Dass ich als 1991 geborener Gesamtdeutscher mich anno 2024 überhaupt noch mit der Idee von Ost- und Westdeutschland rumschlagen muss, ist indes kein gutes Zeichen. Dabei verlaufen die entscheidenden gegenwärtigen innergesellschaftlichen Grenzen gar nicht unbedingt geografisch, auch nicht zwingend demografisch zwischen Jung und Alt, sondern zuvörderst zwischen zwei Lagern, die sich sehr grob in "woke" und "nicht-woke" unterteilen lassen. Denn: "Wokeness – Wachsamkeit – ist ein neues Wort unserer Zeit." (Richard David Precht, 10. März 2024. Damit ist der Precht für mich jetzt schon Vogel des Jahres.)
Brüste gegen Wokeness
Das Problem: Was dieses gar nicht so neue Wort unserer Zeit eigentlich noch bedeuten soll, ist mittlerweile sekundär. Wie dieser aktuelle Fall beweist: Im Netz feiern Rechte das Ende des linken Wokeness-Zeitgeists, weil auf TikTok einige Videos viral gingen, die die Schauspielerin Sydney Sweeney zeigen. Die hat jüngst die US-Sendung "Saturday Night Live" moderiert und dabei Dekolleté getragen. Jep, Dekolletés sind jetzt schon rechts. Die Right-Wing-Ulknudeln denken tatsächlich, die Präsenz von Sweeneys Brüsten sei der Todesstoß für die angeblich so prüde Woke-Bewegung. (Fragen Sie dieselben Leute mal, ob eine Frau im Schwimmbad oben ohne Pommes essen darf.)
Echt zum Piepen: Die Hasser der Wokeness haben sich dermaßen in das von ihnen selbst zusammengeschusterte Hirngespinst dessen, was sie für Wokeness halten, hineingesteigert, dass sie glauben, Wokeness sei besiegt, wenn eine Frau eine Fernsehsendung moderiert.
Als Satiriker bekomme ich regelmäßig Ärger von beiden Seiten. Meistens ist man den üblichen Satirekonsument:innen zu woke, bisweilen aber auch nicht woke genug. Macht man Witze über Leute, die Windräder für gefährlicher als Atomkraft halten, ist man eine feige Systemschranze, die das "Regierungsnarrativ" bedient, gegen die Opposition schießt oder gar nach unten aufs einfache Volk tritt; bei Witzen über die Versprecher Annalena Baerbocks hingegen ein verkappter Sexist, der kein Bewusstsein dafür hat, was die arme Außenministerin als Frau alles durchmachen muss.
Ähnliches berichtet Jon Stewart aus den USA. Der jüngst wieder auf die Mattscheibe zurückgekehrte Moderator der Daily Show klopfte bei seinem Comeback ein paar Sprüche über das fragwürdige Fitnesslevel Joe Bidens und musste sich in der Folge "Bothsideism" vorwerfen lassen: Seine Witze darüber, dass weder Trump noch Biden besonders geeignet sind, in diesen Zeiten die westliche Welt zu führen, seien gefährlich, weil sie außer Acht ließen, dass der eine halt doch eine Ecke beschissener sei als der andere. "Als ob Stewart das nicht wüsste!", will ich als Verteidiger des Witzes rufen. Trotzdem ist natürlich auch was dran.
Ein Habeck ist immer noch besser als ein Höcke
Während die Wokies sich einen erwachsenen Umgang mit Satire angewöhnen sollten – nicht jeder mehrdeutige Witz muss sofort entsprechend der menschenfeindlichsten aller möglichen Interpretationen ausgelegt werden – und die Anti-Wokies mal für sich herausfinden mögen, wofür sie stattdessen eigentlich sind – wollt ihr zum Beispiel Faschismus, weil ihr Lastenräder uncool findet? –, muss aber auch die Satire womöglich in sich gehen.
Ansonsten laufen wir Gefahr, dass im Kampf zwischen Woke und Nicht-Woke so ziemlich alles über Bord geht, was man über die letzten 3.000 Jahre an zivilisatorischen Standards errungen hat: Dass sich die US-amerikanischen Trumpublikaner ähnlich wie die Höcke-AfD im Kampf gegen den Regenbogenwesten näher bei Wladimir Putin als bei Joe Biden wähnen, weil der Kreml halt auch ein Problem mit Schwulen hat, ist ja schon so ein kleines Alarmsignal. Pressefreiheit, Gewaltenteilung, freie Wahlen – alles bald linksgrün-woker Schneeflockenscheiß. Die Konservativen könnten das demokratische Kind mit dem non-binären Bade ausschütten. (Freuen Sie sich auf weitere schiefe Metaphern von mir in den nächsten Monaten.)
Klar scheint immer nur eines: Wer nicht im Lager A ist, ist zwangsläufig im Lager B. Deshalb haben die Satiriker:innen auch in diesen Zeiten wie immer den schwersten Job. Sie müssen, um jetzt mal thematisch wieder nach Deutschland zurückzukehren, einerseits beispielsweise darauf hinweisen, dass den regierenden Grünen die soziale Abfederung der ökologischen Transformation wohl tatsächlich so egal ist, wie linke Kritiker:innen immer geunkt haben. Die Grünen machen auch nur grünen Kapitalismus – können also weg! Stimmt schon. Andererseits ist ein Habeck halt trotzdem besser als ein Höcke. So, jetzt hab ich's geschrieben. Macht mich das jetzt zum regierungstreuen Staatssatiriker? Wahrscheinlich schon.
Regierungspolitiker:innen nicht ernst zu nehmen, das war früher mal das Privileg der Satire. Heute nimmt aber wirklich niemand mehr Menschen in deutschen Staatsämtern ernst. Abgesehen vielleicht von meiner Oma, aber die ist jetzt auch schon ein paar Jahre tot. Wir Satiriker:innen waren erfolgreich. Zu erfolgreich.
Wie weh muss Satire tun?
Politische Satire wollte wachrütteln, provozieren und mit der gebotenen Schrillheit auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen. Allein: Heute ist das gesamte Internet mit nichts anderem beschäftigt, als auf Missstände aufmerksam zu machen. Schriller als Twitter kann Satire längst nicht mehr sein. Kein uneigentlicher Sprechakt sorgt für so viel Puls wie drei Minuten eigentliches Social Media.
"Satire muss wehtun!", liest man bei Satireradikalen gern. Meinetwegen. Aber wie sehr? Reicht ein Piksen mit der spitzen Feder oder muss der Gegner mit dem Filetmesser der Komik oder gleich dem Holzhammer der Polemik bis zur Kenntlichkeit entstellt werden? Oder hilft es, in Zeiten der Aufrüstung zumindest verbal abzurüsten? Ich habe noch keine endgültige Lösung für diese Probleme erarbeitet, aber das ist ja auch meine erste Kolumne. Geben Sie mir bitte noch ein, zwei Monate, um die komplette Kunstform der Satire zu reformieren.
Bis dahin versuch ich's mal so: "Für die richtige Seite zu kämpfen und dabei unbestechlich gegenüber deren Fehlern zu bleiben" – so lautete angeblich eine Maxime George Orwells. An diesem Anspruch will sich diese Kolumne künftig messen lassen. Mal schauen, ob's klappt.
Will hier jetzt also ein Satiriker gleich in seiner Auftaktkolumne vom Ende der scharfen Spaltung politischer Lager reden wie ein Blinder von der Farbe? Waren es nicht wir Spötter, die jeden Menschen, der ein politisches Amt übernahm, wahlweise zu korrupten Wirtschaftsbütteln oder planlosen Vollkoffern erklärt und damit die politische Unerbittlichkeit dieser Zeit erst herbeigeführt haben? Jau, stimmt auch. Mea culpa.
Um am Ende auf den Anfang zurückzukommen: In der musikalischen Sphäre war die Deutsche Einheit in den Hymnen der beiden Teilländer schon immer mitgedacht, während sie in der harten Realität eine erbarmungslose Mauer trennte. Es gibt überraschend Verbindendes zu entdecken zwischen scheinbar hoffnungslos Gespaltenen. Zu pathetisch darf ich jetzt aber wirklich nicht werden – ich bin schließlich immer noch Satiriker.
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Peter Nowak
am 19.03.2024Wacht auf, Verdammte dieser Erde
Peter Nowak