Der Laptop ist sein ständiges Arbeitsgerät. Was Ismail Mutlu erzählt, belegt er sofort durch Fotos, die nach blitzschnellem Griff in die Tasten aufploppen: Bilder verheerender Zerstörung, Trümmerlandschaften. Sein Mailaccount springt auf, er zeigt, wie viele Firmen er schon angeschrieben hat mit der Bitte, sein Spendenprojekt zu unterstützen. Er rief es ins Leben, gleich nachdem ihn am 6. Februar dieses Jahres die ersten Nachrichten aus der Türkei erreicht hatten: über die beiden verheerenden Erdbeben, die innerhalb weniger Minuten mehr als 52.000 Menschen das Leben gekostet und unzählbare Existenzen vor das Nichts gestellt haben.
Er serviert Tee und Engelshaar im kleinen Wintergarten seines Hauses im Geislinger Ortsteil Seebach. Hier wohnt er mit seiner Frau, seinem Sohn und seinem großen schwarzen Hund, der jetzt aber draußen im Garten bleiben muss. "Der ist sehr gastfreundlich", sagt Mutlu, "der würde euch die ganze Zeit knutschen." An der Fensterfront stehen unzählige Anzuchttöpfchen: Auberginen, Peperoni, Tomaten. Aufgezogen aus Samen seiner türkischen Heimat. Die Pflänzchen werden bald ins kleine Treibhaus und ins Hochbeet des gepflegten Gärtchens vor dem Haus umziehen.
Leben in Etagen, geordnet nach Nationalitäten
Mutlus Vater war Reisbauer, bevor er 1964 von einem der Anwerber der deutschen Konsulate als sogenannter Gastarbeiter aus seinem anatolischen Dorf nach Deutschland geholt wurde. Zunächst ins Saarland, wo er im Eisenwerk "Völklinger Hütte" arbeitete. In der Stahlkrise Ende der 1970er-Jahre wurde er dann zur Arbeit nach Geislingen bei der Heidelberger Druckmaschinen AG "weitergeleitet". Hier wie dort lebte er in einer der Baracken, die für die "Gastarbeiter" bereitgestellt wurden – die Etagen geordnet nach Nationalitäten. Seine Familie sah er nur selten. Um sie nach Deutschland zu holen und weil es so gut wie unmöglich für ihn gewesen sei, eine Mietwohnung zu bekommen, habe er sich kurzerhand ein Haus kaufen müssen. Sein Vater sei der erste Türke gewesen, der in Geislingen ein Eigenheim erstanden habe, sagt er nicht ohne Stolz. Am 17. August 1980 kam also Ismail Mutlu, jüngstes von acht Kindern, mit seiner Mutter und einer Schwester in Geislingen an. Zwei der Brüder waren schon dort. Die beiden Lehramtsstudenten hatten sich infolge der Studentenunruhen in der Türkei nach Deutschland abgesetzt.
Mutlu war damals im besten Teenageralter, 13 Jahre alt. Er landete in der sechsten Klasse einer Hauptschule. Konnte kein Wort Deutsch, verstand nichts. Er verließ die Hauptschule ohne Abschluss. Noten hatte er nie bekommen. Er sei einfach so durchgewunken worden, ohne dass sich jemand um seinen Spracherwerb gekümmert habe. Er sagt, man habe halt damit gerechnet, dass die "Gastarbeiter"-Familien wieder in die Türkei zurückkehren werden.
Mutlu hat als Hilfsarbeiter in der Geislinger Metallwarenfabrik WMF gearbeitet. Die Wende kam, als er sich mit einem deutschen Studenten anfreundete, der ihn zu einem Amnesty-International-Ortsgruppen-Treffen einlud. "Eine Einladung schlägt man doch nicht ab", sagt er, "da geht man dann hin – jeden Montag." Er habe allerdings erst nach sechs Monaten begriffen, dass es dort um Menschenrechte gehe, sagt er lachend.
Der erste türkischstämmige Stadtrat
Seine neuen Kumpels hätten ihn damals gedrängt, einen Deutschsprachkurs zu absolvieren, um den Hauptschulabschluss nachzuholen. Das habe ihn aufgeweckt, sagt Mutlu. An der Abendschule hat er seinen Hauptschulabschluss gemacht, später bei WMF eine Ausbildung zum Industriemechaniker, anschließend wurde er von der Firma übernommen. Parallel dazu engagierte er sich ehrenamtlich: beim Stadtjugendring, im Kulturzentrum "Rätsche", beim Friedensforum, als Integrationsrat.
1990 wurde er Mitglied bei den Grünen: zwölf Jahre als Ortsverbandsvorsitzender, vier Jahre als Kreisvorstand. 2004 beantragte er die deutsche Staatsbürgerschaft und kandidierte für den Geislinger Gemeinderat. Beim ersten Anlauf klappte es noch nicht, dafür aber fünf Jahre später: Mutlu errang eines der beiden Mandate für die Grünen und saß ab 2009 für drei Legislaturperioden als Stadtrat im Geislinger Gemeinderat – als erster Türkischstämmiger. Betriebsratsvorsitzender bei der WMF war er schon 2002 geworden. "Die ersten zehn Jahre in Deutschland waren sehr hart", resümiert Mutlu, "aber dann habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, die Landessprache zu lernen. Und wenn man auch das Grundgesetz respektiert und mindestens einen mittleren Bildungsabschluss macht, dann ist die Integration geglückt."
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