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30 Jahre Rostock-Lichtenhagen

Es war vorbereitet

30 Jahre Rostock-Lichtenhagen: Es war vorbereitet
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Die rassistischen Angriffe im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen waren ein Fanal. Eine tatenlose Polizei sah zu, wie sich unter dem Beifall vieler Bürger:innen militanter Fremdenhass Bahn brach. Neonazis aus dem In- und Ausland waren vor Ort und Polizei wie Verfassungsschützer behaupteten, im Vorfeld keine Hinweise gehabt zu haben.

Höhepunkt der tagelangen Straßenschlachten vom 22. bis 27. August 1992 war der Angriff auf einen Wohnblock in der Mecklenburger Allee. Die Bilder vom brennenden Sonnenblumenhaus stehen wie kaum ein anderes Motiv für die rassistischen Gewaltexzesse der 1990er-Jahre. In dem Hochhaus waren die "Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber" (ZAST) und ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter:innen untergebracht. Mehrere hundert Molotowcocktails, Steine sowie Leuchtspurmunition werfende Neonazis attackierten unter dem Beifall von knapp 3.000 Schaulustigen das Haus und setzten es in Brand. Knapp 120 Menschen, darunter vietnamesische Kinder, Frauen und Männer sowie ein ZDF-Kamerateam und der langjährige Rostocker Integrationsbeauftragte entkamen den Flammen in letzter Minute.

Die Gewalttaten übertrafen die Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991. Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen markierte den Beginn eines rassistischen Flächenbrandes.

Wie im sächsischen Hoyerswerda sorgte die Politik auch im mecklenburg-vorpommerschen Rostock nach dem rechtsextremen Terror für eine "asylantenfreie" Zone und brachte die Heimbewohner:innen außerhalb der Stadt in anderen Unterkünften unter. Das Gebrüll des rechtsextremen Mobs, "Deutschland den Deutschen – Ausländer raus", setzte der Rechtsstaat in Realität um. Die Verlegung der Flüchtlinge in andere Unterkünfte stellte für die Fremdenhasser:innen einen Motivationsschub dar, ihre rassistischen Angriffe auf Ausländer:innen und Geflüchtete zu intensivieren. Allein in der Woche nach dem Beginn der Ausschreitungen in Rostock wurden bundesweit 123 rechtsextreme Gewalttaten erfasst, während es in den Wochen zuvor bis zu 35 Gewalttaten waren.

So griffen nach den Rostocker Terrornächten Rechtsextremisten mit Steinen und Leuchtraketen unter "Sieg Heil"-Geschrei das Asylbewerberheim im sachsen-anhaltinischen Schwanefeld am 27. August an. Am 28. August verhinderte die Polizei den Sturm des Asylbewerberheims im mecklenburg-vorpommerschen Greifswald-Ladebow. Einen Tag später wurden Molotowcocktails gegen eine Unterkunft für Asylbewerber:innen im niedersächsischen Bad Lauterberg im Harz geschleudert. Am gleichen Tag wurden Überfälle in den brandenburgischen Städten Spremberg und Lübbenau verübt. Das Wochenende am 29. und 30. August nutzten rechtsextreme Randalierer, um Unterkünfte von Geflüchteten, Jugendtreffs, Zeltunterkünfte und Asia-Gaststätten in rund 15 Städten anzugreifen. Höhepunkt war die Zerstörung eines Gebäudeteils des Asylbewerberheims im brandenburgischen Eisenhüttenstadt. "Bemerkenswert" erschien dem Innenministerium die Tatsache, dass im ersten Halbjahr 1992 in den neuen Bundesländern mehr Gewalttaten von Rechtsextremisten gegen politische Gegner bekannt wurden als in den alten Bundesländern.

Die Behörden wollten es nicht wissen

Bis heute ist offiziell ungeklärt, ob die Krawalle von organisierten Rechtsextremisten mitinitiiert und inwieweit die Inlandsgeheimdienste darüber informiert waren. Der damalige Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Hans-Ludwig Zachert, hatte gegenüber Medien betont, die Randale sei "organisiert und gesteuert" worden . Er wurde dafür von mehreren Präsidenten diverser Landesämter für Verfassungsschutz massiv kritisiert. "Eine "überregionale Steuerung" habe es nicht gegeben, behauptete etwa der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Eckhart Werthebach, sekundiert vom Hamburger Verfassungsschutz-Präsidenten, Ernst Uhrlau, der von einer "hausgemachten Randale" sprach", schreibt die Journalistin Heike Kleffner.

Eine parlamentarische Anfrage an die Bundesregierung nach den Gewaltexzessen ergab, dass dem Bundeskriminalamt und den Verfassungsschutzbehörden im Vorfeld der Krawalle in Rostock "keine Erkenntnisse auf bevorstehende ausländerfeindliche Aktivitäten zum Nachteil" der "Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber" (ZAST) vorlagen. Ebenso wollen weder dem BKA noch den übrigen Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder Erkenntnisse über eine zentrale Steuerung fremdenfeindlicher Aktionen vorgelegen haben, so die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Anfrage der PDS im Oktober 1992. Zumindest die Annahme einer Steuerung der Randale vor der ZAST "auf der Ebene von Kleingruppen" konnte die Bundesregierung wegen der Verwendung von CB-Funkgeräten und dem geschlossenen Vorgehen der Störer nicht ausschließen. 

Während der Randale-Tage gab es 370 vorläufige Festnahmen durch die Polizei. Bei einer vom BKA vorgenommenen Auswertung bei 272 festgenommenen Personen konnte die Zentralstelle der deutschen Polizei jedoch lediglich zwei Rechtsextremisten "erkennen".

Vor dem Angriff in Rostock wurde Stimmung gemacht

Fakt ist, dass am 15. August 1992 am Rand des Rudolf-Hess-Aufmarsches mit rund 2.000 Teilnehmenden im thüringischen Rudolstadt Absprachen für das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen getroffen wurden, so der Abschlussbericht des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag vom 23. Juni 2017. Während des Aufmarsches wurde auch die Augustausgabe 1992 der Szene-Postille "Aufbruch", die Zeitschrift der im November 1992 bundesweit verbotenen Nationalistischen Front" (NF), verteilt. In dem Blättchen mit dem Titelblatt "Come together in Rostock" wurde zur angemeldeten Kundgebung nach Rostock mobilisiert. Eingestimmt wurden die Kameraden mit den Zeilen: "Das Asylheim in Sommerswalde wurde übrigens wenige Tage vor dem Einzug der Asylanten von autonomen Nationalisten niedergebrannt. Es fanden Einwohnerversammlungen zu den geplanten Asylantenheimen statt, die wir besuchten und wo wir staunend feststellen mussten, dass dem Bundesfernsehbürger ein Asylantenheim so unmittelbar vor seiner Haustür doch ganz schön nahegeht."

Am 19. August erschien in den "Norddeutschen Neuesten Nachrichten" (NNN) die Ankündigung, dass sich in Lichtenhagen eine Bürgerwehr bilden werde, um die ZAST "aufzuräumen". Ein anonymer Anrufer wurde mit den Worten zitiert: "Wenn die Stadt nicht bis Ende der Woche in Lichtenhagen für Ordnung sorgt, dann machen wir das. Und zwar auf unsere Weise." Zwei Tage später meldete die "Ostseezeitung", dass mehrere Bewohner von Lichtenhagen angekündigt hätten, die "rumänischen Roma aufzuklatschen", und "die Leute, die hier wohnen, werden aus den Fenstern schauen und Beifall klatschen".

Bereits ab Mai 1992 wurde in den Neubauvierteln Rostocks ein Flugblatt mit dem Titel "Widerstand gegen die Ausländerflut" verteilt. Darin gab eine "Aktion >Rostock bleibt deutsch<" kund: "Liebe Rostocker Landsleute! Seid nicht so vertrauensselig, wie wir es im Westen gewesen sind, als uns die Politiker versicherten, es würden nur wenige Ausländer kommen und das auch nur als Gastarbeiter auf Zeit. Heute haben wir sechs Millionen. Sie nennen sich Einwanderer und erzählen uns, Deutschland gehöre jetzt auch ihnen. Sie fordern unsere Wohnungen, Arbeitsplätze und Steuergelder. Ganze Stadtviertel haben sie schon besetzt. Die vielen Kriminellen unter ihnen brachten uns Rauschgifthandel und organisiertes Verbrechen. Mit einem Asylantenheim fängt es an – und schon ist Rostock >multikulturell< (wie Hamburg: Afrikaner, Asiaten, Orientalen, Zigeuner, Türken und so weiter)."

Verantwortlich für das Flugblatt, angebliche Auflage 100.000 Exemplare, zeichnete der Hamburger Rechtsextremist Michael Andrejewski, zuvor Sprecher der Hamburger Hochschulgruppe der Deutschen Volksunion (DVU), Funktionär der NPD-Parteijugend Junge Nationaldemokraten (JN) und später NPD-Landtagsabgeordneter in Mecklenburg-Vorpommern. Eigenangaben zufolge hat Andrejewski das Flugblatt selbst in Lichtenhagen verteilt. Kontaktadresse der "Aktion >Rostock bleibt deutsch<" war das Postfach 111521 in Hamburg. Das Postfach war zugleich die Kontaktadresse der Hamburger Liste für Ausländerstopp (HLA), die von Andrejewski als Partei im April 1982 mitbegründet worden war.

Die rechte Szene war vor Ort gut organisiert

Während der Krawalltage hat die neonazistische "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) in Rostock Flugblätter verteilt, in denen festgenommenen "Kameraden aus dem nationalen Widerstand" Rechtshilfe und die Vermittlung von Rechtsanwälten angeboten wurde. Im Flugblatt "Verhaftet und kriminalisiert – was nun?" heißt es: "Kommt es zu Bürgerprotesten und Aktionen wie jetzt in Rostock-Lichtenhagen, versucht die Polizei durch Massenverhaftungen die Empörung in den Griff zu kriegen". Weiter ist zu lesen: "Jede Verhaftung, jedes Ermittlungsverfahren und jeder Prozess im Zusammenhang mit politischen Aktionen ist nicht das persönliche Pech für den Betroffenen, sondern Angriff gegen uns alle."

Vor Ort in Rostock waren Szene-bekannte Neonazi-Führungsgrößen aus dem In- und Ausland anzutreffen, darunter: Bela Althans (München), Vorsitzender des "Deutschen Jugendbildungswerkes", Christian Worch (Hamburg), Führer der "Nationalen Liste", Stefan Niemann (Bonn) von der "Initiative Gesamtdeutschland", die FAP-Aktivisten Lars Burmeister (Berlin) und Norbert Weidner (Bonn), Arnulf Priem (Berlin) von "Wotans Volk" und der Aktivist der "Nationalistischen Front" Thomas Hainke (Bielefeld). Aus Österreich war Gerhard Endres angereist, der Gottfried Küssel, Führer der "Volkstreuen Außerparlamentarischen Opposition" (VAPO), vertreten musste, da dieser in Wien inhaftiert war. Zugegen waren auch Gleichgesinnte aus Schweden, darunter Erik Rundquist, Aktivist des rechtsterroristischen "Weißen Arischen Widerstandes" (VAM).

Die menschenverachtenden Exzesse scheinen den angereisten Neonazis Spaß bereitet zu haben. Auf vom 25. August 1992 datierten Postkarten, die in Rostock anwesende Neonazis (Absender "Anti-Antifa-Bonn", FAP und "Initiative Gesamtdeutschland") an die Antifa-Jugendfront Bonn und an die Polizei in Bonn schickten, hieß es: "Wir möchten Euch von der nun fast ausländerfreien Stadt Rostock grüßen. Die Stimmung ist geil und wir lernen viel, z.B. was man mit Kanaken und Zecken so alles machen kann."

Der rechte Optimismus ist zu der Zeit berechtigt. Polizei und Politik waren hilflos, überfordert und wichen dem Mob. Das Asylgesetz wurde verschärft und für die Angriffe in Rostock kaum jemand zur Rechenschaft gezogen. Die meisten der 257 eingeleiteten Strafverfahren wurden eingestellt. Nur 40 Angreifer wurden wegen Landfriedensbruch und Brandstiftung verurteilt – meist zu Bewährungsstrafen. Nichts zu befürchten hatte der klatschende Mob, der keinem der Bedrohten half.

 

Unter dem Motto "Damals wie heute: Erinnern heißt verändern! 30 Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen" findet am 27. August 2022 um 14.00 Uhr eine bundesweite Demo in Rostock-Lichtenhagen statt. Mehr Infos hier: https://gedenken-lichtenhagen.de/

In diesem Kontext auch lesenswert ist der Artikel von Heike Kleffner in der 2014 erschienenen Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung, Von Mauerfall bis Nagelbombe – Der NSU-Anschlag auf die Kölner Keupstraße im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger Jahre. Nachzulesen hier: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2020/06/Von_Mauerfall_bis_Nagelbombe.pdf
 


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1 Kommentar verfügbar

  • ewald koenig
    am 28.07.2022
    Antworten
    » Dass die deutsche Gesellschaft gespalten, polarisiert ist, gilt als Tatsache und Gefahr für die Demokratie. «
    schrieb die FAZ vor zwei Tagen, bezog sich dabei auf eine aktuelle Allensbacher-Umfrage.
    Kurz-Link
    https://t1p.de/cq27y
    Verwiesen wird noch auf die Allensbach-Umfrage 2021. Ergebnis: …
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