KONTEXT:Wochenzeitung
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Kein roter Faden

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Zum zweiten Mal nach 2011 versuchen die Südwest-Grünen mit einem Bestseller in die Charts zu stürmen. Er hat gerade mal 100 Seiten, ist eher resümierend denn visionär und insgesamt keine leichte Kost. Eine Rezension des Entwurfs des grünen Wahlprogramms zur Landtagswahl 2016.

Grüngebunden und mit einem entschlossenen "JETZT" als Titel: Das letzte Wahlprogramm, das den historischen Erfolg von 2011 vorbereitete, hatte es vergleichsweise einfach. Eine Geschichte mit der Aussicht auf ein Happy End nach 32 Jahren, erzählt auf einem fliegenden Teppich. Das alles umspannende Zitat gleich zu Beginn, weil der nicht mehr ganz strahlende Held Winfried Kretschmann Zitate liebt – wenn auch eher von Hannah Arendt als von Thomas Morus. Dem englischen Humanisten und Märtyrer jedenfalls wird "Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme" zugeschrieben, manchmal dem französischen Reformsozialisten Jean Jaurès. Egal, beide passten zur Botschaft von "JETZT", das damals – übersetzt sogar ins Türkische und ins Englische – allein in Baden-Württemberg, die Wählerzustimmung zugrunde gelegt, 1,2 Millionen Mal gefiel. Zum Vergleich: Das ist fast so oft, wie Stéphane Hessels "Empört Euch!", der 32-seitige Aufruf zum friedlichen Widerstand gegen die weltweite Ungerechtigkeit, im selben Jahr bundesweit goutiert wurde.

Umfang ist also kein Kriterium. Umso höher liegt die Latte inhaltlich. Nach fünf Jahren Amtsbonus als erste grüne Ministerpräsidentenpartei weltweit muss die Bestätigung her und der zweite Wurf, soeben im Vorabdruck präsentiert, mindestens so gut ankommen wie der erste, damit es was wird mit der ersehnten Fortsetzung. Wieder ist der Plot schnell erzählt: Eine verschworene Truppe, nicht so smart wie Daniel Oceans Casino-Räuberbande, nicht so berühmt wie Artus' Tafelrunde, aber schon lange deutlich größer als die sieben Zwerge, will das Begonnene fortsetzen, weiter ackern und pflügen, säen und ernten, durchdrungen von der Überzeugung, in Baden-Württemberg zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Diesmal stammt die Message weder von einem Märtyrer noch von Hannah Arendt, sondern von Udo Lindenberg: "Hinterm Horizont geht's weiter." Die Grünen wollen nicht nur an der Macht bleiben ("So was Großes geht nicht einfach so vorbei"), sie wollen auch künftig den Ministerpräsidenten stellen ("Gemeinsam sind wir stark"). Aus dem Versprechen "JETZT mit neuen Ideen die Zukunft unseres Landes gestalten" ist "Unser Erfolgsrezept für Baden-Württemberg" geworden, die "Politik des Gehörtwerdens" ergänzt durch die "Politik des Ermöglichens".

Von Wortschwall zu Wortschwall

Jedoch macht sich das halbe Jahrzehnt Mühen in der Ebene bemerkbar. Nicht, dass da nichts Visionäres mehr wäre oder Provokantes. Ohne Zweifel werden die 13 Kapitel polarisieren, zum Beispiel mit dem Bekenntnis zur Vermögens-, Erbschafts- und Transaktionssteuer (obwohl doch bei der Bundestagwahl vor zwei Jahren gerade das Steuerthema so sehr ins grüne Kontor geschlagen hatte). Oder das unbeirrte Festhalten an der Energiewende, vor allem samt Ausstieg aus der Kohlenutzung – nicht gerade beliebt beim Wunschkoalitionär SPD. Natürlich gibt es weder Abstriche am Ziel des zweigliedrigen Schulsystems noch an der Akzeptanz sexueller Vielfalt.

Und doch fehlt dem Opus der rote Faden. Ein "kluges, überzeugendes und wegweisendes Programm" versprechen die HerausgeberInnen, aber nichts Übergreifendes leitet durch die Handlung in die Zukunft. Stattdessen mäandert der Text an entscheidenden Stellen eher von Wortschwall zu Wortschwall. Exemplarisch: Digitalisierung. Dass Winfried Kretschmann (noch) ein Scheinriese auf dem schwierigen Gelände ist, schlägt negativ zu Buche. Wie er selbst surft die Erzählung ohne Tiefgang durch die Materie: "Unsere Digitalisierungspolitik unterstützt die Unternehmen, das Handwerk, Selbstständige und Konzerne auf dem Weg zur Wirtschaft 4.0. Weil immer mehr Daten immer schneller zur Verfügung stehen, verändern sich Kommunikationsprozesse, Produktionsabläufe und Dienstleistungen. Big Data und das Zusammenwachsen von realer und virtueller Welt lässt in Industrie und Handwerk völlig neue Geschäftsmodelle entstehen." Viel heiße Luft und PR-Sprech vom Feinsten, ununterscheidbar von den Produkten der Konkurrenz, übervoll mit Komposita und Nominalisierungen.

Außerhalb der ikonografischen Illustration der schönen neuen digitalisierten Welt, wie sie den Grünen gefällt, sind Mitteilungen wie diese eigentlich Realsatire: "Im schlimmsten Fall" führe es zu Arbeitsplatzverlusten, "wenn Menschen durch Maschinen ersetzt werden oder ganze Berufsfelder verschwinden". Als Scherz ohne Pointe kommt die Ansage daher, dass Digitalisierung Freiräume für Beschäftigte schafft nach dem Motto: "Arbeiten, wo ich will, wie ich will und wann ich will, nicht mehr Ort und Zeit sind entscheidend, sondern individuelle Selbstbestimmung." Nur einige ganz wenige Minuten Recherche in einschlägigen Portalen hätten die Ausbeuterhonorare offenbart, mit denen diese Selbstbestimmung einhergeht und die den AutorInnen den Griffel aus der Hand hätten schlagen müssen. Wenn da mal die Leserschaft nicht jedes Problembewusstsein vermisst.

Perspektivwechsel zu "wir Baden-Württemberger"

Auffallend gegenüber dem Debütroman von 2011 ist der Perspektivwechsel. In "JETZT" stand "wir" für "wir Grüne". 2015 steht "wir" selbstbewusst für "wir Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger". Ganz im Stil einer geübten Regierungspartei fließt absichtsvoll da und dort der Begriff Heimat ein, in die prosaische Beschreibung des Gestern, Heute und Morgen. Kreative Kraft und die unverkennbare Absicht, das eigene Licht keinesfalls unter den Scheffel zu stellen, führen zu immer neuen Varianten von "erfolgreich". Da wird erfolgreich gestärkt, genutzt, geforscht und ausgebaut, da sind die heimischen Unternehmen und die Hochschulen alle vorn und Sieger, der Mittelstand sowieso, aber auch die Innovationsregionen, Förderprogramme und -strategien, Biosphärengebiete, erneuerbare Energien und Mobilitätskonzepte. Ganz zu schweigen vom Land als Ganzem, und dem steht mit Winfried Kretschmann bekanntlich "ein Treiber für die ökologische (R)Evolution" vor. Nicht zu vergessen der einst von Fritz Kuhn ersonnene, gegenüber der CDU einigermaßen boshafte Evergreen, der in der DNA der einstigen Alternativpartei landete und dem zufolge sich mit grüner Politik immer neue schwarze Zahlen schreiben lassen.

Viel ziselierter und ziemlich geheimnisvoll kommt ein gesellschaftspolitisches Statement daher: Der Schrägstrich und das Binnen-I, seit Parteigründung Ausdruck geschlechtergerechter Sprache, haben ausgedient. Stattdessen ist dem neuen Werk ein Sternchen aufgegangen: Ausländer*innen, Privatwaldbesitzer*innen, Radfahrer*innen, Helfer*innen, Besitzer*innen. Nur die Bürgerinnen und Bürger haben keinen Stern. Dechiffriert könnte das heißen: Wenn es um einzelne Gruppen geht, ist trans, inter und queer immer mitgemeint, aber insgesamt wollen wir die Wählerschaft damit lieber nicht verschrecken.

Wer wirklich wissen will, wohin die Reise Letzterer geht, muss Lust daran entwickeln, zwischen den Zeilen zu lesen. Es braucht hohe Konzentration, Habhaftes herauszudestillieren, weil der Erzählstrang Zukunft, im Vergleich zum Lob des schon Erreichten, arg dünn ist. Weil buchhaltergleich Millionenbeträge beschworen werden, die den Helden und seine verschworene Truppe in hellem Licht erstrahlen lassen sollen. Weil aber irgendein Spielverderber den Schalter umdreht immer just in dem Moment, in dem der Spot auf die Jahre 2016 bis 2021 schwenkt.

Schon altes Grünbuch im Auflagenrekord

Die großen Pläne und Verheißungen sind überwiegend altbekannt, die weniger großen verlieren sich nur zu gern im Klein-Klein: "Unser Ziel ist es, dass langfristig bei allen Neubauvorhaben des Landes Recycling-Beton zum Einsatz kommt." Oder: "Im Bereich der Jugendhilfe soll die eingerichtete Ombudsstelle als unabhängige Beschwerdestelle helfen." Die müssen auch noch Dritte zahlen, aber das ist wieder eine andere Geschichte.

In der vorliegenden Geschichte könnte KennerInnen der eine oder andere Themenschwund stutzig machen. "Mit der Einführung einer City-Maut wollen wir Städten und Ballungsräumen ermöglichen, den Individualverkehr zugunsten des ÖPNV umzustrukturieren", hieß es weiland in "JETZT". Inzwischen hat Winfried Kretschmann aber bekanntlich die Häutung zum Landesvater hinter sich, und weder ihn selbst noch die Seinen zieht es zurück auf die harten Bänke der Opposition. Inzwischen sind sogar weniger Autos doch nicht mehr besser als mehr. Und deren Lenker für die Einfahrt in überlastete Innenstädte zahlen zu lassen, mag etwas für London sein oder Stockholm, Bologna oder Prag oder Singapur oder Hanoi oder San Diego. Aber Stuttgart? Besser nicht.

Mitte Dezember darf die Basis beim Parteitag in Reutlingen Einfluss nehmen. Also korrigieren oder zuspitzen, versuchen, vielleicht sogar den eigenen oder anderen unkonventionellen Gedanken unterzubringen, die eine andere neue Idee. Oder Überzeugungen von ehedem neu beleben, weil sie eigentlich noch taugen würden für die zerklüftete Gegenwart. In einer seinerzeit vorgelegten dünnen Broschüre von 1987, als die Berliner noch Bonner waren, standen posaunengleiche Sätze wie "Umverteilen! Aber von oben nach unten!". Die bundesweite Auflage lag damals schon bei 450 000. Versunkene Schätze.

Dennoch hat das Grünbuch keine schlechten Chancen, mit einem neuen Auflagenrekord abermals Geschichte zu schreiben. Für Interessierte eine lesenswerte Lektüre, die sich positiv abhebt vor allem vom Schwarzbuch der Union mit seinem vielen lyrischen Leerstellen, das ebenfalls gerade auf den Markt drängt.

"Unser Erfolgsrezept" wird auch noch in einer Kurzfassung erscheinen - "JETZT" ist vor fünf Jahren 47 651 auf 708 Worte eingedampft worden - und der Held wird sich auf seine Lesereise ohnehin tapfer mühen, die Kernbotschaften an Mann und Frau zu bringen.

 

"Unser Erfolgsrezept für Baden-Württemberg." Eigenverlag, Stuttgart 2015, 100 Seiten.


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8 Kommentare verfügbar

  • Anna Lühse
    am 18.11.2015
    Antworten
    @ Gela, 15.11.2015 11:15
    In der Stuttgarter Zeitung vom 29. März 2013 heißt es konkret: "Vom grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann stammt der Satz, in der Demokratie entscheide nicht die Wahrheit, sondern die Mehrheit."
    Der Staatsrechtler Georg Müller meint indes dazu: "Demokratische…
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