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Posthume Würdigung für Fritz Bauer in Stuttgart

Nazijäger darf nicht Ehrenbürger werden

Posthume Würdigung für Fritz Bauer in Stuttgart: Nazijäger darf nicht Ehrenbürger werden
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Eine Initiative will Fritz Bauer, dem in Stuttgart geborenen Staatsanwalt, Nazijäger und Kämpfer gegen die Verfolgung Homosexueller, die Ehrenbürgerwürde verleihen. Doch die Stadt sagt, rechtlich gehe das nur bei Lebenden – Bauer starb 1968. So eindeutig ist die Rechtslage allerdings nicht.

Es ist sicher keine Übertreibung: Ohne Fritz Bauer wäre die Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach 1945 viel langsamer vorangekommen. Ohne den später als "Nazi-Jäger" bezeichneten Juristen wären noch viel mehr Taten als ohnehin schon ungesühnt geblieben.

Bauer, 1903 in Stuttgart geboren und auch dort aufgewachsen als Kind einer liberalen jüdischen Familie, hatte die Verbrechen der Nazis noch am eigenen Leib erlebt: Nachdem er ab 1930 der jüngste Amtsrichter der Weimarer Republik gewesen war, verhafteten ihn die Nazis im März 1933, kurz nach Hitlers Machtübernahme. Ihm wurde die Teilnahme an der Vorbereitung eines Generalstreiks gegen das neue Regime zur Last gelegt, ins Visier der NS-Justiz wäre er aber womöglich auch wegen seiner Mitgliedschaft im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold geraten, einer republiktreuen und SPD-nahen paramilitärischen Organisation. Acht Monate lang war er daraufhin in den württembergischen KZs Heuberg und Oberer Kuhberg inhaftiert. 1936 emigrierte er nach Dänemark, später, nachdem deutsche Truppen auch dieses Land besetzt hatten, nach Schweden. Erst 1949 ging er nach Deutschland zurück, arbeitete gleich wieder als Jurist, wurde 1956 hessischer Generalstaatsanwalt.

In dieser Funktion initiierte er unter anderem die Ermittlungen gegen Täter des Vernichtungslagers Auschwitz. Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 bis 1965) und die diversen Nachfolgeprozesse wären ohne Bauers Hartnäckigkeit wohl nicht zustande gekommen. Oft genug sah er sich mit dem Widerstand von Juristenkollegen konfrontiert, von denen viele davor den Nazis gedient hatten. Dass Adolf Eichmann, einer der Hauptorganisatoren der NS-Judenvernichtung, vom israelischen Geheimdienst Mossad aus Argentinien entführt und ihm in Jerusalem der Prozess gemacht werden konnte, ist auch Bauer zu verdanken: Er hatte dem Mossad, weil er der deutschen Polizei und Justiz misstraute, einen entscheidenden Hinweis auf Eichmanns Versteck gegeben.

Bauer lehnte den Paragraf 175 als "lebensfeindlich" ab

Was weniger bekannt ist: Bauer engagierte sich auch gegen die juristische Verfolgung von Homosexuellen. 1935 hatten die Nazis den seit der Kaiserzeit bestehenden Paragrafen 175 "Unzucht unter Männern" verschärft und das bisherige Verbot beischlafähnlicher Handlungen auf alle sexuellen Handlungen ausgeweitet; strafbar konnte nun auch sein, wenn das "allgemeine Schamgefühl" verletzt wurde. Während nach dem Krieg in der DDR diese Verschärfung wieder rückgängig gemacht wurde, blieb in der Bundesrepublik lange die NS-Fassung des Gesetzes bestehen. Baden-Württemberg tat sich dabei besonders hervor und war bundesweiten Spitzenreiter bei der Verfolgung Homosexueller.

Bauer dagegen, der in Dänemark am eigenen Leib polizeiliche Verfolgung wegen homosexueller Kontakte erfahren hatte, lehnte dieses Strafrecht als "lebensfeindlich" ab. "Eros und Sexus" dürften keiner staatlichen Zweckbestimmung unterliegen und müssten frei sein, argumentierte er. Das Sexualstrafrecht habe sich auf Handlungen, die Minderjährige schädigten oder gewalttätig seien, zu beschränken, einvernehmlicher homosexueller Verkehr erwachsener Männer aber müsse straffrei bleiben. Bauer erlebte die Früchte dieses Kampfes nicht mehr; er starb 1968, erst 1969 wurde die verschärfte Fassung des Paragrafen 175 aufgehoben, erst 1994 wurde der Paragraf komplett gestrichen.

Viele Gründe gäbe es also, diesen Juristen in seiner Geburtsstadt Stuttgart mehr zu würdigen. Seit 2010 gibt es in Stuttgart-Sillenbuch eine Fritz-Bauer-Straße, seit 2024 in der Wiederholdstraße in Stuttgart-Nord, gegenüber dem Haus, in dem er seine Kindheits- und Jugendjahre verbrachte, eine Erinnerungsstele. Mehr nicht.

Im Juli startete die Petition

Bereits im Mai 2024 hat der VVN – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten eine Petition gestartet, Fritz Bauer posthum zum Stuttgarter Ehrenbürger zu machen. Im Juli dieses Jahres kam nun eine neue Unterschriftenaktion mit dem gleichen Ziel hinzu, aber inhaltlich erweitert: "Ehrenbürgerschaft für Fritz Bauer – auch als Vorkämpfer gegen das §175-Unrecht" lautet der Titel der Petition. Initiiert hat sie die "AG Queere Erinnerungskultur 'Der Liebe wegen'", die zum Verein Weißenburg e.V. gehört, mitbeteiligt sind die IG CSD Stuttgart, der "LSVD+-Verband Queere Vielfalt" und das Internetprojekt "Der Liebe wegen".

Der Auftakt der Aktion im Rahmen der diesjährigen CSD-Kulturwochen in Stuttgart scheint laut den Initiator:innen vielversprechend gewesen zu sein. "Nahezu alle an der CSD-Hocketse beteiligten Organisationen haben die Aktion unterstützt", freute sich Lars Lindauer von der IG CSD, in kurzer Zeit seien 500 Unterschriften zusammengekommen. Mittlerweile sind es knapp über 1.000 (Stand 14. Oktober), und die Palette der unterzeichnenden Personen und Gruppen ist breit: Die ehemalige grüne Landtags-Vizepräsidentin Brigitte Lösch gehört ebenso dazu wie der Polizeioberrat Jens Rügner, Leiter des Stuttgarter Innenstadtreviers, oder die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW).

Die Stimmung trübte allerdings schon nach kurzer Zeit ein Passus aus einem Artikel in den beiden Stuttgarter Tageszeitungen StZ und StN. Dort wurde die Aktion ausdrücklich begrüßt, aber darauf hingewiesen, dass das Ansinnen "rechtlich nicht möglich" sei, denn: "Das geltende Stuttgarter Stadtrecht schließt selbst eine symbolhafte Verleihung des Ehrenbürgerrechts an Verstorbene aus."

Marlene Dietrich wurde posthum zur Ehrenbürgerin

Ralf Bogen vom Projekt "Der Liebe wegen" macht das stutzig. "Es gibt bereits einige Fälle einer posthumen Verleihung der Ehrenbürgerwürde", sagt Bogen. So verlieh etwa die Stadt Berlin 2002 der einige Jahre zuvor gestorbenen Schauspielerin Marlene Dietrich, auch wegen ihres Engagement gegen die Nazis, die Ehrenbürgerwürde. Und im Mai 2025 verlieh die Stadt Euskirchen die Ehrenbürgerwürde an Willi Graf, der 1943 wegen Verteilens von Flugblättern der Widerstandsgruppe "Die Weiße Rose" hingerichtet worden war.

Bogen fragte daher im Juli in der Abteilung Grundsatz- und Rechtsangelegenheiten der Stadt Stuttgart nach, welche Rechtsvorschrift genau denn die posthume Verleihung der Ehrenbürgerwürde verbiete. Etwa eine Regelung im Stadtrecht, die es so in Berlin oder Euskirchen nicht gibt? Eine solche konnte ihm bislang jedoch nicht genannt werden. 

Die baden-württembergische Gemeindeordnung selbst ist wenig konkret. In deren Paragraf 22 steht nur: "Die Gemeinde kann Personen, die sich besonders verdient gemacht haben, das Ehrenbürgerrecht verleihen." Und: "Das Ehrenbürgerrecht kann wegen unwürdigen Verhaltens entzogen werden." Mehr nicht. Eine Lebendbedingung ist nirgendwo im Wortlaut fixiert, eine posthume Verleihung demnach nicht ausdrücklich verboten.

Stadt stützt sich auf Rechtskommentare

Also fragt nun Kontext bei der Stadt Stuttgart, ob und was für sie aus rechtlicher Sicht gegen eine posthume Verleihung spricht. Als Antwort der Pressestelle erfolgt der Verweis auf besagten Paragraf 22 und dass die Voraussetzung für eine Verleihung "nach allgemeiner Meinung" sei, dass die zu ehrende Person noch lebe – vor dem Hintergrund, "dass es sich um eine reine Ehrenbezeichnung und ein Persönlichkeitsrecht handelt". Deswegen komme, so die Stadt, "eine posthume Verleihung der Ehrenbürgerwürde (…) nach geltender Gesetzeslage in Baden-Württemberg nicht in Betracht."

Ist das wirklich so? Die Formulierung "nach allgemeiner Meinung" bezieht sich auf mehrere Titel von Rechtskommentaren, die von der Stadt angeführt werden. Nun handelt es sich bei Rechtskommentaren stets um Interpretationen von schriftlich fixiertem Recht, die so oder so ausfallen können. Nachfrage also: Ist die Lebendbedingung beziehungsweise die nicht in Betracht kommende posthume Verleihung tatsächlich in keiner Rechtsvorschrift explizit festgelegt, und stützt sich die Stadt allein auf die genannten Rechtskommentare?

Dies sei "korrekt und zutreffend", kommt als Antwort von der Pressestelle. Eine Einschätzung des städtischen Referats Allgemeine Verwaltung, Kultur und Recht wird angefügt: Da es sich beim Ehrenbürgerrecht in § 22 um ein Persönlichkeitsrecht handele, sei der Schluss "aus Sicht der Landeshauptstadt Stuttgart zwingend", so heißt es, "dass dies nur lebenden Personen verliehen werden kann". Als interpretationswürdig wird der Paragraf nicht betrachtet: "Nach unserem Kenntnisstand gibt es auch keine rechtswissenschaftliche Literatur, die dies anders bewerten würde, weswegen dies die allgemeine juristische Auffassung zu § 22 GemO darstellt."

Spraitbach und Esslingen sind weniger streng

Das verblüfft. Nicht nur wegen der genannten Fälle von Marlene Dietrich und Willi Graf, die an keiner juristischen Einschätzung scheiterten. Auch einen Fall aus Baden-Württemberg gibt es schon: Im März dieses Jahres beschloss der Gemeinderat von Spraitbach (Ostalbkreis) einstimmig, dem wenige Monate zuvor gestorbenen ehemaligen Gemeinderatsmitglied und Ersten Bürgermeister Erich Pommerenke posthum die Ehrenbürgerwürde zu verleihen. Am 4. Juni wurde dies vollzogen.

Und auch das, was die Stadt Esslingen zu Ehrenbürgerschaften auf ihrer Homepage schreibt, klingt anders als die kategorische Antwort aus der Stuttgarter Rechtsabteilung: "Wer das Ehrenbürgerrecht verliehen bekommen kann, ist nur sehr vage geregelt, was den Gemeinden einen großen Handlungsspielraum eröffnet. § 22 der Gemeindeordnung regelt lediglich, dass Gemeinden diejenigen Personen mit dem Ehrenbürgerrecht auszeichnen können, die sich besonders verdient gemacht haben. (…) Für die Stadt Esslingen lassen sich einige Gemeinsamkeiten unter den Ehrenbürgern festmachen. So wurde das Ehrenbürgerrecht beispielsweise noch nie posthum vergeben, zudem waren alle Träger bislang männlich."

Ralf Bogen kann daher die Stuttgarter Einschätzung nicht nachvollziehen, "dass eine posthume Ehrenbürgerschaft im Rahmen des geltenden Rechts grundsätzlich ausgeschlossen sei". Das Beispiel Spraitbach, gestützt auf eine andere Auslegung der Gemeindeordnung, mache deutlich: "Der Gemeinderat hätte auch in Stuttgart die Möglichkeit, eine solche Auszeichnung zu beschließen – vorausgesetzt, der politische Wille ist da."

"Fritz Bauer als mutiges Vorbild bekannter machen"

Auch Lars Lindauer von der IG CSD wünscht sich, dass der Gemeinderat diesen Schritt macht "und sich mit der Ehrenbürgerschaft für Fritz Bauer klar zu seiner demokratischen Haltung bekennt. Es wäre ein starkes Zeichen gegen Rassismus, gegen Queerfeindlichkeit und für gelebte Erinnerungskultur".

Vielleicht braucht es hier, wie bislang fast immer in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, auch ausdauernden Druck aus der Bürgerschaft. Mit der Unterschriftenaktion wolle man jedenfalls, sagt Lindauer, "eine breite Debatte in der Stadtgesellschaft anregen und dazu beitragen, Fritz Bauer als mutiges Vorbild noch bekannter zu machen".

Bis in den Januar 2026 sollen noch Unterschriften gesammelt, beim CSD-Neujahrsempfang am 23. Januar dann die Überschriften an eine Vertreter:in des Stuttgarter Gemeinderats übergeben werden. Ob die Stadt bis dahin ihre Rechtsauffassung ändert, bleibt abzuwarten.

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