Da ging Winfried Kretschmann live der Hut hoch. Im "heute journal"-Interview am Montagabend unterbrach Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident den Moderator Christian Sievers mit einer Kaskade von schrillen "Nein, nein"-Rufen. Weil der Fragesteller vom "Politprofi" mehr wissen wollte "zur klaren Ablehnung von verlängerten Atomkraftwerk-Laufzeiten bei den Grünen". Die kommt Kretschmann aber gar nicht über die Lippen. Stattdessen, stellt er richtig, habe er gesagt, dass keine der demokratischen Parteien in Deutschland zurück wolle zur Atomkraft. Jetzt gehe es darum, "ob man die drei Meiler eine Zeitlang weiterlaufen lässt, und das wird nüchtern-sachlich geprüft". Heute schon über das Ergebnis "herumzuspekulieren", halte er für sinnlos.
Die Szene steht für die Kakophonie in der Debatte um die Gasmangellage, für die vielen komplexen Zusammenhänge, die in Halbsätze nicht hineinpassen, für eine unabsehbare Dynamik. Das Gegengift des Grünen: Ein Gas-Krisengipfel, zu dem die Landesregierung am vergangenen Montag mehr als 40 Spitzenvertreter:innen aus Industrie und Gewerkschaften, Mittelstand, Handwerk, aus Städten und Gemeinden, der Energieversorger und der Landtagsfraktionen an einen Tisch holte.
Ein erklärtes Ziel dabei: klarzumachen, dass Appelle an Grün-Schwarz speziell aus der Wirtschaft, im Fall des Falles doch bitteschön die bisher geplante Rangordnung bei der Gas-Zuteilung zu verändern, an den falschen Adressaten gehen. In der föderalen Bundesrepublik haben die 16 Bundesländer nämlich keine Kompetenzen für die Entscheidung, ob im Krisenfall zuerst respektive zuletzt Industrie, Behörden oder Erika Mustermann Opfer bringen müssen. Priorisierung heißt dafür der Fachausdruck. Und dazu sollten alle Teilnehmenden auf ein und denselben Stand gebracht werden.
Ein Stand von extrem kurzer Halbwertszeit. Als der Gipfel sich am Montag noch gar nicht richtig aufgelöst hatte, da wurde er schon von der Eilmeldung überholt, dass Putin den Gashahn weiter zudreht: Nur noch 20 Prozent der maximalen Liefermenge fließen künftig durch die Leitung Nordstream 1 – anstelle der angenommenen 40 Prozent, die auf dem Gipfel diskutiert worden waren. Der Chef der Bundesnetzagentur Klaus Müller machte deutlich, dass die Speicher derzeit zu knapp 60 Prozent gefüllt sind. Bei 40 Prozent der eigentlich vertraglich vereinbarten Liefermenge ließen sich die Stände rechtzeitig auf 80 bis 85 Prozent steigern und damit könnte der Winter auch ohne Notlage zu bewältigen sein.
Es ging um Geschäfte, nicht um Vorsorge
Anders, als der Begriff suggeriert, wurden die Speicher schon seit langem weniger zum Speichern verwendet, sondern eher um auf dem Markt zu jonglieren auf der Jagd nach schönen Gewinnmargen. Nach der vor allem von den Liberalen so bejubelten Deregulierung des europäischen Energiemarkts ab 1998 – O-Ton Ex-Bundeswirtschaftsminister Reinhold Brüderle, FDP: "Dafür haben wir zehn Jahre hart gekämpft" – entwickelte sich für die privaten Speicherbetreiber ein scheinbar attraktives Geschäftsmodell: Im Sommer bei niedrigen Preisen kaufen und einlagern, im Winter für viel Geld abstoßen.
Allerdings stand das Konzept auf tönernen Füßen. Die anfänglich lukrativen Preisspannen wurden immer schmaler, viele Anlagen ihren Besitzern eher lästig. Russlands Staatskonzern Gazprom stand mit seinen diversen in- und ausländischen Tochterfirmen erfreut zum Ankauf bereit. Das Interesse lag dabei aber offenbar nicht in der Vorsorge für die kalte Jahreszeit. Beispiel: Rehden, eine der größten unterirdischen Anlagen in Westeuropa, war Ende Januar fast leer. Dabei ist Rehden so groß wie 910 Fußballfelder und hat ein Fassungsvermögen von fast vier Milliarden Kubikmeter Erdgas, was einem Jahresverbrauch von rund zwei Millionen Haushalten entspricht. Derzeit ist der Gasspeicher zu nicht einmal einem Viertel gefüllt.
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Zkl
am 15.08.2022