-jährige Jugend- und Heimerzieher süffisant: "Weil ich in der richtigen Partei bin und planen kann, was ich nach 22 Uhr trinken will." Der schwarze Deuschle zeigt sich vom rot-gelben Schlagabtausch gänzlich ungerührt und antwortet auf Gesas Frage gelassen: "Ach, ich kann zuhören. Völlig ideologiefrei."

Klare Ansagen und eine A-Einlage

Dass es durchaus ein bisschen Ideologie sein darf, macht der Linke Auerbach klar, als der Moderator eine weitere, anonyme Frage vorliest: "Warum werden Lehrer an Musikhochschulen so schlecht bezahlt?" Eigentlich war die Frage an den SPD-Mann gerichtet, doch als dieser kurz und ehrlich antwortet, dass er davon leider "keine Ahnung" habe, CDUler Deuschle erklärt, dass man "nicht alles von oben bestimmen kann", läuft Auerbach zur Hochform auf. "Klar kann man das bestimmen. Tariffragen sind immer Machtfragen", sagt er. Als Bo daraufhin wissen will, "ob sich dann nur noch Reiche Musikunterricht leisten können", macht Auerbach unmissverständlich klar, dass Klassenkampf kein Che-Guevara-Merchandise-Artikel ist, sondern im Zweifel wehtut: "Sicher isses hart, wenn ich 25 Euro die Stunde für Gitarrenunterricht zahlen muss. Aber der Gitarrenlehrer muss ja auch von was leben." Klare Ansage.

Noch klarer drückt sich an diesem Abend nur Livschütz aus. Während man freche Sprüche eher von der Linken oder den Grünen (Joschka Fischer 1984: "Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!") gewohnt ist, dürfte Livschütz der erste FDPler in Baden-Württemberg sein, der das böse A-Wort öffentlich in den Mund nimmt – vor Jugendlichen. Auf die Frage, ob die AfD eine demokratische Partei sei, platzt es aus dem ehemaligen Waldorfschüler geradezu heraus: "Die AfD, das sind Arschlöcher – ganz klar. Da geht es nicht um besorgte Bürger, sondern um Rassisten, und die muss man bekämpfen." Zwar lacht an dieser Stelle niemand, doch lustig ist Livschütz' A-Einlage allemal.

Als am Ende die Abschlussfrage an die Kandidaten gestellt wird, was denn ihr allererster Antrag wäre, wenn sie am 13. März in den Landtag gewählt würden, schwächelt der FDP-Punk jedoch in der Kür. Während Lindlohr (Grüne) die Grundschulen stärken will, Deuschle (CDU) die Teilzeitarbeit verbessern würde, Fink (SPD) den NSU-Untersuchungsausschuss begrüßt und Auerbach (Linke) die Kennzeichnungspflicht für Polizisten fordert, sagt Livschütz: "Ich würde das Alkoholverbot ab 22 Uhr aufheben."

Max Schröder, der kam, um auf die Politikerzähne zu fühlen, sitzt am Ende ratlos auf seinem Stuhl. "Ich würde keinen von denen wählen", sagt er enttäuscht. Klassensprecher Spiros Pechlivanidis, der eigentlich die Grünen wählen würde, ist nach Lindlohrs entnervtem Auftritt und den Pamp-Attacken gegen Deuschle auf dessen Seite und damit bei der CDU. "Der hat überzeugt", sagt er überrascht und gibt seine leere Colaflasche am Tresen ab.


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2 Kommentare verfügbar

  • Ulrich Marten
    am 23.02.2016
    Antworten
    Informatieren ist gut vor der Wahl. Bei wahlomat.de kann man die Parteien miteinander vergleichen, bei www.abgeordnetenwatch.de die einzelnen Abgeordneten in den Wahlkreisen.
    Außerdem kann ich nur allen Neuwählerinnen und -wählern empfehlen, Politik selbst zu machen: Bleibt in Kontakt mit…
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