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Abschiebepraxis in BW

Schwanger ins Erdbebengebiet

Abschiebepraxis in BW: Schwanger ins Erdbebengebiet
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Die Landesregierung hatte sich eigentlich "eine rechtsstaatliche, faire und humanitär verantwortliche Rückkehr- und Abschiebepraxis" auf die Fahnen geschrieben. Aber im Ernstfall sind diese Leitlinien das Papier nicht wert, auf dem sie stehen: Gerade erst wurde eine Schwangere in die Türkei abgeschoben.

Offizielle Zahlen gibt es nicht. Regelmäßig blitzt der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg ab, wenn er vom zuständigen Regierungspräsidium Karlsruhe detailliertere Fakten zu strittigen Abschiebungen und Rückführungen erfragen will. Das sei nicht erhoben, laute die Antwort, berichtet Meike Olszak, Leiterin der Stuttgarter Geschäftsstelle. Bekannt werde "extrem fragwürdiges Vorgehen" aber durch sogenannte Einzelfälle. Zum Beispiel im vergangenen Herbst, als eine Erzieherin in Ausbildung nach Tiflis abgeschoben wurde, die entscheidende Fristen gar nicht einhalten konnte: Erst drei Monate nach Ablehnung des Asylantrags hätte der Antrag auf Ausbildungsduldung gestellt werden können. Zu diesem Zeitpunkt war die junge Frau schon in Georgien.

Jahr für Jahr protokolliert Pro Asyl exemplarische Geschichten aus der alltäglichen Arbeit. Die des 13-Jährigen Yasman, der sich mit seiner Familie nach zehn Jahren Deutschland unfreiwillig im Iran wiederfand, die Familie war in Deutschland integriert gewesen, die Eltern hatten Arbeit. Die von Herrn Kumari, der nach sieben Jahren in Deutschland als anerkannter Mitarbeiter einer baden-württembergischen Firma seine zweite Heimat in Richtung Sri Lanka verlassen musste. Oder die Geschichte von Farrukh, der eine Woche vor Abschluss seines Bachelors und mit guten Aussichten auf einen Job beim Landratsamt nach Pakistan geflogen wurde. Nicht nur Meike Olszak weiß, dass die Behörden Fakten schaffen wollen, ehe sich Perspektiven für Betroffene auftun. Gerade die grün-schwarze Landesregierung habe aktuell ein großes Interesse, sagt die Politikwissenschaftlerin, die Abschiebezahlen zu erhöhen.

Hundert Kilometer bis zum nächsten Krankenhaus

Offenbar um fast jeden Preis und unter Missachtung von Menschlichkeit. Eben erst wurde eine 32-Jährige schwangeren Türkin nach Istanbul abgeschoben und hat sich mehr als tausend Kilometer zu ihren Eltern nach Islahiye und damit ins Erdbebengebiet in der Provinz Gaziatep durchgeschlagen. Mag sei, dass Fristen versäumt, dass Entscheidungen nicht richtig ausgelegt oder Anträge gar nicht oder zu spät gestellt wurden. Aber natürlich hätte die Möglichkeit bestanden, das Zusammenleben mit dem Vater des Ungeborenen in Stuttgart-Plieningen weiter zu ermöglichen, immerhin arbeitet der seit sechs Jahren bei der Post. Denn ausdrücklich ist dem Regierungspräsidium ein Spielraum eingeräumt. Aber alle Versuche sind gescheitert, gerade erst wurde ein Antrag auf Rückholung vom Verwaltungsgericht Stuttgart abgeschmettert.

Die aus dem Juristendeutsch ins normale Leben übersetzte Botschaft des Gerichts könnte herzloser kaum sein: Fidan C. werde einfach nicht "mit hinreichender Wahrscheinlichkeit" noch einmal jene Probleme bekommen, die sie schon zwei Mal während ihrer bisher sechsmonatigen Schwangerschaft ins Krankenhaus gebracht haben. Auch "Stress" – in Anführungszeichen! – durch die Abschiebung begründe kein Hindernis. Voraussichtlicher Geburtstermin ist der 22. Juni, und der gesetzliche Mutterschutz beginnt erst sechs Wochen davor. Die katastrophale Lage im Erdbebengebiet, die mangelnde ärztliche Versorgung und die fast hundert Kilometer Entfernung bis zum nächsten, überfüllten Krankenhaus wollten weder das Land Baden-Württemberg "vertreten durch das Regierungspräsidium Karlsruhe" noch die befasste Kammer gelten lassen. Der Rechtsanwalt der Familie, Rolf Gutmann, legt jetzt Beschwerde dagegen ein. Die Aussicht auf Erfolg ist überschaubar.

Dabei hatten gerade die Grünen versprochen, ganz andere Maßstäbe anzulegen. "Für uns hat Humanität bei asylpolitischen Entscheidungen Vorrang", heißt es im Wahlprogramm von 2016. Und weiter: "Wir erwarten, dass humanitäre Hindernisse berücksichtigt und Familien nicht getrennt werden." Über den Koalitionswechsel von Grün-Rot zu Grün-Schwarz hinaus galten Leitlinien zur Abschiebe- und Rückführungspraxis. Die letzte, nie außer Kraft gesetzte Fassung stammt vom Januar 2017. Danach hätte die angehende Erzieherin ausdrücklich nicht nach Tiflis abgeschoben werden dürfen, weil der Abschluss einer Schule- oder Berufsausbildung zu ermöglichen ist und im Einzelfall sogar der Beginn als "dringender persönlicher Grund" anerkannt werden kann. Und unter der Überschrift "Familiäre Belange" wird die "unmittelbar bevorstehende Geburt eines Kindes der Kernfamilie" eigens erwähnt als ausreichender Grund, vorerst in Deutschland bleiben zu dürfen.

"Drastische humanitäre Problemlagen missachtet"

Allerspätestens seit 2019 hätten die Verantwortlichen in der Landesregierung dem Regierungspräsidium (RP) Karlsruhe besonders genau auf die Finger schauen müssen, nachdem eine Schwangere zehn Tage vor Beginn des Mutterschutzes gegen ihren und den Willen ihres Mannes nach Albanien ausgeflogen wurden. Der Flüchtlingsrat wertete dies "als ein abschreckendes Beispiel dafür, wie drastische humanitäre Problemlagen gerade bei besonders schutzbedürftigen Personen zugunsten einer möglichst hohen Abschiebequote missachtet werden". Auch dieser Fall in Bayern im Januar 2022 wäre Anlass gewesen, vor allem für die grünen Migrationspolitiker:innen, sich einmal mehr auf die eigenen humanitären Ansprüche zu besinnen: Eine junge Schwangere sollte am letzten Tag vor Beginn des Mutterschutzes abgeschoben werden, was eine Pfarrerin dadurch verhinderte, dass sie ihr Kirchenasyl gewährte.

Es gibt internationale Vorgaben, die solche Notmaßnahmen von nichtstaatlicher Seite überflüssig machen wollen. Rolf Gutmann weist unter vielem anderen darauf hin, dass der Europäische Menschengerichtshof (EMGH) schon 2014 eine Pflicht abschiebender Staaten festgeschrieben hat, vorab sicherzustellen, "dass verletzliche Personen nach Ankunft im Zielstaat ausreichende Versorgung, insbesondere Unterkunft erhalten". Das RP in Karlsruhe, der Justizminister oder wer immer sich in der Landesregierung dafür zuständig fühlt, hätte sich also um die Bindungen kümmern müssen, die eine Schwangere im sechsten Monat in Istanbul vorfindet. Um ein Dach über dem Kopf und gynäkologische Betreuung.

Allein gelassen ist die Frau aber zu ihren Eltern weitergereist. "Vorliegend ist nach den Berichten in der Tagespresse und im Fernsehen offensichtlich – und man möchte doch hoffen, dass die Mitarbeiter der Behörden Zeitung lesen und die Nachrichten im Fernsehen verfolgen –, dass das Erdbeben im Osten der Türkei zu massenhafter Obdachlosigkeit geführt hat und das türkische Gesundheitssystem überfordert, so dass unter anderem Ärzte aus Deutschland eingeflogen werden mussten", schreibt der Rechtsanwalt. 2019 hat sich sogar das Bundesverfassungsgericht mit der Bedeutung der Unterbringungssituation befasst – damals im Italien des offen fremdenfeindlichen Innenministers Salvini: Wenn Engpässe bestünden, "hat die auf deutscher Seite für die Abschiebung zuständige Behörde dem angemessen Rechnung zu tragen".

Grüne wollen Rückholung organisieren

Die Grünen wollen sich jetzt immerhin im Stuttgarter Justizministerium "nach dem Sachstand" erkundigen, ob und wie eine Rückholung trotz der ablehnenden Gerichtsentscheidung organisiert werden könne. Hinter den Kulissen laufen Gespräche, die Frau ausdrücklich wegen der schlimmen Lage im Erdbebengebiet wieder nach Baden-Württemberg zu bringen. Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) hatte sich schon grundsätzlich dafür eingesetzt, schnell und unbürokratisch zu helfen, wenn Verwandte in Deutschland obdachlos gewordene Familienmitglieder aufnehmen wollen. Und der für Migrationsfragen zuständige parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer der Grünen Daniel Lede Abal stellt gerade mit Blick auf den Koalitionspartner fest: "Die Leitlinien gelten." Es stimme, dass die Frau noch nicht im Mutterschutz sei, "man muss sich aber schon fragen, warum sie in den letzten Wochen ihrer Schwangerschaft vor anderen abgeschoben wird".

Antworten könnte das Justizministerium geben, geführt von einer Frau und Mutter sowie Mitglied der Partei mit dem C im Namen. Marion Gentges fühlt sich, wie sie im Projekt "Abgeordnetenbibel" bekennt, einem "respektvollen Umgang miteinander auf Basis der christlichen Nächstenliebe" verpflichtet. Wären diese schönen Worte alltagstauglich, würde sie in ihrem Haus und in ihrer Partei dafür werben, die geradezu paranoide Angst davor zu überwinden, dass durch Mitmenschlichkeit im Einzelfall sogenannte Pullfaktoren ausgelöst werden und Deutschland also Migranten und Flüchtlinge anzieht. Außer der Entscheidung, die Schwangere aus humanitären Gründen wieder einreisen zu lassen, könnte sie gleich noch eine zweite treffen: Eine Frau aus Guinea, die mit ihrem Mann – er arbeitet im "Europapark" in Rust – im Kreis Emmendingen wohnte, aus der Abschiebehaft in Darmstadt holen.

Geht nicht, gibt’s jedenfalls nicht. Denn der Aufenthalt in Deutschland könnte so lange geduldet werden, bis Mariama K. den Alphabetisierungskurs Deutsch absolviert hat, für den sie sich schon angemeldet hatte. Dieser Sprachnachweis wiederum würde die Voraussetzung dafür schaffen, dass sie nach einer freiwilligen Ausreise, die sie auf sich nehmen würde, im Rahmen des Ehegatt:innennachzugs erneut in die Bundesrepublik kommen könnte.

Könnte. Doch das Justizministerium sieht die Welt ganz anders. Dass die abgeschobene schwangere Frau im Erdbebengebiet gelandet ist – damit hat es nicht tun. "Eine Abschiebung in das Erdbebengebiet erfolgt nicht", schreibt es. Über die Zielregion innerhalb des Zielstaats entscheide die betroffene Person selbst. Das Land habe da "gar keine Handhabe". Und die Leitlinien sind übrigens in Kraft. Ihr Geist allerdings darf nicht wirken, nicht einmal, wenn es um ungeborenes Leben geht, dessen Schutz die CDU in jeder 218-Debatte höher rankt als vieles andere.


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4 Kommentare verfügbar

  • Jo Steinert
    am 23.03.2023
    Antworten
    Man sollte mal klarstellen: es sind keine hilfsbedürftigen verfolgten Menschen, von denen hier die Rede ist. Es sind illegal eingereiste Migranten, die versuchen, auf die eine oder andere linke Art hier ein Bleiberecht zu bekommen. Mit Verlaub, ungewollt schwanger werden muss man hier auch nicht, es…
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