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St. Maria

Pilze züchten in der Kirche

St. Maria: Pilze züchten in der Kirche
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Theater, Blockflöten, eine Zukunftswerkstatt, Klimaprotest und die Steigbildmethode: Für die Kirche St. Maria in Stuttgart haben Ania Corcilius und Romy Range ein überraschendes Kulturprogramm zusammengestellt.

"Wir haben eine Kirche. Sie haben eine Idee?" So lautet das Motto des Programms "St. Maria als …" , mit dem sich die älteste katholische Kirche in Stuttgart, am Rand der Innenstadt, seit einigen Jahren für andere Aktivitäten öffnet, obwohl dort auch weiterhin Gottesdienste stattfinden. Ursprünglich von der Architekt:innen-Initiative "Stadtlücken" gestaltet, hat die Kirche dann das Programm nebenher selbst betreut. Auf Dauer stellte das aber keine befriedigende Lösung dar. So kam es, dass im vergangenen Jahr eine Stelle ausgeschrieben wurde.

Ania Corcilius hat in Hamburg Kunst studiert und am Kunstverein NGBK (Neue Gesellschaft für bildende Kunst) in Berlin unter anderem das Projekt "Kunst im Untergrund" betreut. 2011 zog sie mit ihrer Familie nach San Francisco und fünf Jahre später nach Stuttgart. Sie ist Lehrbeauftragte der Merz-Akademie und leitet mit Romy Range im Auftrag des Kulturamts das Projekt "Ausstellungsgrundvergütung für bildende Künstler*innen".

Romy Range hat in Greifswald Kunstgeschichte und in Ludwigsburg Kulturwissenschaft und Kulturmanagement studiert. Bevor sie 2016 nach Stuttgart kam, war sie Projektmanagerin des Brandenburgischen Kunstvereins in Potsdam und des Projekts "Neue Auftraggeber" in Berlin.

Ania Corcilius und Romy Range hatten dazu schon ein, zwei Ideen. Nicht nur für einzelne Veranstaltungen, sondern für das Programm insgesamt. Range ist Geschäftsführerin des Stuttgarter Künstlerhauses, Corcilius die ehrenamtliche Vorsitzende des Trägervereins. Das Künstlerhaus ist eine Einrichtung von Künstler:innen für Künstler:innen und die zwei Frauen hatten sich ohnehin schon aufgemacht, ihren Radius zu erweitern. Denn sie haben mehr vor: Sie wollen ihre Kompetenzen der Gesellschaft zur Verfügung stellen.

Am Samstag und Sonntag findet nun in der Kirche St. Maria das Eröffnungswochenende zu dem von Corcilius und Range gestalteten Programm statt. Die Grundgedanken, mit denen sie sich in der Ausschreibung durchgesetzt haben: Zusammenarbeiten mit anderen Akteuren vor Ort wie dem Paule Club sowie Harrys Bude und ein damit verbundenes Jahresthema: Nahrung. Denn es handelt sich um Initiativen von Wohnsitzlosen und Drogensubstituierten, die seit der Coronazeit, als die Vesperkirche und Tafelläden geschlossen hatten, ihre Nahrungsmittelversorgung selbst organisieren.

Hier prallen Gegensätze aufeinander

"Salon populaire" lautet der Projektname, unter dem sich Corcilius und Range für St. Maria beworben haben. Der Projektname erinnert an die Pariser Salons des 19. Jahrhunderts, Orte des künstlerischen Austauschs, der sogenannten Hochkultur, die nun aber den Weg zu Menschen sucht, die mit zeitgenössischer Kunst sonst nicht viel am Hut haben.

Ausgabe 664 vom 20.12.2023

Engel vor der Marienkirche

Von Thomas Morawitzky

Der Weihnachtsmann kommt auch auf der Straße: Im Stuttgarter Paulinenviertel sorgt Petra Bleile als wohltätiges Organisationstalent dafür. Der Ex-Obdachlose Harry Pfau und seine Helfer:innen geben Lebensmittel weiter und verschenken Nikoläuse.

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Dazu gehören all jene, die sich seit langer Zeit auf dem Platz vor St. Maria und unter der Paulinenbrücke treffen: Wohnsitzlose, Drogensubstituierte. Menschen, wie man sagt, am Rande der Gesellschaft. Doch was ist die Mitte, was der Rand? Die Umgebung der Kirche ist ein Ort, an dem die Gegensätze aufeinanderprallen ohne sich zu begegnen: unten die erste Hauptradroute, oben die autogerechte Stadt; auf den Dächern der Shopping Mall "Gerber" geklonte Luxusvillen als Zweitwohnsitze für Reiche, unten am Boden die Wohnsitzlosen.

Die Kirche will all diejenigen ansprechen, die "mühselig und beladen" sind, wie es im Matthäus-Evangelium heißt. Denn bekanntlich passt eher ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel. Bei "Salon populaire" geht es um Teilhabe. Das ist mehr als Teilnahme, erklärt Corcilius: nicht nur zuschauen dürfen, etwa bei Veranstaltungen ohne Eintritt, sondern selbst mitgestalten, mitbestimmen.

Den ersten Schritt haben Harry Pfau, Namensgeber von Harrys Bude, und der Paule Club selbst getan. Für Corcilius war der erste Schritt, sich als Ehrenamtliche in der Vesperkirche zu engagieren, die seit der Coronazeit nicht nur in der evangelischen Leonhardskirche stattfindet, sondern auch vor St. Maria, in Zusammenarbeit mit Harrys Bude: die beste Möglichkeit, sich gegenseitig kennenzulernen und etwas über die Probleme und Bedürfnisse der Menschen vor Ort zu erfahren. Das Jahresthema Nahrung schließt daran an.

Ist bald sogar das Brot smart?

Zur Eröffnung kommt das Ulmer Museum für Brot und Kunst mit seiner Wanderausstellung "Out of the Box", die dazu einlädt, sich über den eigenen Nahrungsmittelkonsum Gedanken zu machen. Auch diese Ausstellung ist in Reaktion auf die Corona-Restriktionen entstanden, als die Museumsräume geschlossen waren. Dreimal am Tag bieten die Ulmer Workshops an zu den Themen "Was essen wir heute?" und "Wie leben wir morgen?"

Der Aufbau hat schon zwei Wochen vorher begonnen. Range schraubt Zuchtkästen für Shiitake-Pilze zusammen: primitive Kisten, doch Luftfeuchtigkeit und Temperaturen müssen konstant bleiben und periodisch kontrolliert werden. Das kann man sich bei der Eröffnung schon mal ansehen, doch die Pilze sprießen erst nach einem halben Jahr.

Lennart Cleemann, Architekt, Künstler, 2020/21 Stipendiat des Künstlerhauses, hat drei Möbel eigens für die Ausstellung entworfen. Das erste ist ein langer quadratischer Kasten, der als Tresen, Auslage und Aufbewahrungsort dienen kann. Das zweite, senkrecht gestellt, ungefähr wie eine Telefonzelle vergangener Zeiten, dient als Hörstation, an der fast den ganzen Mai über das Hörspiel "Sauerei" des Berliner Duos Serotonin abgehört werden kann. Es geht um den Wandel in der Landwirtschaft und die richtige Beziehung von Mensch und Tier. Auf die größte Fläche des dritten, dreieckigen Möbels wird am 7. Juli der Film "Von Menschen, die auf Bäume steigen" projiziert: eine Doku über die Klima-Aktivist:innen, die gegen die Rodung des Altdorfer Walds in Oberschwaben protestieren (Kontext berichtete mehrfach, zuerst hier)

Zuvor spielt Ende Juni das Post-Theater, von Hiroko Tanahashi und Max Schumacher in New York gegründet und heute in Berlin, Dresden und Stuttgart ansässig. Ihr Stück heißt "Breaking Bread" und handelt von Brot und künstlicher Intelligenz. Gleich danach ist die bespielte Installation "Zo-on" – griechisch Lebewesen – zu sehen: ein "planetares Labor" der Puppenspielerin Antje Töpfer und des Bühnenbildners und Regisseurs Florian Feisel mit einem großen Ballon und Kugeln, an denen man lauschen kann: Ein "unbetretbarer Raum für zukünftige Versammlungen und imaginärer Treffpunkt unterlassener Handlungen", heißt es etwas kryptisch in der Ankündigung.

DJs dürfen noch nicht in die Kirche

Das Jahresthema ist das eine. Es gibt aber unabhängig davon auch noch andere Programmpunkte: Konzerte mit dem Benefizorchester, Obertönen und Blockflöten. Am 20. April gibt es einen Artwalk, ein Spaziergang entlang der Tübinger Straße, wo aus diesem Anlass in vielen Läden Kunst ausgestellt ist. Zwei Ausstellungen folgen im Juli.

Barbara Ehnes, die kürzlich in Luzern bei der Oper "Alcina" von Georg Friedrich Händel Regie geführt hat, präsentiert mit Sabine Schäfer die Steigbildmethode. Es handelt sich um ein von der Anthroposophin Lili Kolisko entwickeltes Verfahren zur Bestimmung der Qualität von Lebensmitteln. In eine wässrige Lösung aus Lebensmittelproben wird ein spezielles Papier getunkt, auf dem sich dann Formen abzeichnen, die etwas über die Lebensmittel aussagen. Zum Ausklang folgt im Rahmen des Stuttgarter Fotosommers eine Ausstellung des Fotografenverbands "Freelens", dem auch Kontext-Fotograf Joachim E. Röttgers angehört.

Kunst, Theater, Musik, ein Film, eine Fotoausstellung: Es gibt vieles, was außer Gottesdienst noch in der Kirche Platz hat. Alles ist freilich nicht möglich. In der Vergangenheit ist schon das eine oder andere auf Widerspruch gestoßen, ein DJ zum Beispiel. Theater etwa geht schon, aber nicht unbekleidet. Der Respekt vor dem Kirchenraum muss gewahrt bleiben, betont Corcilius, die mit allen drei Gemeinden – der deutschen, der philippinischen und der englischsprachigen – in Kontakt ist, ganz besonders vor dem Altar. Sie fügt aber doch hinzu: "Wir wollen die Grenzen ausloten."


Hier gibt es das Programm zum Eröffnungswochenende am Samstag/Sonntag, 6. und 7. April. Das Halbjahresprogramm finden Sie hier.

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