Der Mord an der jungen Polizistin hat auch Peter F. das Leben gekostet, wenn Leben mehr ist als nur das Gegenteil von Tod. Posttraumatische Belastungsstörung lautet seine Diagnose. Seit Jahren ist er nicht mehr in der Lage zu arbeiten, war Monate lang in Therapie, hat Skills antrainiert bekommen, die helfen sollen, wenn sie sich zeigt, die Angst, wenn sie kommen, die Flashbacks. "Es ist alles hier drin", sagt Peter F. und zeigt auf seinen Kopf. Deshalb kann er auch an den schönsten Orten der Welt sein, mit dem Menschen, den er am meisten liebt, in ihm kann es von jetzt auf gleich dunkel werden. "Ich habe das Problem immer dabei", sagt er.
Den Moment, der das alles auslöste, kennt er. Viele Male hat er ihn mit unterschiedlichen Psychologen durchgekaut und analysiert. Doch das ändert nichts, das Gefühl ist noch immer nicht abgestumpft. Die Bilder sind jetzt wieder da. Deshalb bricht ihm an dieser Stelle der Geschichte die Stimme weg. Er wendet den Blick ab – kurz auftauchen, Luft holen, um nicht in den Wellen an Emotionen zu ertrinken. Dann erzählt er weiter. Zwei Tage sind seit dem Mord vergangen. Er und sein Kollege fahren mit dem Fahrstuhl hoch in den zweiten Stock des Robert-Bosch-Krankenhauses in Stuttgart. Da liegt sie "die Kollegin". Peter F. spricht viel "von der Kollegin" und wenig von "Michèle Kiesewetter". Je länger man ihm zuhört, desto mehr fällt es einem auf.
In der Pathologie ist es taghell – grelles Neonlicht für die Toten, deren Sterben nochmal genau beleuchtet werden muss. Nur ein Tisch ist belegt. Michèle Kiesewetter liegt dort. Peter F. hatte Stunden vorher angerufen und darum gebeten, die junge Polizistin für die nachträgliche Spurensicherung nochmal dorthin zu bringen. Die Kriminaltechniker Peter F. und sein "Co-Pilot", wie er den Kollegen nennt, weil sie mehr gemeinsam haben als nur den gleichen Job, beginnen mit der Routine: sichern, eintüten, beschriften. Alles geht seinen Gang, den gewohnten heute aber nicht.
Diagnose: Identifizierung mit dem Opfer
Peter F. schaut sie an "die Michèle", "die Kollegin", erschossen in der gleichen Uniform, wie er sie früher trug. "Identifizierung mit dem Opfer", werden die Psychologen in der Therapie später diesen Moment nennen. Schlüsselmoment, das, was jetzt kommt. Peter F. beginnt ein Gespräch mit der Kollegin: "Von mir zu ihr", sagt der Lebende über seine Worte zu der Toten. "Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, um diese Dreckssäcke zu bekommen." Er schaut auf und fragt: "Oder?", in Richtung seines Co-Piloten. Der Co-Pilot nickt. Damit war es besiegelt. Das Versprechen lange sein Antrieb, die Motivation in seiner täglichen Ermittlungsarbeit.
Die Aufklärung des Mordes an der Kollegin wurde zunehmend zu seinem Lebensinhalt. Peter F. hat für das, was der Fall mit ihm machte, eine Analogie gefunden. Er erzählt von der Verfilmung des Romans von Friedrich Dürrenmatt "Das Versprechen" mit Jack Nicholson. Die Hauptfigur, Jack Black, ein pensionierter Kriminalbeamter, verliert sich zunehmend in der Aufklärung eines Mordfalls an einem kleinen Mädchen. Der Sinn seines Lebens besteht nur noch darin, den Mörder zu finden. Es gelingt ihm nicht. Der Mörder stirbt bei einem Autounfall, das weiß aber nur der Zuschauer. Jack Black erfährt es nie. In der Schlussszene sieht man einen ziemlich fertigen alten Mann vor einer Tankstelle sitzen, der Selbstgespräche führt und Schnaps aus der Flasche trinkt.
Als das Landeskriminalamt 2009 die Ermittlungsarbeiten der "Soko Parkplatz" übernahm und damit Peter F. seine Arbeit am Fall beenden musste, leerte sich der Inhalt seines Lebens. Peter F. sollte aus dem Ausnahmezustand zurückkehren in die alltägliche Polizeiarbeit. Doch wirklich an kam er dort nie mehr. "Neben dem Mord an der Kollegin kamen mir die anderen Fälle unwichtig vor, nichts hatte mehr Bedeutung", sagt Peter F. über das tiefe Loch, in das er fiel und in dem er jahrelang blieb.
Für Peter F. ist das Versprechen, das er der toten Kollegin gab und nie einlösen konnte: "Die schwerste Enttäuschung an mir selbst". Irgendwann wurde Peter F. krankgeschrieben, war in Therapie, kehrte wieder zurück in den Dienst, war wieder krankgeschrieben, wieder in Therapie und kehrte schließlich nie mehr in den Polizeidienst zurück. Stattdessen erfüllten er und seine Frau sich einen langen Traum und kauften ein Haus in der Provence. Wer an dieser Stelle ein Happy End erwartet, wird an selbiger enttäuscht. Das Problem zog mit Peter F. in die Provence. Heute erinnern Bilder an der Wand in ihrer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in der Nähe von Heilbronn an die Zeit in Südfrankreich.
"Ein Fass ohne Boden"
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland fing Peter F. an, ein Dossier anzufertigen. Er wollte "etwas über den NSU" schreiben. Inzwischen hat "etwas" über 100.000 Seiten und reicht bis in die heutige Zeit. Peter F. hat die jahrelange intensive Arbeit an dem Dossier lange vor sich selbst gerechtfertigt, in dem er sagte, es wäre ein Prozess des Abschließens, ein "sich von der Seele schreiben". Auf die Frage, ob es nicht eher ein "am Leben halten, ein nicht loslassen können" ist, nickt er und sagt: "Auch, ja." Das letzte Kapitel seines Dossiers lautet: "nach dem NSU ist vor dem NSU". "Ein Fass ohne Boden", wie er selbst erkannt hat. Ende März dieses Jahres schrieb er in einer Mail, dass sein ursprüngliches Ziel etwas über den NSU zu schreiben intensiver ausfiel als gedacht. "Ein thematisches Ausufern wäre möglich, aber nicht zielführend", hat er längst erkannt.
Peter F. hätte wie Jack Black aus "Das Versprechen" enden können. Der NSU hätte ihn auch noch den Rest seiner Lebenszeit kosten können – Hätte, hätte ... Peter F. ist heute Anfang sechzig und lebt nicht mehr in der Vergangenheit. Die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus hat aus ihm einen Experten gemacht, ohne dass er es gemerkt hat. Er engagiert sich gegen rechte Gewalt. Das will er auch in Zukunft machen, denn in die schaut er jetzt.
2 Kommentare verfügbar
Peter Nowak
am 12.06.2023Gerade der Tod von Kiesewetter, der ja aus der Mordserie des NSU herausfällt, gibt noch besonders viele Rätel auf.
Warum wurde gerade sie vom NSU ermordet? Hat Peter F. dazu…