KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Die Sterne sehen

Die Sterne sehen
|

Datum:

Sehr eilig hatten es die SWSG und die Stadt, die Mieter eines Gebäudes im Stuttgarter Osten vor die Tür zu setzen. Das war vor zwei Jahren. Dringend benötigter Wohnraum sollte entstehen. Jetzt steht der Bau leer und drin wird Theater gespielt.

Die Citizen-Kane-Bar ist ganz oben im dritten Stock des entmieteten Gebäudes. "Übrig geblieben ist sie vom Minihotel, das neben anderem Gewerbe im Betonkasten untergebracht und früher womöglich ein Bordell war", schreibt der Theaterkritiker der "Stuttgarter Zeitung" zum Programm des Citizen Kane Kollektivs. Was Roland Müller nicht wissen kann: Der Ort, um den es hier geht, war bis vor zwei Jahren die Wohnung des Bauunternehmers Roland Hill.

Hill hatte 1978 auf Drängen der Stadt den gesamten 100 Meter langen Gebäuderiegel im Hinterhof gegenüber dem Gaskessel als Generalmieter übernommen. Da er, um die Sanierung tragen zu können, sein Eigenheim verkaufen musste, baute er sich seine eigene Wohnung aufs Dach des Betonriegels. Mit Blick über den Gaskessel ins Neckartal. Als Unternehmer vom alten Schlag verließ er sich auf die mündliche Zusage, dort bis an sein Lebensende wohnen zu können. Dann verkaufte die Stadt den Bau an ihre eigene Wohnungsgesellschaft SWSG, und Hill erhielt mit all seinen Mietern eine Kündigung. (<link https: www.kontextwochenzeitung.de politik _blank external-link>Kontext berichtete)

Bereits am 31. Januar 2017, als das Haus noch bewohnt war, schrieb die SWSG einen Neubau mit 40 Miet- und Eigentumswohnungen aus. Voraussichtlicher Baubeginn: drittes Quartal 2018. In der Ausschreibung, die Kontext vorliegt, steht nichts von Abbrucharbeiten. Sie hätten also bis dahin erfolgt sein müssen. Der Bau steht immer noch, und er steht leer. Der Bauunternehmer blieb tatsächlich bis an sein Lebensende in der Rotenbergstraße. Doch er sah sein Lebenswerk zerstört. Eine Woche nach Erscheinen des Kontext-Artikels war Roland Hill tot.

Den "Gesamtmietvertrag hat die SWSG nach der Übernahme 2014 auf 2017 gekündigt", antwortet das Unternehmen nun auf Anfrage. "Von 'eilig ausziehen' kann also keine Rede sein." Allerdings erfuhr Hill erst nachträglich und aus der Zeitung, dass die Stadt den Bau an die SWSG verkauft hatte. "Die Planungen für diesen Gebäudekomplex sind schwierig", so deren Pressesprecher Peter Schwab weiter. "Grenzbebauung und komplizierte statische Fragen schließen einen vorzeitigen Abriss des Altgebäudes aus. Anders als bei anderen Neubauprojekten der SWSG kann der Altbau erst abgerissen werden, wenn die Baugenehmigung für den Neubau vorliegt." Dies ist bisher nicht der Fall. Hill hätte also ohne Weiteres noch zwei Jahre bleiben können.

Das Citizen Kane Kollektiv, das gern an ungewöhnlichen Orten auftritt und dabei auch auf die örtlichen Gegebenheiten eingeht, hat von der SWSG durchaus einiges zur Vorgeschichte des Gebäudes gesagt bekommen. "In dem dreiteiligen Komplex", steht im Programmheft, "waren einst verschiedene Gewerbe – Asiamarkt, Arztpraxis, Weinstube, Nachtclub, Firma für Präge-Technik, Büroräume, Pensionszimmer und private Wohnräume – angesiedelt."

Der Asia-Markt Thai Lam und die Firma Prägetechnik Bechinger sind in den Stadtteil Wangen umgezogen. Die Weinstube befand sich im hinteren Gebäudeteil im Obergeschoss, bevor Frank Bechinger auch diese Etage übernahm. Aber Pensionszimmer? Nachtclub? Doch, man könne sich schon vorstellen, dass es dort einmal ein Bordell gab, meint ein Premierenbesucher: Nummern an den Türen; eine Sauna; eine Bar.

Das Rätsel ist schnell gelöst. Ein früherer Mieter kann Auskunft geben: Die Räume, um die es sich handelt, waren tatsächlich die Privatwohnung von Roland Hill. Warum sollte sich ein Bauunternehmer nicht eine Sauna in seine Wohnung einbauen? Die Zimmernummern zeugen von der Absicht seiner Frau, hier temporäre Arbeitskräfte unterzubringen, die in der angespannten Lage in Stuttgart sonst keine Unterkunft finden. Aus der Pension wurde jedoch nichts. Die Stadt genehmigte sie nicht. Hill war ein sozial engagierter Vermieter. Als es die Weinstube im hinteren Gebäudeteil noch gab, hat er dort eine Kegelbahn eingerichtet. Er hätte den Bau gern zu einem Treffpunkt für die Nachbarschaft gemacht.

In seinem Wohnzimmer hatte Hill eine Bar eingerichtet. Als Citizen-Kane-Bar ist sie nun der Ausgangspunkt des Stationentheaters. "Sie ist erste Anlaufstelle und das letzte Stück Land, das wir an diesem Abend sehen werden", heißt es im Programmheft. Die rustikalen Deckenbalken und Holzwände verraten, dass es sich um einen nachträglichen Aufbau handelt, mit Dachgarten und Blick auf die Industrielandschaft des Neckartals. Vor dem Fenster steht ein Plakat mit Palmen vor einem tropischen Sonnenuntergang. Draußen herrscht klirrende Kälte. Es gibt Glühwein, zur Eröffnung spielt eine Band mit Pelzmützen.

Vier Monate hat das siebenköpfige Kollektiv, das auch schon am Stuttgart Hafen, im Leonhardsviertel oder im Turmforum des Hauptbahnhofs aufgetreten ist, recherchiert und sich bei der Entwicklung des Stücks von dem Gebäude inspirieren lassen. Herausgekommen sind zwölf Szenen, die sich mit dem Thema Leerstand, aber auch, vom Blick auf das Daimler-Werk und das Mercedes-Benz Museum ausgehend, mit dem Ende des Automobilzeitalters auseinandersetzen. 

"Einst machte der Autobau Stuttgart zu einer Metropole", steht im Begleittext zur Fotoausstellung "The Ruins of Stuttgart" in einem der Pensionszimmer. "The Ruins of Detroit": so lautet der Titel eines Fotobandes über die amerikanische Autostadt, die Christian Müller besucht hat. Es war nicht ganz einfach, in Stuttgart vergleichbare Räume zu finden - noch brummt hier das Immobiliengeschäft. Doch die Cannstatter Bettfedernfabrik steht schon seit 2002 leer. Seit 17 Jahren laboriert die Stadt nun schon daran herum, den Standort mit Hilfe privater Investoren in ein Wohngebiet zu verwandeln.

"Das Ende der deutschen Automobilindustrie wurde 2017 eingeläutet", heißt es im Ausstellungstext weiter. "Vorboten waren das verlorene Vertrauen der Kunden infolge des Abgasskandals und Dieselfahrverbote. Konzerne wie Daimler und Porsche hielten zu lange am Verbrennungsmotor fest und verpassten so den Anschluss an die Elektromobilität." Die Fabriken sind nur noch Ruinen, die Menschen haben die Stadt verlassen. Kein Auto fährt mehr durch die Straßen. Daher der Titel des Stücks: "Die Stille der Stadt".

Von da aus hat sich das Kollektiv mit Gästen assoziativ durch die Räume gearbeitet. Ein Archäologe namens Piotr Goldman hat in ferner Zukunft das Gebäude durchsucht, das im Jahr 2019 dann doch nicht abgerissen wurde. Was wächst in verlassenen, schummrigen Gemäuern? Pilze! In der Sauna hängen sie von der Decke, auf Substrat einer Esslinger Pilzzucht, wunderschön und irgendwie irreal rosa leuchtend im Spotlight. Lotte Lindenborn hat sich mit Tauben beschäftigt, den ungeliebten Gästen der Stadt. Sie zeigt verletzte Vögel und echte Taubennester und bereitet dazu einen tänzerischen Audiowalk vor, der von der Kirche St. Maria zum Theater Rampe führen soll.


Leerstand ist auch ein Thema für Künstler. Nicolas Schützinger hat die Räume während der Vorbereitungen im Dezember als Atelier genutzt und zeigt nun in den ehemaligen Industrieräumen der Firma Bechinger eine große Einzelausstellung seiner Gemälde. Wohnen ist ein wichtiges Thema, ein Wäscheständer ein häufiges Motiv. Immer wieder werden die Zuschauer in kleinen Gruppen in entlegenere Räume geführt. Zwei Treppen geht es hinab, dann fällt hinter den Theaterbesuchern ein Tor ins Schloss und das Licht geht aus. Aus einem Pelzhaufen erhebt sich die "Stadt als Hure". Sie verkörpert das zukünftige Stuttgart, von allen Freiern verlassen. Was sie von sich gibt, ist zweideutig und keineswegs jugendfrei.

Dann wieder geht es hinauf. Es ist dunkel und kalt, die Zuschauer kauern um eine Kerze. "Die haben alles geklaut und dann waren sie weg", beschreibt Ema Staicut den Moment, in dem das internationale Finanzkapital Stuttgart endgültig den Rücken gekehrt hat. Nur Jürgen Kärcher ist – in einem anderen Raum – als letzter Autofahrer in der Stadt geblieben und dreht mit überhöhter Geschwindigkeit seine Runden. "Alles, was uns Halt gab, ist weggebrochen", sagt Simon Kubat. "Zurück blieb Verworrenheit. Unverständliche Sätze, inkohärentes Denken. Ruhelos." Doch die Stille, die nun in die Stadt eingekehrt ist, bietet auch Chancen: Sich vom Sicherheitsdenken, vom Funktionierenmüssen freizumachen und wieder die Sterne zu sehen.

Das mehr als dreistündige Programm zeigt nicht, wie es wirklich war in der Rotenbergstraße 170. Es verlängert Entwicklungen der Gegenwart in eine imaginäre Zukunft, um von da aus einen Blick zurück zu werfen: darauf, "wie es war" im Jahr 2019. Was zum Teil krass überzeichnet erscheint, lässt die aktuelle Situation in einem anderen Licht erscheinen. "In den vergangenen Jahren hat Stuttgart wirtschaftlich schlimmer gelitten als alle anderen Großstädte in Deutschland", heißt es im Programm. "Der Niedergang der Stadt ist unübersehbar." 

Nahe dem Ausgang führt das Designerduo Sense Trans Techno eine Testreihe durch. Jeweils vier Personen bekommen Würfel über den Kopf gestülpt. Einen Stock tiefer hatte Roland Hill einmal eine Disco eingerichtet. Der jetzige Zustand des Gebäudes hätte dem verstorbenen Generalmieter bestimmt nicht gefallen. Aber dass dort noch einmal ein Kulturprogramm stattfindet, vielleicht schon.

Weitere Vorstellungen finden am 25., 26., 27. und 28. Januar statt. <link https: www.citizenkane.de performances die-stille-der-stadt _blank external-link>Mehr dazu gibt's hier.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!