Grüngebunden und mit einem entschlossenen "JETZT" als Titel: Das letzte Wahlprogramm, das den historischen Erfolg von 2011 vorbereitete, hatte es vergleichsweise einfach. Eine Geschichte mit der Aussicht auf ein Happy End nach 32 Jahren, erzählt auf einem fliegenden Teppich. Das alles umspannende Zitat gleich zu Beginn, weil der nicht mehr ganz strahlende Held Winfried Kretschmann Zitate liebt – wenn auch eher von Hannah Arendt als von Thomas Morus. Dem englischen Humanisten und Märtyrer jedenfalls wird "Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme" zugeschrieben, manchmal dem französischen Reformsozialisten Jean Jaurès. Egal, beide passten zur Botschaft von "JETZT", das damals – übersetzt sogar ins Türkische und ins Englische – allein in Baden-Württemberg, die Wählerzustimmung zugrunde gelegt, 1,2 Millionen Mal gefiel. Zum Vergleich: Das ist fast so oft, wie Stéphane Hessels "Empört Euch!", der 32-seitige Aufruf zum friedlichen Widerstand gegen die weltweite Ungerechtigkeit, im selben Jahr bundesweit goutiert wurde.
Umfang ist also kein Kriterium. Umso höher liegt die Latte inhaltlich. Nach fünf Jahren Amtsbonus als erste grüne Ministerpräsidentenpartei weltweit muss die Bestätigung her und der zweite Wurf, soeben im Vorabdruck präsentiert, mindestens so gut ankommen wie der erste, damit es was wird mit der ersehnten Fortsetzung. Wieder ist der Plot schnell erzählt: Eine verschworene Truppe, nicht so smart wie Daniel Oceans Casino-Räuberbande, nicht so berühmt wie Artus' Tafelrunde, aber schon lange deutlich größer als die sieben Zwerge, will das Begonnene fortsetzen, weiter ackern und pflügen, säen und ernten, durchdrungen von der Überzeugung, in Baden-Württemberg zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Diesmal stammt die Message weder von einem Märtyrer noch von Hannah Arendt, sondern von Udo Lindenberg: "Hinterm Horizont geht's weiter." Die Grünen wollen nicht nur an der Macht bleiben ("So was Großes geht nicht einfach so vorbei"), sie wollen auch künftig den Ministerpräsidenten stellen ("Gemeinsam sind wir stark"). Aus dem Versprechen "JETZT mit neuen Ideen die Zukunft unseres Landes gestalten" ist "Unser Erfolgsrezept für Baden-Württemberg" geworden, die "Politik des Gehörtwerdens" ergänzt durch die "Politik des Ermöglichens".
Von Wortschwall zu Wortschwall
Jedoch macht sich das halbe Jahrzehnt Mühen in der Ebene bemerkbar. Nicht, dass da nichts Visionäres mehr wäre oder Provokantes. Ohne Zweifel werden die 13 Kapitel polarisieren, zum Beispiel mit dem Bekenntnis zur Vermögens-, Erbschafts- und Transaktionssteuer (obwohl doch bei der Bundestagwahl vor zwei Jahren gerade das Steuerthema so sehr ins grüne Kontor geschlagen hatte). Oder das unbeirrte Festhalten an der Energiewende, vor allem samt Ausstieg aus der Kohlenutzung – nicht gerade beliebt beim Wunschkoalitionär SPD. Natürlich gibt es weder Abstriche am Ziel des zweigliedrigen Schulsystems noch an der Akzeptanz sexueller Vielfalt.
Und doch fehlt dem Opus der rote Faden. Ein "kluges, überzeugendes und wegweisendes Programm" versprechen die HerausgeberInnen, aber nichts Übergreifendes leitet durch die Handlung in die Zukunft. Stattdessen mäandert der Text an entscheidenden Stellen eher von Wortschwall zu Wortschwall. Exemplarisch: Digitalisierung. Dass Winfried Kretschmann (noch) ein Scheinriese auf dem schwierigen Gelände ist, schlägt negativ zu Buche. Wie er selbst surft die Erzählung ohne Tiefgang durch die Materie: "Unsere Digitalisierungspolitik unterstützt die Unternehmen, das Handwerk, Selbstständige und Konzerne auf dem Weg zur Wirtschaft 4.0. Weil immer mehr Daten immer schneller zur Verfügung stehen, verändern sich Kommunikationsprozesse, Produktionsabläufe und Dienstleistungen. Big Data und das Zusammenwachsen von realer und virtueller Welt lässt in Industrie und Handwerk völlig neue Geschäftsmodelle entstehen." Viel heiße Luft und PR-Sprech vom Feinsten, ununterscheidbar von den Produkten der Konkurrenz, übervoll mit Komposita und Nominalisierungen.
8 Kommentare verfügbar
Anna Lühse
am 18.11.2015In der Stuttgarter Zeitung vom 29. März 2013 heißt es konkret: "Vom grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann stammt der Satz, in der Demokratie entscheide nicht die Wahrheit, sondern die Mehrheit."
Der Staatsrechtler Georg Müller meint indes dazu: "Demokratische…