Wir schreiben das Jahr 1476. Das einfache Volk hatte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine schwere Zeit zu durchleiden. Im "Herbst des Mittelalters" war die althergebrachte Ordnung von den Mächtigen einseitig aufgekündigt worden. Gesellschaft und Kirche steckten in einer tiefen Krise. Während des Konzils von Konstanz (1414 bis 1418) hatten sich drei Päpste um die Macht gestritten und der böhmische Reformator Hus war nach einem gebrochenen Versprechen des Kaisers auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.
Eine apokalyptische Stimmung machte sich breit: Sitte und Moral in den Klöstern waren verludert, Missernten und in deren Gefolge Hungersnöte quälten das Land, die Pest wütete und der Kaiser hatte sogar einen Krieg gegen das Bauernheer der Eidgenossen verloren! Die Finanzierung seiner Kriegszüge musste er sich zu allem Übel bei cleveren Geschäftemachern wie den Fuggern zusammenbetteln, die sich dafür als Gegenleistung große Ländereien unter den Nagel rissen und sich in den Adelsstand erheben ließen.
Der niedere Adel dagegen war im Behauptungskampf gegen die immer mächtigeren Klöster, Herzöge und Kurfürsten in eine soziale Abwärtsspirale geraten, was dazu führte, dass sich die Junker all das, was ihnen ihrer Meinung nach von jeher zustand, nun mit brutaler Gewalt aneigneten. Das althergebrachte Nutzungsrecht der einfachen Dorfbewohner an Wald, Weide und Wiesen – die Allmende – wurde ihnen einfach abgesprochen, kurzum: Es waren fürchterliche Jahre angebrochen.
Revolutionäre Reden vor der Marienkapelle
Kein Wunder, dass mehr und mehr apokalyptische Wanderprediger durch die Lande zogen, die in ihren düsteren Prophezeiungen vom unmittelbar bevorstehenden Ende der Welt predigten, vom jüngsten Tag, von der Hölle, in der alle Gottlosen bald gnadenlos schmoren würden – vor allem diejenigen, die nicht die finanziellen Mittel besaßen, um sich mit Ablassbriefen von der ewigen Pein noch im letzten Moment freizukaufen.
Genau in dieser Zeit begann ein junger Schäfer namens Hans Böhm in Niklashausen im Taubertal urplötzlich, vor der örtlichen Marienkapelle revolutionäre Reden zu schmettern: von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, vom "Recht des gemeinen Mannes", von der Gottlosigkeit des Kaisers und von den Sünden der Priester. Das war Gotteslästerung! Und dennoch sagte der "Heilige Jüngling", wie sie ihn im Taubertal bald nannten, er vertrete in allen Punkten das göttliche Recht. Denn es sei doch nicht Gottes Wille, dass die einen in Armut, Not und Elend vegetieren müssten, während die anderen in einem gotteslästerlichen Luxus schwelgten. So war das doch zu Zeiten der Ahnen schließlich auch nicht gewesen, die alte Ordnung hatte ganz anders ausgesehen! Es habe eine Zeit gegeben, in der alle Menschen frei und gleich gewesen waren und folglich stelle sich die Frage: "Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?"
Und weil sich der etwa 20 Jahre junge Mann, geboren in Helmstadt bei Würzburg, Viehhirte zu Niklashausen, mit seinen Argumenten auf die Jungfrau Maria berief, die hochverehrte Schutzheilige von Franken, setzte ein regelrechter Sturmlauf nach Niklashausen ein. Von überallher kamen die Menschen: aus Franken, Hohenlohe, vom Main und natürlich aus dem Taubertal, um die Predigten des Heiligen Jünglings begierig in sich aufzusaugen.
Zehntausende pilgerten nach Niklashausen
Man muss sich das einmal vor Augen halten: Wie ein Lauffeuer hatte sich seit dem Tag Mariä Verkündigung, dem 25. März 1476, dem Tag seiner ersten Predigt, herumgesprochen, dass bei der Marienkapelle im Wallfahrtsort Niklashausen ein Jüngling davon berichte, wie ihm im Schlaf die Heilige Jungfrau erschienen sei, die durch ihn ihre Botschaft verkünde: von einem großen Strafgericht Gottes gegen alle Sünder. Dass er die Menschen auffordern solle, umzukehren und auf den Pfad der Tugend zurückzufinden, und dass sie deshalb alle nach Niklashausen kommen sollten, um Buße zu tun. Und allen, die dort am wundertätigen Gnadenbild um Vergebung bitten würden, würde diese Vergebung durch die Heilige Jungfrau auch zuteil werden.
2 Kommentare verfügbar
Peter Nowak
am 25.06.2024Ich finde es auch nicht einen Mißbrauch, dass in der DDR an diese frühbürgerlichen Revolutionäre erinnert wurde, wie es auch kein Zufall, dass sie in der BRD kaum erwähnt sind.
In der BRD sind die…