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Ismail Mutlu

Ein Bagger für Gölbaşı

Ismail Mutlu: Ein Bagger für Gölbaşı
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Als 13-Jähriger kam Ismail Mutlu aus der Türkei ins schwäbische Geislingen an der Steige. Der Anfang war schwer, sein Herz groß. Soziales Engagement führte ihn in den Gemeinderat – als Stadtrat, später auch als stellvertretender Oberbürgermeister. Derzeit ist er im Einsatz für die Erdbebenopfer in seinem Geburtsort.

Der Laptop ist sein ständiges Arbeitsgerät. Was Ismail Mutlu erzählt, belegt er sofort durch Fotos, die nach blitzschnellem Griff in die Tasten aufploppen: Bilder verheerender Zerstörung, Trümmerlandschaften. Sein Mailaccount springt auf, er zeigt, wie viele Firmen er schon angeschrieben hat mit der Bitte, sein Spendenprojekt zu unterstützen. Er rief es ins Leben, gleich nachdem ihn am 6. Februar dieses Jahres die ersten Nachrichten aus der Türkei erreicht hatten: über die beiden verheerenden Erdbeben, die innerhalb weniger Minuten mehr als 52.000 Menschen das Leben gekostet und unzählbare Existenzen vor das Nichts gestellt haben.

Er serviert Tee und Engelshaar im kleinen Wintergarten seines Hauses im Geislinger Ortsteil Seebach. Hier wohnt er mit seiner Frau, seinem Sohn und seinem großen schwarzen Hund, der jetzt aber draußen im Garten bleiben muss. "Der ist sehr gastfreundlich", sagt Mutlu, "der würde euch die ganze Zeit knutschen." An der Fensterfront stehen unzählige Anzuchttöpfchen: Auberginen, Peperoni, Tomaten. Aufgezogen aus Samen seiner türkischen Heimat. Die Pflänzchen werden bald ins kleine Treibhaus und ins Hochbeet des gepflegten Gärtchens vor dem Haus umziehen.

Leben in Etagen, geordnet nach Nationalitäten

Mutlus Vater war Reisbauer, bevor er 1964 von einem der Anwerber der deutschen Konsulate als sogenannter Gastarbeiter aus seinem anatolischen Dorf nach Deutschland geholt wurde. Zunächst ins Saarland, wo er im Eisenwerk "Völklinger Hütte" arbeitete. In der Stahlkrise Ende der 1970er-Jahre wurde er dann zur Arbeit nach Geislingen bei der Heidelberger Druckmaschinen AG "weitergeleitet". Hier wie dort lebte er in einer der Baracken, die für die "Gastarbeiter" bereitgestellt wurden – die Etagen geordnet nach Nationalitäten. Seine Familie sah er nur selten. Um sie nach Deutschland zu holen und weil es so gut wie unmöglich für ihn gewesen sei, eine Mietwohnung zu bekommen, habe er sich kurzerhand ein Haus kaufen müssen. Sein Vater sei der erste Türke gewesen, der in Geislingen ein Eigenheim erstanden habe, sagt er nicht ohne Stolz. Am 17. August 1980 kam also Ismail Mutlu, jüngstes von acht Kindern, mit seiner Mutter und einer Schwester in Geislingen an. Zwei der Brüder waren schon dort. Die beiden Lehramtsstudenten hatten sich infolge der Studentenunruhen in der Türkei nach Deutschland abgesetzt.

Mutlu war damals im besten Teenageralter, 13 Jahre alt. Er landete in der sechsten Klasse einer Hauptschule. Konnte kein Wort Deutsch, verstand nichts. Er verließ die Hauptschule ohne Abschluss. Noten hatte er nie bekommen. Er sei einfach so durchgewunken worden, ohne dass sich jemand um seinen Spracherwerb gekümmert habe. Er sagt, man habe halt damit gerechnet, dass die "Gastarbeiter"-Familien wieder in die Türkei zurückkehren werden.

Mutlu hat als Hilfsarbeiter in der Geislinger Metallwarenfabrik WMF gearbeitet. Die Wende kam, als er sich mit einem deutschen Studenten anfreundete, der ihn zu einem Amnesty-International-Ortsgruppen-Treffen einlud. "Eine Einladung schlägt man doch nicht ab", sagt er, "da geht man dann hin – jeden Montag." Er habe allerdings erst nach sechs Monaten begriffen, dass es dort um Menschenrechte gehe, sagt er lachend.

Der erste türkischstämmige Stadtrat

Seine neuen Kumpels hätten ihn damals gedrängt, einen Deutschsprachkurs zu absolvieren, um den Hauptschulabschluss nachzuholen. Das habe ihn aufgeweckt, sagt Mutlu. An der Abendschule hat er seinen Hauptschulabschluss gemacht, später bei WMF eine Ausbildung zum Industriemechaniker, anschließend wurde er von der Firma übernommen. Parallel dazu engagierte er sich ehrenamtlich: beim Stadtjugendring, im Kulturzentrum "Rätsche", beim Friedensforum, als Integrationsrat.

1990 wurde er Mitglied bei den Grünen: zwölf Jahre als Ortsverbandsvorsitzender, vier Jahre als Kreisvorstand. 2004 beantragte er die deutsche Staatsbürgerschaft und kandidierte für den Geislinger Gemeinderat. Beim ersten Anlauf klappte es noch nicht, dafür aber fünf Jahre später: Mutlu errang eines der beiden Mandate für die Grünen und saß ab 2009 für drei Legislaturperioden als Stadtrat im Geislinger Gemeinderat – als erster Türkischstämmiger. Betriebsratsvorsitzender bei der WMF war er schon 2002 geworden. "Die ersten zehn Jahre in Deutschland waren sehr hart", resümiert Mutlu, "aber dann habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, die Landessprache zu lernen. Und wenn man auch das Grundgesetz respektiert und mindestens einen mittleren Bildungsabschluss macht, dann ist die Integration geglückt."

1993 hat Mutlu geheiratet. In Nuray hatte er sich bei einem seiner Besuche im türkischen Gölbaşı verliebt. Seine Frau arbeitet heute in der Kaffeemaschinenmontage bei WMF. Ihr gemeinsamer Sohn werde ab September studieren: einen der neuen Studiengänge, die Naturwissenschaft und Soziales miteinander verbinden, sagt der Vater. Sein "Sohnemann" beherrsche neben der deutschen Sprache auch die englische fließend, das Türkische dagegen nur noch gebrochen. Er heiße Cem, benannt nach seinem Patenonkel, dem Grünenpolitiker Cem Özdemir.

Kennengelernt hat Mutlu Özdemir 1994. Er hatte ein Podiumsgespräch mit ihm zum Thema "Gastarbeiter und Integrationsproblematik" im Kulturzentrum "Rätsche" organisiert. Özdemir war damals mit den Grünen gerade in den Bundestag eingezogen. Die "Rätsche" sei gerammelt voll gewesen mit türkischen Mitbürger:innen. "Özdemir steht so neben mir", erzählt er, "mit Ohrring, angereist im alten Corsa, in verwaschenen Jeans. Da kommen welche und fragen: 'Hey Isi, wann kommt denn endlich der Bundestagsabgeordnete? Wir warten schon stundenlang.' Ich sage: 'Hier steht er doch.' Sie gucken ungläubig. 'Das soll ein Bundestagsabgeordneter sein? Ja, aber wo sind seine Bodyguards? Wo ist sein gepanzerter Daimler? Trägt ja nicht mal 'ne Krawatte.'" Mutlu lacht: "Der ist halt so normal wie ich."

Ein schwäbischer Alb-Traum

2019 wurde Ismail Mutlu zum stellvertretenden Oberbürgermeister Geislingens gewählt. Geislingen ist für ihn zur Heimat geworden. Hier habe er seine Freunde, hier fühle er sich wohl. Die Küche ziert ein riesiges Panoramafoto Geislingens, hinter Glas, über der Spüle. Sein Herz schlage für diese Stadt, für die "wunderschöne Natur", von der sie umgeben sei, ihre fünf Täler: "Ein schwäbischer Alb-Traum", lacht er. Er gehe oft spazieren mit seinem Hund, dort oben, entlang der Gipfel rund um Geislingen. Er sei ein Wanderer, aber kein Einwanderer mehr. Er sei ein "anatolischer Schwabe", erklärt Mutlu, und lacht wieder. Wäre sein Leben nicht von etlichen Schicksalsschlägen torpediert worden, säße er heute wahrscheinlich im baden-württembergischen Landtag.

Aber es kam anders. Der 56-Jährige ist heute Frührentner. Der erste Schlag traf ihn 2016: Bei einem Besuch in seiner türkischen Heimat fuhr auf einem Parkplatz ein SUV mit 160 Stundenkilometern auf sein Auto auf, in das er gerade mit seiner Familie einsteigen wollte. Seine Nichte wurde getötet, er selbst schwer verletzt. Ein paar Monate später starben zwei Brüder und der Vater. Auch er selbst erkrankte schwer, lag auf dem OP-Tisch, als seine Mutter 2020 beerdigt wurde. Ein Jahr später legte er alle Ehrenämter nieder. Er konnte nicht mehr.

Und jetzt die schweren Erdbeben in seiner Heimatregion. Er zeigt ein Foto: ein junges Paar. Der Mann, sein Neffe, hält ein Baby im Arm. Alle drei sind umgekommen in den Trümmern von Gölbaşı.

Ismail Mutlu sammelt Spenden für Gölbaşı

Mutlu wurde in Gölbaşı geboren, verbrachte seine ersten 13 Lebensjahre dort. Seine Schwiegereltern, der Onkel, zwei Schwestern und zwei Brüder leben noch heute dort. Gölbaşı, eine Stadt mit etwa 50.000 Einwohner:innen, liegt in der Provinz Adiyaman, in Südostanatolien, und damit genau im Epizentrum der schweren Erdbeben. "409 Tote", sagt Mutlu traurig, "über 70 Prozent zerstört." In den vielen umliegenden Dörfern sei die Zerstörung zum Teil noch verheerender.

Um den Betroffenen in seiner Heimatregion zu helfen, hat Ismail Mutlu ein Spendenkonto einrichten lassen (siehe Infobox). Dank hervorragender sozialer Vernetzung bis in die IG Metall hinein ist ihm das schnell gelungen. Ein paar Tage nach den Beben ist er für elf Tage vor Ort gewesen, um nach seinen Verwandten zu sehen und zu erfahren, wie er konkret helfen kann. Er war dort gemeinsam mit einer Gruppe von Freunden, die in Kahramanmaraş, Pazarcık und Gölbaşı bei der Bergung der Toten halfen. Freunde aus dem Gemeinderat und dem Friedensforum Geislingen, mit denen er 2012 eine Gruppenreise in seine Heimat gemacht hatte und sofort dabei waren, als es darum ging, den Menschen dort zu helfen.

"Ich habe mir die furchtbare Lage in Gölbaşı angesehen und mit dem Bürgermeister Iskender Yildirim dort besprochen, wie ich helfen kann." Von der Regierung käme ja kaum Unterstützung, auch weil der Bürgermeister ein Sozialdemokrat sei. Auch ansonsten käme Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan vor allem in die Erdbebenregion, um Wahlkampf zu machen. Mutlu hofft so sehr, dass Erdoğan am 14. Mai abgewählt wird.

Es brauche mindestens fünf, sechs Jahre, bis die Trümmer in Gölbaşı geräumt seien, die Infrastruktur wieder vollständig funktioniere, die Häuser wieder stehen. Er habe seine Heimatstadt nicht wiedererkannt. "Schrecklich. Wie ausgebombt." Die Menschen hatten dort Zelte und Container aufgebaut, dann aber wurde aus Regen eine Flutkatastrophe, die alles wieder wegschwemmte.

Spenden für das Krisengebiet

Wer das beschriebene Spendenprojekt unterstützen will, überweise eine Geldspende auf das Konto der Hilfsorganisation GRUSSI e.V. (Gewerkschaftliche Gruppe für internationale Solidarität), Stichwort: "Erdbeben Türkei – Solidarität mit Gölbaşı", IBAN DE15 6119 1310 0726 0990 07. Der Einsatz der Spendengelder wird dokumentiert. Spendenbescheinigungen werden auf Wunsch ausgestellt. Fragen zum Spendenprojekt beantwortet Ismail Mutlu gerne, seine Mailadresse: ismailmutlu@gmx.de.  (vg)

"Die Menschen dort arbeiten Tag und Nacht", berichtet Mutlu, "kämpfen darum, die Wasser-, Strom- und Gasversorgung wiederherzustellen, die Straßen zu sanieren, die Häuser wiederaufzubauen." Er habe schnell erkannt, dass es andere Dinge braucht als Lebensmittel und Kleidung. Davon sei im Februar viel zu viel nach Gölbaşı transportiert worden. "Da hat jeder blind geschickt, ohne Koordination." Es seien ja kaum noch Menschen vor Ort gewesen, die die Spenden hätten entgegennehmen können. Die meisten waren aus den Trümmern geflohen. "Gölbaşı glich einer Geisterstadt, als ich dort ankam." Langsam kehrten die Menschen jetzt wieder zurück in die Stadt, die sich in eine Containerstadt verwandelt habe.

Was Gölbaşı jetzt und in der Zukunft dringend brauche, seien Baugeräte. Die Stadt besitzt nicht viel mehr als ein Feuerwehrauto und zwei Bagger. Sie sei auf die Hilfe anderer Städte angewiesen. Ihm sei nicht klar gewesen, wie teuer Baugeräte sind, sagt Mutlu. Schon ein gebrauchter Bagger koste 50.000 Euro. Etwas mehr als die Hälfte sind bisher auf dem Spendenkonto zusammengekommen, überwiesen von Privatpersonen, Vereinen, Gastronom:innen, Firmen. Und Mutlu kontaktiert unermüdlich Betriebe, schreibt an Banken, das ist jetzt sein Ziel: 50.000 Euro für einen Bagger zu sammeln.

Sollte das nicht klappen, wird er das bereits gespendete Geld in den Wiederaufbau von Kindergärten oder Seniorenheimen stecken. Oder damit einen Spielplatz finanzieren. "Aber eine Baggerspende", sagte er, "das wäre wirklich das Beste."


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