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Spenden für Bedürftige

Engel vor der Marienkirche

Spenden für Bedürftige: Engel vor der Marienkirche
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 Fotos: Jens Volle 

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Der Weihnachtsmann kommt auch auf der Straße: Im Stuttgarter Paulinenviertel sorgt Petra Bleile als wohltätiges Organisationstalent dafür. Der Ex-Obdachlose Harry Pfau und seine Helfer:innen geben Lebensmittel weiter und verschenken Nikoläuse.

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Es ist der 6. Dezember, der Nikolaustag. Petra Bleile fährt mit ihrem VW-Bus zur Kirche St. Maria im Paulinenviertel beim Österreichischen Platz. Jeden Samstag baut sie dort ihren Verschenkflohmarkt auf, nicht weit von Harrys Bude. Harry Pfau verschenkt an diesem Marktstand im Schatten der Kirche gerettete Lebensmittel an Menschen, die sie zu schätzen wissen. Der Nikolaustag ist auch bei Harrys Bude etwas Besonderes: Zum Salat, der gut ist, aber weggeworfen werden sollte, gibt es Schokolade. Und Bleiles Bus ist vollgepackt mit Spielwaren, die bald in Kinderhände gehen sollen. Dieser Nikolaus kommt allerdings erst vier Tage später bei der Weihnachtsfeier, die der Verein Helfende Hände im Mehrgenerationenhaus Heslach organisiert.

Während der Coronazeit entwickelte die Bürgerstiftung Stuttgart das Projekt "Supp optimal" als eine Essensausgabe für bedürftige Menschen. Am Marienplatz war auch Petra Bleile mit dabei. "Ich habe gesehen, dass die Menschen, die dorthin kommen, dringend Schuhe und Kleider benötigen und Spielsachen für die Kinder", sagt sie. "Dabei habe ich selbst immer wieder Haushaltsartikel geschenkt bekommen wie Bettwäsche, Handtücher und so weiter." Zum ersten Mal lud sie ihren VW-Bus voll und sagte sich: "Ich verschenke nun einfach Dinge des täglichen Lebens."

Am Stuttgarter Marienplatz jedoch ging das nicht lange gut. "Wir durften dort vier oder fünf Monate unbehelligt stehen und an Sonntagen jeweils für zwei Stunden Artikel verschenken", erzählt Bleile. "Dann kam eine Polizistin. Sie hat gefragt, ob wir eine Genehmigung zum Verkauf hätten. Wir haben gesagt: Nein, wir verschenken." Das war ebenfalls nicht erwünscht. Auch Andrea Laux, zu jener Zeit Mitarbeiterin der Bürgerstiftung, konnte die Situation nicht auflösen. "Die Polizei hat uns darüber informiert, dass mit einer Strafe von 500 bis 20.000 Euro rechnen muss, wer ohne eine Genehmigung einfach irgendwo herumsteht und etwas hergibt."

Das Bürgerbüro schickt sie zur Kirche

Petra Bleile und die Helfer:innen, die sie längst gefunden hatte, wandten sich ans Stuttgarter Bürgerbüro – doch eine Genehmigung zur Wohltätigkeit am Marienplatz war dort nicht zu haben, Gründe dafür wurden nicht genannt. "Aber man hat uns gesagt: Gehen Sie doch zur Kirche." Also gingen sie zur Kirche St. Maria und zu Harry Pfau. "Ich habe zu Harry gesagt, ich würde mich neben ihn stellen, immer samstags", erzählt Bleile. "Zuerst war er nicht ganz einverstanden. Wir haben uns dann aber schnell besser kennengelernt, und heute ist es ganz normal, dass er einmal Waren für mich annimmt oder ich für ihn. Wir machen das ganz im Team."

Bleiles Helferinnen am Nikolaustag sind Elisabeth Schäffner-Singer und Nanette Peithmann. Schäffner-Singer kommt aus Neugereut und arbeitete zuerst mit bei Kathys Vesper, einem Angebot der altkatholischen Gemeinde in der Katharinenkirche, das in den Wintermonaten jedoch ruht; Peithmann lebt in Zuffenhausen und gründete die Initiative #aktioneinkaufswagen. "Wir verbinden Helfer mit Leuten, die sie unterstützen möchten", erklärt sie. So kommt es, dass die Helfenden Hände, der Förderverein, der Petra Bleiles Verschenkflohmarkt trägt, nun auch Spielwaren, haltbare Lebensmittel und Hygieneartikel von Annas Lädle, einem Unverpacktladen in Plieningen, erhalten: "Anna Florek, die Besitzerin, hat ihren Kunden die Möglichkeit gegeben, diese Sachen zu spenden."

Beile, Schäffner-Singer und Peithmann verladen vor St. Maria die Spielwaren in einen zweiten Bus, transportieren sie weiter zum "Lägerle", einem Haus im Westen, das den Helfenden Händen noch für anderthalb Jahre zur Verfügung steht – dann sind ein Umbau und eine Neunutzung des denkmalgeschützten Gebäudes geplant. "Wir hoffen, dass wir etwas Ähnliches bekommen", sagt Petra Bleile, "wir sind schon dran."

Im "Lägerle" verstaut die Gruppe alles, was sie benötigt: Löffel, Servietten, Kaffee, Hygieneartikel. Es gibt eine Toilette, eine Dusche, eine Waschmaschine, einen Trockner – manch ein Obdachloser konnte sich hier schon frisch machen, seine Kleidung reinigen. "Jeden Dienstag treffen wir uns und besprechen die Dinge, die man besprechen muss. Und alle vier Wochen kochen wir mit geretteten Lebensmitteln. Dann wird die Tafel gedeckt und gegessen."

Urlaub für die gute Tat

Drüben vor der Marienkirche bei Harrys Bude stehen derweil schon Menschen um solche Lebensmittel an. Pfau lebte 13 Jahre lang selbst auf der Straße. Schicksalsschläge, sagt er, hätten ihn dorthin gebracht – und der Alkohol. Ein schwerer Unfall war es, der ihn zur Besinnung brachte. Pfau wird unterstützt von gewiss drei Dutzend Helfer:innen: "Manche kommen einmal im Monat, andere dreimal in der Woche."

Sophia ist eine von ihnen, und am Nikolaustag ist sie ein Engel. Sie trägt ein weißes Kleid und über ihr, unter der Decke des Marktwagens, glänzen Sterne, Lametta, elektrische Lichter. "Ich bin hier vorbeispaziert vor acht oder neun Wochen", erzählt sie. "Ich dachte, das sei ein Imbisswagen, aber dann habe ich festgestellt, dass man hier nichts kaufen kann. Ich habe Harry gefragt, was er macht und er hat es mir erklärt. Ich habe mir spontan ein T-Shirt übergezogen und mitgeholfen."

Seither hilft Sophia an jedem Samstag bei Harrys Bude. Am Nikolaustag hat sie sich Urlaub genommen, um dort zu sein. Sie steht lächelnd hinter der Theke und verteilt Nikoläuse aus Schokolade, Päckchen mit Weihnachtskeksen. "Für die Hunde habe ich heute Morgen noch Leckerli geholt", sagt sie. "Für viele Menschen, die hierherkommen, sind die Hunde der einzige Bezug. Deshalb bekommen auch die Hunde etwas von mir."

Hilfe bei der Wohnungssuche

Die ehrenamtlichen Helfer:innen, die Pfau und Bleile unterstützen, besitzen oft eine qualifizierte Ausbildung, bringen ihre Kenntnisse ein. Sophia arbeitet für ein großes Stuttgarter Unternehmen, spricht fünf Sprachen und bemüht sich, Menschen, die sie auf der Straße antrifft, in ein Arbeitsverhältnis und unter ein Dach zu bringen. "Die Behörden sind überfordert. Ich versuche, für die Leute eine Arbeit zu finden, und wenn sie drei Gehälter bekommen haben, gehe ich mit ihnen auf den Wohnungsmarkt und suche ein Zimmer. Und das funktioniert."

Auch Bleile hat in der Dachwohnung ihres Hauses in Gablenberg einen Mann untergebracht, der zuvor obdachlos war. Er hilft ihr gerne, er hilft ihr oft, mit einer Zeitung sprechen möchte er jedoch nicht. Bleile selbst legte 2023 mit zwei Autos rund 40.000 Kilometer zurück, auf denen sie Spenden zusammentrug. Am Tag vor Nikolaus führte ihre Tour über Stuttgart-Münster, Mühlhausen, Oeffingen, Plochingen und Schlierbach. Sie meint: "Manchmal sagt mein Mann: Könntest du nicht auch einmal daheimbleiben?"

Geht es darum, Spenden zu organisieren, Dinge zu finden und weiterzugeben an die richtigen Menschen, ist Petra Bleile ein Naturtalent. "Ich bin ein Stuttgarter Mädle", sagt sie. "Ich wurde geboren im alten Robert-Bosch-Krankenhaus und ich bin aufgewachsen in Mühlhausen, unter lauter Jungs. Da muss man schon auch die Ellbogen ausfahren können." Zuerst ging es ihr beim Verschenkflohmarkt um Nachhaltigkeit, darum, dass nicht alles weggeworfen wird. "Ich bin so erzogen worden. Mein Großvater hatte einen Bauernhof, da hat man immer geschaut, was man noch verwenden kann."

Versorgt werden nur Bedürftige

Einrichtungsgegenstände, Küchenmöbel, Spielwaren werden oft in Einrichtungen der Bürgerstiftung dringend benötigt. Auch die Stadt Stuttgart wendet sich mit Anfragen an Petra Bleile. Wenn Dinge gebraucht werden für pflegebedürftige Menschen ohne Geld, für Kinder, unbegleitete Jugendliche. Das KiZ+, das Kinderzentrum in Stuttgart-Wangen, sucht vielleicht ein Fahrrad – Bleile wird es finden. "Eine Kollegin sagt immer zu mir: Du musst den direkten Draht zum Universum haben. Wenn irgendjemand einen Backofen braucht, dann bekomme ich zwei oder drei Tage später einen Backofen angeboten."

Auch Geldspenden nehmen die Helfenden Hände entgegen, von ihnen werden Waren einkauft. Aktuell sucht der Verein einen neuen Bus, gerne gebraucht. "Auf die Dauer", sagt die Fahrerin, "fallen bei meinem Oldtimer auch immer öfter Reparaturen an. Mein Mann hat ein großes Ersatzteillager für den VW-Bus, den Rest bezahle ich aus eigener Tasche."

Noch vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine war Stuttgart nach Hamburg die deutsche Stadt, in der die zweitgrößte Anzahl an Menschen ohne Obdach lebte. Verteilt über einen Tag finden sich beim Verschenkflohmarkt vor St. Maria oft bis zu 80 Personen ein. Immer wieder sind auch Unbekannte unter ihnen. Roma kommen, Flüchtlinge aus der Ukraine, Muslime, öfter aber auch Deutsche, denen das Geld nicht reicht. Gerade die Corona-Krise ließ viele Menschen unter die Armutsgrenze sinken; die steigenden Kosten für Energie und Lebensmittel sorgten für eine zweite Welle.

Den Fall des durchaus nicht armen, aber sparsamen Besuchers gibt es natürlich auch. "Wir schicken diese Leute weg und sagen: Es tut uns leid. Oder, wenn etwas dabei ist, das sie unbedingt haben möchten, dann können sie es haben, wenn sie uns dafür eine Spende geben." Häufiger aber kommen Menschen vorbei, drücken Petra Bleile einfach eine Tasche in die Hand und sagen: "Da haben Sie eine Spende."

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