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Heike Kleffner

Im Weitwinkel

Heike Kleffner: Im Weitwinkel
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Um zu verstehen, was die Journalistin Heike Kleffner bei ihrer Arbeit antreibt, muss man mit ihr zurückgehen. Ins Jahr 1992, mit der jungen Journalistin, gerade Mitte zwanzig, zu dem Haus mit den ewig blühenden Sonnenblumen, die an verbrannte Erde erinnern.

August 1992 Rostock-Lichtenhagen. Heike Kleffner ist dabei, als der Hass sich vor dem Sonnenblumenhaus und der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) entlädt. Tausende Menschen lassen ihre Menschlichkeit zu Hause in den guten Stuben – den guten deutschen Stuben – und kommen auf die Straße. Als Meute kommen sie, versammeln sich auf der Mecklenburger Allee. Die Meute, sie jubelt, die Meute, sie applaudiert, feuert die Jugendlichen an, die Steine und Molotow-Cocktails durch die Scheiben ins Haus schmeißen, in dem vietnamesische ehemalige Vertragsarbeiter und ihre Familien den Flammen und den Angriffen ausgeliefert sind. "Heil Hitler", schreien sie. "Ausländer raus", schreien sie. Als Ausschreitungen oder Krawalle wird oft bezeichnet, was zwischen dem 22. August und dem 26. August 1992 in Rostock-Lichtenhagen geschah. Kleffner nennt in ihren Erinnerungen das Geschehene Pogrom.

"Das gibt es nicht, dass man dabei war und nicht nachhaltig geprägt wurde", sagt sie, die Gedanken in der Vergangenheit, der Blick auf die Spree, die da ist und schön aussieht, mit dem blauen Himmel, der über ihr hängt, und den letzten Sonnenstrahlen. Die Boote, die von links nach rechts sich wiegen, und dem Berlin auf dieser und jener Seite des Ufers. Es gibt schlimmere Orte für ein Gespräch. Kaum schlimmere Gespräche gibt es für einen Ort.

Kleffner war dabei, als in der Nacht in Rostock-Lichtenhagen die Staatsgewalt versagte. Sie hat mit den Opfern aus dem Haus mit den Sonnenblumen gesprochen, die vom Dach aus die Blüten von oben sahen, weil es unten brannte. 2002 begannen vor dem Landgericht Schwerin die Verhandlungen gegen vier Neonazis. Kleffner begleitete den Prozess für die Tageszeitung taz. Mehr als 10 Jahre nach dem Brandanschlag wurden die Angeklagten zu Bewährungsstrafen wegen versuchten Mordes verurteilt. Lediglich 36 von 408 eingeleiteten Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit den Brandnächten von Rostock-Lichtenhagen führten zu Hauptverhandlungen mit Verurteilungen – überwiegend wegen Landfriedensbruchdelikten. Die juristische Aufarbeitung von damals fasst Kleffner in einem Satz zusammen: "Katastrophe mit fataler Signalwirkung".

Viel Platz für wenig Anerkennung

Katastrophen hat sie als Journalistin in den letzten drei Jahrzehnten viele begleitet und mit aufgearbeitet. Hundertsiebenundachtzig. So lang ist inzwischen die Liste der Todesopfer rechtsmotivierter Gewalt seit der Wiedervereinigung, die Kleffner und ihr Kollege Frank Jansen in einer Langzeitrecherche ermittelten. "Wir saßen immer in diesen gruseligen Verhandlungen zu rechten Tötungsdelikten. Vor Gericht jedoch spielte das Tatmotiv häufig keine große Rolle", sagt Kleffner. Ende der 1990er Jahre fingen sie und ihre Kollegen damit an, die Hintergründe von Mordfällen nachzurecherchieren, die auffällig waren, und fanden Opfer rechter Gewalt, bei denen das Gericht "den Jungen von nebenan nicht als rechten Totschläger sah", sagt Kleffner.

Vier Sonderseiten im "Tagesspiegel" füllten die Rechercheergebnisse zu rechten Tötungsdelikten von Kleffner und ihren Kollegen am 13. September 2000. Auf ihrem Laptop hat sie ein Foto von der damaligen Zeitungsausgabe, eine Doppelseite. Diese auf dem Bildschirm zu sehen, verleitet zu kommentieren, ein "oh krass"-Ausruf, der auch ein genauso blöder "oh Gott"-Ausruf hätte sein können. Ein Moment, in dem sprachlos zu sein angemessen viele Worte sind. Man kann sich vorstellen, wie es damals war, eine solche Seite in Print aufzuschlagen. Beeindruckend auf eine traurige Weise.

Einen Tag nach Erscheinen der Ausgabe wurde das neonazistische Netzwerk Blood & Honour vom damaligen Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) verboten. 2001 ist eine erweiterte polizeiliche Definition von politischer Kriminalität eingeführt worden: "Kriminalpolizeilicher Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität", kurz PMK. Damit wurde erstmals das Themenfeld Hasskriminalität erfasst.

Kleffner und ihr Kollege Jansen vom "Tagesspiegel" führen bis heute das Langzeitrechercheprojekt für "Zeit online" und den "Tagesspiegel". 187 Opfer stehen auf der Liste (Stand 2020). Aktuell wird diese bearbeitet, mit Verdachtsfällen wird sich die Liste auf über 200 Namen verlängern. In über 40 recherchierten Fällen haben die Sicherheitsbehörden ihre ursprüngliche Bewertung zurückgenommen und sie im Nachhinein als rechtsmotivierte Tötungsdelikte aufgenommen. Wie wichtig diese Arbeit für die Hinterbliebenen ist, zeigt ein aktueller Fall aus Niedersachsen. Dort kämpft die Mutter von Alexander Selchow seit 33 Jahren dafür, dass ihr Sohn als Opfer rechter Gewalt in die offizielle Statistik aufgenommen wird. Dieser wurde in der Silvesternacht 1991 in Rosdorf (Niedersachsen) von Neonaziskins getötet. Bis jetzt wird der Fall wegen angeblicher "Täter-Opfer-Beziehungen" nicht erfasst, von denen die Mutter des Getöteten, wie sie sagt, aber nichts weiß. Zwischen den Zahlen, die staatliche Institutionen zu Todesopfern rechter Gewalt veröffentlichen, und denen, die Organisationen und Journalistinnen und Journalisten wie Kleffner und ihre Kollegen ermitteln, haben die Behörden sich viel Platz für wenig Anerkennung gelassen.

Jeder Name ein Leben weniger

Es sind Namen von Toten, die sich aneinanderreihen. Eine Liste, die keine sein sollte, weil jeder Name ein Leben weniger bedeutet. Menschen brauchen Listen als Erinnerungsstützen: To-dos stehen auf einer Liste. Müsli steht dort. Abhaken. Durchstreichen. Ergänzen. Ignorieren. Todesopfer sind Aufzählungen von Menschen, die ein Leben hatten, bevor sie auf der Liste standen. Manchmal muss man nachhelfen, dass nicht vergessen wird, wofür diese besondere Erinnerungsstütze eigentlich da ist. So wie im März letzten Jahres. Als in Berlin eine Fachtagung zum Thema "20 Jahre Diskurs zu rechtsmotivierten Tötungsdelikten" stattfand. Kleffner war dort als Referentin eingeladen. Ein Teilnehmer der Tagung erzählte, dass sie ihren Vortrag mit den Worten begann: "Ich möchte Sie bitten, für eine Minute zu schweigen, um der Opfer zu gedenken." Es habe die Leute überrumpelt, denn damit habe keiner gerechnet, erinnert sich der Teilnehmer. Danach sei aber ein ganz anderes Bewusstsein für die Sache dagewesen, sagt er. Denn Kleffner erinnerte mit dem Moment, in dem Sprachlosigkeit genug Worte waren, daran, worum es denn überhaupt ging: um Menschen, denen gewaltsam das Leben genommen wurde, und erst danach um Konzepte, methodische Ansätze und Klassifikationen.

Die Sonne hat sich verabschiedet. Die Spree ist nun der Spiegel Berlins. Ein Zerrbild im dunklen Wasser. In Kreuzberg sind die Straßen voll. Volle Gläser. Volle Teller. Volle Touris. Das türkische Restaurant, welches Imbiss serviert, das aber kein Imbiss ist, weil Imbiss Pommes Schranke ist und hier bestimmt keiner mit einem "Ratsch" eine TK- Tüte aufreißt, liegt in direkter Nachbarschaft zu Kleffners Büro. Sie ist Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG). Gute Lage. Kleffner lächelt. "Super Lage", sagt sie. Recht hat sie. Gemütlich ist es in dem Nicht-Imbiss. Klein wie ein Laden in der Winkelgasse. Das Licht nicht weiß. Eher gelb. Warm. Der Mann hinter der Theke mit Freundlichkeit im Gesicht. Es gibt schlimmere Orte für ein Gespräch.

Rückgrat: mehr als nur eine Knochenkette

Kleffner erzählt und der Nicht-Imbiss in Kreuzberg wird zum Wohnzimmer von Barbara Reimann in ihrer kleinen Wohnung in Pankow. Eine Bullenhitze ist hier. Sie dreht selbst die Heizung voll auf, wenn für Berliner Brandenburg the place to be ist. Und da muss es schon richtig heiß sein. Auf dem Tisch stehen Avocado-Schnittchen mit Shrimps in Cocktail-Soße. Die Gastgeberin tischt auf, wenn Heike Kleffner und Franziska Bruder kommen. Die beiden haben über das beeindruckende Leben von Barbara Reimann ein Buch geschrieben: "Die Erinnerung darf nicht sterben. Barbara Reimann – eine Biografie aus acht Jahrzehnten Deutschland". Fünf Jahre haben die drei Frauen daran gearbeitet. Im Jahr 2000 wurde es veröffentlicht. Bis zum Tod von Barbara Reimann blieben sie eng miteinander verbunden.

Alle vier bis sechs Wochen trafen sie sich. Saßen bei Bärbel. Avocado-Schnittchen mit Shrimps in Cocktailsoße. Barbara Reimann, eine Frau aus einer Familie, die widerstand. Das Rückgrat für sie mehr als nur die Knochenkette.

Barbara Reimann, damals noch Dollwetzel, organisierte sich in ihrer Jugend im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Als Tochter des Hamburger KPD- Mitbegründers Max Dollwetzel und der Frauenrechtlerin Clara Clasen war sie im Untergrund in einer sozialistischen Jugendorganisation in Hamburg aktiv. 1943 wurde die Gruppe von der Gestapo enttarnt. Barbara Reimann, ihre Mutter und ihre Patentante kamen ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Von der SS wurden sie im April 1945 auf den Todesmarsch geschickt. Bei Neustrelitz gelang ihr gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Patentante die Flucht. 150.000 Menschen waren in Ravensbrück eingesperrt. Etwa ein Fünftel von ihnen starb. Barbara Reimann referierte später an Schulen und in der Gedenkstätte als Zeitzeugin.

Gemeinsame Erinnerungen und Anekdoten, mit denen Kleffner Barbara Reimann an den Tisch in dem Kreuzberger Nicht-Imbiss holt. Drei Frauen im klapprigen WG-Auto ohne Klimaanlage von Berlin nach Ravensbrück. 90 Kilometer – die schnellste Route eine Stunde und vierzehn Minuten. Am Ende blieben Kleffner, Bruder und das klapprige WG-Auto auf der Strecke. Das Auto wollte nicht nach Ravensbrück, blieb lieber liegen. Aber Barbara Reimann, die fuhr weiter per Mitfahrgelegenheit, und zwar mit niemand Geringerem als der Crew von Steven Spielberg, die damals dort drehte. Während Kleffners Erzählungen wird diese unerschrockene, mutige Frau, die am 21. April 2013 starb, lebendig. Ist das nicht irgendwie unsterblich sein?

Du Täter. Du Opfer.

Opfer. Wikipedia setzt direkt "Schimpfwort" dahinter. Du Polizist. Du Opfer. Je nach Kontext eine Beleidigung. Du Polizist. Du Täter. Ist das auch eine strafbare Beleidigung? Kleffner hat gemeinsam mit Matthias Meisner 2019 den Sammelband "Extreme Sicherheit – Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz" veröffentlicht. Als die Idee für das Buch entstand, war Hans-Georg Maaßen noch Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und "in der deutschen Sicherheitsarchitektur galt weitläufig die Annahme, dass es keine rechten Netzwerke im Sicherheitsapparat gebe", sagt Kleffner. Dass das falsch ist, belegten damals die Beiträge der Autorinnen und Autoren. Vor Kurzem ist ihr neues Buch "Staatsgewalt. Wie rechtsradikale Netzwerke die Sicherheitsbehörden unterwandern" erschienen. Damit legen die Autorinnen und Autoren nochmal nach. "Mit steigendem Selbstbewusstsein der Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten, auch in den Behörden, steigt die Gefahr für den Rechtsstaat", sagt Kleffner. Du Sicherheitsapparat. Du Täter?

Der Text ist zuerst erschienen im aktuellen "Rechts.Geschehen". Seit 2021 informiert die Heftreihe der Dokumentationsstelle Rechtsextremismus im Landesarchiv Karlsruhe regelmäßig über rechte Netzwerke, demokratiefeindliches Gedankengut und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, vor allem in Baden-Württemberg, in Zukunft aber auch weltweit. Alle bisher erschienenen Ausgaben finden Sie hier(ana)

Mit dem Erstarken der extremen Rechten ist nicht nur die Gefahr für den Rechtsstaat gestiegen. Auch eine weitere tragende Säule der Demokratie hat ordentliche Risse. Das Arbeitsklima für Journalistinnen und Journalisten, die im Bereich Rechtsextremismus arbeiten, hat sich deutlich verschärft. Der Ton ist rauer. Die Gangart härter. Beleidigungen, Bedrohungen, Klagen. Ein Dreiklang des täglichen Geschäfts. Auch Kleffner hat in der Vergangenheit schon "spezielle Grüße" in Naziblättern bekommen. Das, was junge Kolleginnen und Kollegen besonders im Lokalen heute an Hass und Hetze erfahren, vor allem im Netz, sei damit aber nicht zu vergleichen, sagt sie. Der "Kodex für Medienhäuser zum Schutz von Journalistinnen und Journalisten", kurz Schutzkodex, soll Journalistinnen und Journalisten helfen, mit Angriffen und Bedrohungen umzugehen – zum Beispiel durch psychologische Unterstützung, durch finanzielle bei juristischen Auseinandersetzungen, im Austausch mit anderen Betroffenen oder auch mit Schutzmaßnahmen, wenn die Bedrohungslage zu groß ist. Ein ganzes Maßnahmenpaket, damit sie ihren Job machen können. Eine Tatsache, die so nüchtern klingt, dass mancher sie nur betrunken ertragen kann. Der VBRG ist einer der Initiatoren des Schutzkodex. Als Geschäftsführerin des Verbands und als Journalistin hat Kleffner einer Doppelrolle. Diese nutzt sie, um dem Thema immer wieder Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Kleffner nimmt immer die Opferperspektive ein. Immer Weitwinkel. Ein Opfer ist mehr als das, was auf den ersten Blick von ihm zu sehen ist.


Mit ihrem aktuellen Sammelband "Staatsgewalt: Wie rechtsradikale Netzwerke die Sicherheitsbehörden unterwandern" ist die Journalistin Heike Kleffner 2024 auf Lesereise. Am 20.3. tritt sie gemeinsam mit der Autorin und Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldızins im Generallandesarchiv in Karlsruhe auf, am 21.3. gemeinsam mit Alexander Roth, Autor und Redakteur des Zeitungsverlag Waiblingen, im Club Manufaktur, Schorndorf. Weitere Termine stehen auf der Seite des Herder-Verlags.

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