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Vergessene Krisen – Haiti

Hoffen auf Glück oder Gott

Vergessene Krisen – Haiti: Hoffen auf Glück oder Gott
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Die Cholera grassiert, die Hauptstadt ist in den Händen krimineller Banden, Haiti versinkt einmal mehr in Chaos und Armut. Dabei war der Inselstaat früher wohlhabend. Heute ist er ein Musterbeispiel dafür, wie internationale Hilfspläne scheitern können.

"Ich glaube, Port-au-Prince gibt es nicht mehr", schrieb Astrid Nissen am frühen Morgen im Januar 2010 nach Deutschland. Damals war sie Büroleiterin der Diakonie Katastrophenhilfe in Haiti. Außer dieser dürren Mail war nichts zu erfahren, weder Festnetz noch Mobiltelefone funktionierten. Ein schweres Erdbeben hatte das Land erschüttert. Die Armensiedlungen an den Hängen waren verschwunden, die Hütten abgerutscht. Das Zentrum der Hauptstadt lag in Trümmern. Wie Kartenhäuser waren die Gebäude in sich zusammengestürzt und hatten die Bewohnerinnen und Bewohner unter sich begraben. Insgesamt kamen damals 230.000 Menschen zu Tode.

Krisen der Welt

Die Folge unseres hiesigen Wohlergehens ist eine enorme ökologische und soziale Verelendung in anderen Teilen der Welt. Der Krieg in der Ukraine könnte ein Anstoß zum Umdenken sein, darüber, dass unser Lebensstil genauso wenig selbstverständlich ist wie unser Leben in einer friedlichen Welt. Die Spirale aus Konflikten, Krisen und Klimakatastrophen dreht sich immer schneller. In unserer losen Serie "Vergessene Krisen und unser Wohlstand" wollen wir betroffene Regionen und Themen beleuchten, die in der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zu kurz kommen.

Teil I widmet sich dem Horn von Afrika, Teil II dem Klimawandel als Fluchtgrund, Teil III dem gar nicht banalen Klo-Problem.

Ich selbst war wenige Tage nach dem Beben über die Dominikanische Republik, mit der sich Haiti die Insel Hispaniola in der Karibik teilt, eingereist. Es war gespenstisch: Auf der Seite der Dominikanischen Republik dichte Wälder, in denen sich europäische Urlauber erholten. Auf der anderen Seite nur kahle Hänge, abgeholzt für Feuer und Energie, ein deutliches Zeichen von Armut.

Zwei Jahre später wütete der Tropensturm Sandy in der Karibik und zerstörte drei Viertel der Ernte in Haiti. Wenige Monate darauf brach eine Cholera-Epidemie aus. Riesige Summen wurden Haiti damals für Nothilfe und Wiederaufbau versprochen, weltweit spendeten die Menschen für die Opfer der Katastrophen. Für ein Land, das von Korruption, Gewalt, Armut und ständigen Regierungskrisen geprägt ist.

Warum haben die Milliarden nichts gebracht?

Heute, mehr als zehn Jahre nach der Naturkatastrophe, ist Ernüchterung eingetreten. Die Hauptstadt Port-au-Prince ist in der Hand von kriminellen Gangs, die Cholera ist zurück. Aber im Unterschied zu der Zeit nach dem Beben sprudeln 2022 keine Spenden. Das Interesse an Haiti ist über die eigenen Probleme – Ukrainekrieg, Energiekrise, Inflation – verpufft. Aber warum haben die Milliarden an Hilfsgeldern für Haiti so gut wie nichts bewirkt? Im Gegenteil. Haiti gilt als hoffnungsloser Fall, die "Neue Züricher Zeitung" betitelt den Inselstaat bereits als Failed State.

Dabei war das Land in früheren Zeiten eine der reichsten Kolonien Frankreichs. Der erste unabhängige Staat in der Karibik verarmte jedoch völlig. Nachdem versklavte Haitianer rebelliert und 1804 die erste schwarze Republik der Welt gegründet hatten, zerstörte Frankreich die haitianische Wirtschaft. Über Generationen hinweg und bis in die Fünfzigerjahre mussten die Haitianer Reparationszahlungen für den Verlust der Sklavenarbeit an Frankreich leisten. Bis heute ist Haiti nicht zur Ruhe gekommen.

Dirk Guenther ist der ehemalige Landesdirektor der Welthungerhilfe. Er kann zwar von einigen Verbesserungen berichten, das Management der nationalen und internationalen Hilfe beispielsweise sei professioneller geworden, doch für die Bevölkerung habe sich kaum etwas verbessert. Wohnhäuser seien nach den Naturkatastrophen wie eh und je schlecht und völlig ungeordnet wieder aufgebaut worden. Schon damals herrschte eine Hungerkrise im Land und sicher bauen kostet Geld, das die Haitianer nicht haben. Die ganze Trostlosigkeit allerdings offenbart sich im Mega-Slum Canaan, 20 Kilometer von der Hauptstadt Port-au-Prince entfernt: "Es gibt einen Gesundheitsposten ohne Ärzte, eine Polizeistation ohne Polizisten und Straßen ohne Asphalt. Und vor allem evangelikale Tempel und unzählige Lottobuden. Wer in Canaan angekommen ist, dem bleibt nur noch, auf das große Glück oder Gott zu hoffen." 300.000 Menschen leben dort in provisorischen Unterkünften ohne fließendes Wasser.

Im Oktober berichtete Annalisa Lombardo, die aktuelle Landesdirektorin der Welthungerhilfe in Haiti, von einer alarmierenden Situation: Die Cholera breitet sich aus, Proteste gegen Preissteigerungen und gegen den Mangel an Kraftstoff sind verbunden mit Plünderungen, Entführungen und Angriffen auf Hilfsorganisationen. Auch "Ärzte ohne Grenzen" sehen die Entwicklung als bedrohlich an: Seit Monaten wütet eine Welle der Gewalt, bei der Menschen zum Teil schwere Schussverletzungen erleiden und dringend medizinische Hilfe brauchen. Trinkwasser und Treibstoff sind Mangelware. Nur wenige medizinische Einrichtungen seien noch arbeitsfähig.

Ein neues Haiti? Chance verpasst

Dabei hätte Haiti mit den Hilfsgeldern nach den Erdbeben einen ganz anderen Weg einschlagen können. "Wir hätte eine gerechtere Gesellschaft schaffen können", sagt Arnold Antonin, haitianischer Filmemacher und einer der wichtigsten Vertreter der dortigen Zivilgesellschaft. "Geordnet, mit Chancen für alle und vor allem ökologisch – ein neues Haiti." Dass es anders gekommen ist, dafür ist auch die desolate politische und gesellschaftliche Situation verantwortlich: mit einer Regierung, die sich gegen kriminelle Banden nicht behaupten kann, und in einem Land, in dem nahezu 90 Prozent der Gesellschaft in armen Verhältnissen lebt.

Annalisa Lombardo von der Welthungerhilfe sieht auch ein Versagen des internationalen Hilfesystems. "Vierzehn Monate nach dem Erdbeben wurde der Öffentlichkeit ein futuristischer Port-au-Prince-Rekonstruktionsplan präsentiert. 40 haitianische Experten, Ingenieure und Architekten entwarfen eine moderne, völlig renovierte Stadt mit Straßenbahnen und einem komplett neu entwickelten Bereich am Wasser. Der Plan umfasste ein Quartier für Ministerien, einen Finanzdistrikt und ein Künstlerdorf. Das alles sollte innerhalb von fünf Jahren für 3,3 Milliarden Dollar entstehen", erläutert Lombardo. Die Pläne für den Wiederaufbau seien ehrgeizig gewesen, es schien aber die Chance zu bestehen, mit den versprochenen Milliardenhilfen den Kreislauf aus Armut und Gewalt zu durchbrechen. Tatsächlich seien einige beschädigte Gebäude abgerissen und einige Bauplätze eingerichtet worden. Aber sonst wurde von den Plänen nichts umgesetzt. Stattdessen entstanden in den Außenbezirken der Hauptstadt weitere Slums.

Ein Drittel der Gelder ging an die Geberländer zurück

"Es war zu ambitioniert zu glauben, dass eine humanitär motivierte Aktion mit staatlichen Geldern aus dem Ausland jahrzehntelange soziale Unterdrückung kombiniert mit schlechter Regierungsführung hätte überwinden können," sagt Lombardo heute. Kritiker bemängeln im Nachhinein die fehlende Einbindung der Bevölkerung in den Wiederaufbau, zudem, so heißt es, sei die haitianische Wiederaufbau-Kommission (CIRH) gegen den Widerstand des scheidenden Präsidenten Rene Preval geschaffen worden.

Grand Bargain

Um die humanitäre Hilfe besser und effizienter zu machen, ist auf dem World Humanitarian Summit in Istanbul 2016 der Reformprozess Grand Bargain ins Leben gerufen worden. Es geht um flexible Förderungen: zum Beispiel beim Ausbruch von Kriegen oder Epidemien. Wenn Hilfsorganisationen Gelder dort einsetzen können, wo der Bedarf am dringendsten ist, sparen sie Zeit und Ressourcen. So hat Deutschland dem Welternährungsprogramm im Frühjahr 2021 30 Millionen Euro für humanitäre Hilfe in Ostafrika zur Verfügung gestellt. Seit 2016 hat Deutschland laut Regierungsangaben seinen Anteil flexibler Mittel von elf auf 37 Prozent erhöht. Es gibt auch ein vereinfachtes und einheitliches Formular zur Berichterstattung, das lange Berichte mit unterschiedlichen Vorgaben der jeweiligen Geldgeber ersetzt.  (rl)

"Ich glaube, dass die Wirklichkeit komplexer ist", erklärt Lombardo . "Eine der Lektionen ist, dass alle Beteiligten wie Regierungen, Geber- und Hilfsorganisationen anerkennen müssen, dass Menschen, Haushalte und Gemeinden ihre eigene Art des Wiederaufbaus voranbringen wollen. Damit sie dies umsetzen können, müssen sie eine Stimme haben." Aber solche Prozesse benötigten Zeit, in manchen Ländern länger als anderswo. "Ich bezweifle, dass der gegenwärtige humanitäre Hilfsmechanismus solchen Herausforderungen genügen kann bei Gebern, die einen genau ausformulierten logischen Plan und ständige Berichte fordern. Trotzdem waren die Verpflichtungen im Rahmen von Grand Bargain ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung", fügt sie hinzu.

Die Verschlechterung der Situation hängt nach Ansicht von Annalisa Lombardo mit der schlechten Regierungsführung zusammen. Die ziehe Korruption, schlechte Bildungsstandards und Kriminalität nach sich. So wurde 2021 der Präsident Jovenel Moise erschossen, dem man Verstrickung in kriminelle Banden nachsagte. Die Vertreterin der Welthungerhilfe verweist auf den Machtkampf unter den Fraktionen der haitianischen Elite als wichtigen Faktor für die Dauerkrise. Auch die internationale Staatengemeinschaft spielt ihrer Ansicht nach keine rühmliche Rolle: Von 5,3 Milliarden Euro, die von insgesamt 55 Geberländern versprochen wurden, wurde am Ende gerade mal gut die Hälfte ausgezahlt. Davon gingen weniger als zehn Prozent an die haitianische Regierung und knapp ein Prozent an haitianische Organisationen und Firmen.

Allein ein Drittel der humanitären Hilfsgelder ging an die Geberländer zurück. Um sie für ihren eigenen zivilen und militärischen Einsatz im Land zu entschädigen. Den Rest teilten sich internationale NGOs und private Vertragsfirmen. Ist nicht nur in Haiti so.


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