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"Der Kaufmann" in der Kirche St. Maria, Stuttgart

"Befragen wir die Geschichte"

"Der Kaufmann" in der Kirche St. Maria, Stuttgart: "Befragen wir die Geschichte"
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Hilfe oder Ausbeutung: Das Théâtre Soleil aus Ouagadougou und das Theater Prekariat aus Stuttgart haben ein Stück entwickelt, in dem es um die wirtschaftlichen Beziehungen europäischer und afrikanischer Länder geht. Auf Augenhöhe? Ja – bei der Zusammenarbeit der beiden Theater.

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"Sobald die Händler an der Küste die Nachricht erhalten, dass sich eine Karawane nähert, beginnen sie mit den Vorbereitungen" – auf die Ware Mensch. Die Karawane spielen fünf Personen: drei aus Ouagadougou, zwei aus Stuttgart, ein Mann und vier Frauen. Jede:r von ihnen bewegt zugleich eine lebensgroße Marionette, das heißt nur die untere Hälfte, von der Hüfte abwärts. "Allez", treibt eine:r die Kamele an, "kch – kch – kch – kch". Die drei Burkinabé tragen den Turban der Tuareg, mit Schleier vor Mund und Nase.

Seit zwei Wochen sind die Schauspieler:innen und der Regisseur des Théâtre Soleil aus der Hauptstadt von Burkina Faso bereits in Stuttgart, um mit Adelheid Schulz und ihrer Truppe vom Theater Prekariat zu proben: heute zum ersten Mal in der Kirche St. Maria, wo am 7., 8. und 9. Mai eine Werkstattpräsentation stattfindet. So haben sie es genannt, da sie zum Zeitpunkt, als sie die Förderanträge geschrieben haben, noch nicht wissen konnten, ob sie bis dahin ein fertiges Stück zuwege bringen. Nun sind sie jedenfalls nicht weit davon entfernt.

Die Puppen-Unterleibe gehen in die Knie wie die Kamele, wenn die Karawane angekommen ist: die erste, die nach der Regenzeit die Atlantikküste am Rio Pongo im heutigen Guinea erreicht. Laura Sophia Becker zitiert aus dem 1860 in Paris erschienenen Bericht des Sklavenhändlers Théodore Canot. Die Karawane bringt unter anderem "vierzig gefangene und gefesselte N*, (...) 60 Stück Vieh, eine große Herde von Schafen und Ziegen und die Frauen. Wenn ein Trupp Orang-Utans dabei gewesen wäre", so der erniedrigende, rassistische Kommentar des Autors, "hätte ich wirklich nicht sofort sagen können, welche Exemplare der Kollektion zum Tierreich und welche zum Menschenreich gehörten."

Szenen unvorstellbaren Grauens

Canots Bericht bezieht sich auf die Jahre 1820 bis 1840, als der Sklavenhandel bereits umstritten war, aber noch stattfand. Es ist einer der wenigen Texte, die aus erster Hand über die menschenverachtende Praxis Auskunft geben. Adelheid Schulz hat viel recherchiert, um die historischen Begebenheiten anhand von Originaldokumenten realitätsnah darzustellen. Die Dialoge hat Thierry Ouéda geschrieben, der Leiter des Théâtre Soleil. Die Schauspieler:innen aus Ouagadougou sprechen kein oder nur wenig Deutsch.

"Das Zwischendeck, in dem wir zusammengepfercht waren, war 60 Zentimeter hoch", schildern nun Tala und Idir (Alida und Halimata Nikiema) die Zustände auf dem Sklavenschiff. "Jeder von uns hatte eine Liegefläche von ca. 30 Zentimetern." Sie waren "so eng verstaut, dass wir nur sitzen oder sehr gekrümmt liegen konnten. Es herrschte ein Gestank wie die Pest. Wie die Tiere lagen wir in Dreck und Unrat. (...) Die Schreie und das Stöhnen der Sterbenden machte das Ganze zu einer Szene fast unvorstellbaren Grauens."

Es muss dauernd übersetzt werden: während der Proben – so braucht Adelheid Schulz manchmal Hilfe –, aber auch auf der Ebene der Handlung, im Stück. Das zeigt die nächste Szene, die sie nun durchspielen: die, mit der das Stück beginnt. Der Investor Huber (Jule Lotte Bröcker) will von Sanlam (Abou Kabre) Land erwerben, der auch bereit ist zu verkaufen. Huber spricht kaum Französisch, seine Assistentin Sarah (Laura Sophia Becker) muss dolmetschen. Da schaltet sich Idir ein und erzählt von Terrorakten in der Provinz Soum im Norden von Burkina Faso. 39 Menschen seien auf dem Markt ermordet worden. "Ah, ja, diese Massaker, schrecklich", kommentiert der Investor.

Wer profitiert? Der Handel, hier wie dort

Meint er es ehrlich? Will er den Menschen helfen, indem er ihnen ihr wertloses Wüstenland abkauft? Wird er sie tatsächlich an den Gewinnen beteiligen, wenn er denn Erdöl oder Uran findet? Darum entspannt sich nun eine lebhafte Diskussion. Idir ist nicht überzeugt. Wer profitiert von der Gewalt? Ein Kaufmann wird dir immer das erzählen, was du hören willst, weiß er. Um zu verstehen, was passiert, müsse man die Geschichte befragen, meint Tala. Huber stimmt zu: "Gut, befragen wir die Geschichte."

Vor drei Jahren war Adelheid Schulz von einer DAAD-Lektorin im Fach Germanistik an der Universität Ouagadougou eingeladen worden, einen Schauspielkurs für Studierende zu geben. Sie nutzte die Gelegenheit, ihre Fühler in die Theaterszene auszustrecken. Empfohlen wurde ihr Thierry Ouéda mit seinem Théâtre Soleil. Sehr schnell waren sie sich einig, dass sie etwas zusammen machen wollten. Aber was?

Was die Länder südlich der Sahara und nördlich des Mittelmeers verbindet, ist der Handel. Schon im Mittelalter waren die europäischen Schatzkammern gefüllt mit dem Gold, das die Karawanen durch die Wüste brachten. Portugiesen und Spanier segelten um die afrikanische Westküste herum, kamen aber an die Goldschätze nicht heran und begannen mit dem Sklavenhandel. Engländer und Franzosen, Holländer und Dänen folgten.

"Die Sklaverei ist für uns ein wichtiges Thema, aber man spricht nicht darüber", meint Thierry Ouéda. In Deutschland verhält es sich ähnlich. Dabei gibt es Autor:innen, die sagen, ohne Kolonialismus und Sklaverei hätten niemals große Mengen an Kapital angehäuft werden können. Die Textilindustrie kam nicht nur wegen der mechanischen Webstühle voran, sondern auch wegen der billigen Baumwolle, die aus Sklavenarbeit auf den Plantagen stammte. Ohne Kautschuk wäre das Automobil eine Motorkutsche geblieben. Die Rohstoffe sind es, auf die Investoren auch heute aus sind. Investoren wie Huber.

Das Meer gibt keinen zurück

Das Problem, sagt Sanlam, fängt damit an, dass Menschen zu einer Ware gemacht wurden: "Es waren wir, die Afrikaner, die das zuerst akzeptiert haben." Huber hält Idir vor: "Ihr hattet natürlich die Wahl, ihr hättet eure Gefangenen nicht an die europäischen Kaufleute verkaufen müssen. Übernehmt doch bitte die Verantwortung für eure Beteiligung an der Geschichte und macht euch endlich Gedanken um die Gegenwart!" Diese Aussagen hat Thierry Ouéda formuliert. Dass auch Afrikaner am Sklavenhandel beteiligt waren, ist ihm wichtig.

Die Befragung der Geschichte geht weiter: "Kolonialismus, Schulden, Weltbank, IWF". Die Berliner Konferenz 1884 kommt zur Sprache, als die europäischen Mächte den afrikanischen Kontinent unter sich aufteilten. Auch Thomas Sankara, der die frühere Kolonie Obervolta in Burkina Faso, das Land der aufrechten oder ehrenwerten Menschen, umbenannt hat. 1987 wurde er ermordet, nachdem er sich in einer Rede vor der Organisation afrikanischer Staaten gegen die Schuldenrückzahlung ausgesprochen hatte. "Wollen Sie uns weiter ausbeuten?", fragt Idir den Investor.

Ein Akkordeon erklingt in der Kirche St. Maria, zuerst ganz leise. Die Schauspieler:innen summen mit und singen dann alle den deutschen Text: "Ein Wind weht von Süd und zieht mich hinaus auf See." Das Lied ist der Auftakt zum Stück, noch bevor Huber das Zelt von Sanlam, Idir und Tala betritt. "Mich trägt die Sehnsucht fort in die blaue Ferne ..." Die sentimentale Melodie kennt jede:r: "La Paloma ohe ... einmal holt uns die See / und das Meer gibt keinen von uns zurück."

Keim der Hoffnung: Das Volk erhebt Einspruch

Am Ende hat sich die Perspektive gewandelt. Nun stimmt Idir ein Lied an: von den Vögeln im Schatten des Feigenbaums. Sanlam packt ein Instrument aus und begleitet ihn. Er will, gegen den Willen seines Volkes, jetzt nicht mehr verkaufen. Huber verspricht, das Land werde von den Investitionen profitieren. Sanlam schenkt ihm sein Instrument, denn: "Jeder Fremde, selbst ein Händler, verdient geehrt zu werden." Am Ende stellt sich die Frage: Was ist die Zukunft? Investitionen in Erdöl und Bodenschätze oder das, was die Kinder des Landes in jeder Generation selber für sich entscheiden?

Thierry Ouéda verfolgt mit dem Stück– wie generell mit dem Théâtre Soleil, das er vor zehn Jahren gegründet hat – pädagogische und zugleich politische Absichten. Seit 2015 gibt es das Bildungsprojekt "Graines d'espoir" (Keime der Hoffnung), das mehr als 400 Schüler:innen pro Jahr Schauspielunterricht bietet. Wie viele von ihnen dann wirklich Schauspieler:innen werden?, fragt Lisa Sperling Dossa, die Produktionsleiterin des Stücks. Sie versuchen, so vielen wie möglich eine Zukunft zu bieten, antwortet Ouéda, das sei aber nicht einfach. Viele spielten in Produktionen des Théâtre Soleil mit. Etwa 50 Personen sind ständig an seinem Theater beschäftigt.

Das Théâtre Soleil stellt seinen Schüler:innen am Ende ein Zeugnis aus. Bisher gebe es in Burkina Faso keine Hochschule für Darstellende Kunst und kein reguläres Diplom für Schauspiel, sagt Ouéda, doch die Zeugnisse seines Theaters seien staatlich anerkannt. Wichtig sei für die Schauspieler:innen auch die Gelegenheit, nach Deutschland zu kommen. Er selbst war schon öfter in Belgien und Skandinavien und vor langer Zeit einmal in Berlin. Abou Kabre, Alida und Halimata Nikiema sind zum ersten Mal in Deutschland.

An der Geschichte von Sklavenhandel, Kolonialismus, Entwicklungshilfe und Schuldenkrise sind zwei Seiten beteiligt, Europäer und Afrikaner. Aus dem Stück können die Zuschauer:innen auf beiden Seiten lernen. Das Publikum in St. Maria erfährt aus erster Hand, wie die Menschen in Burkina Faso die europäische "Entwicklungspartnerschaft", die Politik wirtschaftlicher und militärischer Hilfen wahrnehmen.

Ungleich wichtiger ist die Aufführung der endgültigen Version im September in Ouagadougou. Denn das, was in dem Stück verhandelt wird, ist tatsächlich die Zukunft des Landes. Sanlam steht hier für die vielen Politiker, die immer nur zu gern bereit sind, die freundlichen Angebote der auswärtigen Investoren anzunehmen, Idir und Tala dagegen für das Volk, das Einspruch erhebt.


Das Stück "Der Kaufmann" wird am Sonntag, 7., Montag, 8. und Dienstag, 9. Mai jeweils um 20.30 Uhr aufgeführt in der Kirche St. Maria, Tübinger Straße nahe U-Bahn-Halt Österreichischer Platz in Stuttgart-Süd. Der Eintritt ist frei, um Spenden wird gebeten.


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