Bei Samuel Bosch und Charlie Kiehne aus Ravensburg liegt der Fall ganz ähnlich.
Es gibt in Deutschland das juristisch verbriefe Recht auf Eigentum und damit das Recht, mit diesem zu tun, was man möchte. Ich kann ein noch fahrtüchtiges Auto verschrotten lassen. Das ist Vergeudung von Ressourcen, aber nicht strafbar. Ich kann ein noch bewohnbares Haus zu Spekulationszwecken leerstehen lassen oder den Mieter:innen kündigen, es abreißen und ein gewinnbringenderes auf dem Grundstück errichten lassen. Das ist sozial problematisch, aber nicht strafbar. Ich kann als Milchbauer mehr Milch produzieren, als der Markt verlangt. Diese Milch tonnenweise ins Abwasser zu kippen ist nicht erlaubt, weil das Kläranlagen schädigt. Sie zu Trockenpulver zu verarbeiten, mit Steuermitteln nach Afrika zu exportieren, dort die Kleinbauern zu ruinieren und in die Armut zu treiben, ist erlaubt. Besitzer von Supermärkten ordern, um das Angebot möglichst attraktiv zu gestalten, mehr Lebensmittel, als Kunden dafür vorhanden sind. Der Eigentumsbegriff erlaubt es, diese Lebensmittel vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) als Sonderangebote anzubieten, sie zu verschenken, oder sie industriell vernichten zu lassen. Für diese Lebensmittel waren häufig Arbeitskräfte mit weniger als Mindestlöhnen, Böden, Wasser, Tiere notwendig, riesige Mengen CO² wurden für Produktion, Verarbeitung und Transport ausgestoßen. Nichts davon ist strafbar. Sich jedoch Lebensmittel anzueignen, so sie sich in einem Supermarkt-Müll-Container befinden, ist Diebstahl.
Die Forderung nach einem Lebensmittelgesetz
Der inzwischen umstrittene Eigentumsbegriff nach § 242 StGB wurde im August 2020 vom Bundes-verfassungsgericht in letzter Instanz geklärt: "Containern" bleibt strafbar. Das Urteil hat in der Gesellschaft und in Kreisen der Politik kontroverse Diskussionen ausgelöst: Wer garantiere bei der Entnahme der Lebensmittel deren Unversehrtheit? Die, die containern und verteilen?
Gälte die freie Entnahme dann auch für den Abfall auf Baustellen, an Baumärkten? Lebensmittel seien damit nicht vergleichbar, sie seien, dem Wort entsprechend, Leben, heißt es in Container-Kreisen.
Frankreich und Tschechien haben darauf schon reagiert. Dort müssen Supermärkte unverkäufliche Ware spenden. In Italien gibt es Steuererleichterungen gegen die Verschwendung.
Diebstahl ist persönliche Bereicherung, meist mit gewaltsamen Einbrüchen in fremdes, geschütztes Territorium, mit betrügerischen Methoden verbunden. Die in Ravensburg Angeklagten Bosch und Kiehne haben aus offenen Abfallbehältern bei zwei Supermärkten und einer Bäckerei weggeworfene Lebensmittel mitgenommen. Sie haben sich nicht bereichert, sie haben die Lebensmittel an Menschen, die sie benötigten, verteilt. Wie zahllose andere "containernde" Akteur:innen in Deutschland.
Die Discounter betrachten die Lebensmittel als Müll, für dessen Entsorgung sie bezahlen müssen und haben keine Anzeige erstattet. Die Anzeige in Ravensburg kam von der Staatsanwaltschaft, die, wie es der Rechtsanwalt Klaus Schulz formuliert, nach eigenem Gutdünken einen Hausfriedensbruch und Diebstahl attestieren kann, ohne Berücksichtigung der Motivation der Angeklagten. So kam es zum Prozess.
Die Richterin wollte das Verfahren einstellen, aber Samuel Bosch und Charlie Kiehne ließen sich so leicht nicht abspeisen und bestanden – wie Jesuitenpater Jörg Alt – auf einem Prozess, um ihrem Anliegen Aufmerksamkeit zu verleihen. Um bewusst ein provokatives moralisches Zeichen zu setzen. "Es gibt nicht zu wenig Essen auf der Welt, es muss nur umverteilt werden. Im globalen Norden wird verschwendet, während im globalen Süden 820 Millionen Menschen hungern", sagte Charlie Kiehne vor Gericht.
An den Prozessen gegen Lebensmittelretter:innen auch in anderen Städten kann man zu verblüffenden Einblicken in das Rechtsbewusstsein kommen. Die ehemaligen CSU-Abgeordneten des bayerischen Landtags Georg Nüßlein und Alfred Sauter nutzten ihre Beziehungen, um einen Coronamasken-Deal über 60 Millionen Euro einzufädeln. Sauter kassierte eine Provision von 1,24 Millionen Euro, Nüßlein 660.000 Euro aus Steuergeldern. Der BGH entschied nun, dass die von der Münchener Staatsanwalt beschlagnahmten Gelder freigegeben werden müssten. Es handele sich weder um illegale Bereicherung noch um Missbrauch parlamentarischer Privilegien.
Januar 2019. Zwei Studentinnen sind vor dem Amtsgericht Fürstenfeldbruck wegen "besonders schweren Diebstahls" angeklagt. Sie entwendeten aus einem Container eines Supermarktes weggeworfene Sahnepuddings, ein Kilo Gala-Äpfel und Heringsfilets, die sie an Bedürftige verteilten. Das Gericht urteilte: acht Stunden Sozialarbeit und 225 Euro Strafe.
Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung wird vage versprochen, "die Lebensmittelverschwendung verbindlich zu reduzieren". Auch Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) redet von einem Lebensmittelrettungsgesetz. Nahrung werde weggeworfen, weil sie zu billig sei. Sie zu verteuern würde Überproduktion und Umweltschäden reduzieren und den Bauern helfen. Es dürfe "keine Ramschpreis mehr" geben, sagte er der "Bild", Lebensmittel müssten "die ökologische Wahrheit stärker ausdrücken". Klingt gut. Doch wie will er das anstellen? Will er die Lebensmittelfirmen zwingen, die willkürlich festgelegten MHD zu verlängern, damit weniger Lebensmittel produziert würden? Will er die Zehnerpackung Industriebrötchen verteuern, die Hähnchenschenkel und den spanischen Blumenkohl zu 1,20 Euro? Aber der weggeworfene Blumenkohl wird erst einen fairen Preis bekommen, wenn die Lkw-Fahrer aus Osteuropa und die illegalen Pflücker in Spanien streiken und kein Wasser mehr vorhanden ist.
Außerdem könnten viele Menschen sich teurere Lebensmitteln nicht mehr leisten. Also geben Sozialverbände Özdemir Contra. Preissteigerungen müssten "zwingend mit einer deutlichen Erhöhung der Regelsätze einhergehen", sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider der "Welt".
2 Kommentare verfügbar
Ruby Tuesday
am 16.09.2022Es sind nicht Geruch, Keimzahl oder „tanzende“ Maden…